Der rote Teppich
Über Macht, Finsternis, Straflosigkeit und Terror in Mexiko von Juan Villoro
Schon Andy Warhol sah eine Zeit kommen, in der jeder Mensch für 15 Minuten weltberühmt sein werde. Eine solche Glücksutopie hat Sinn in einer Event-Gesellschaft. Die mexikanische Kultur hingegen verleiht dem Glück auf andere Art Ansehen: Wichtig ist nicht, was man sieht, sondern was verborgen bleibt. Ein gelungenes Schicksal mündet nicht in Berühmtheit; es erfüllt sich im Geheimen. Die mexikanische Utopie besteht im Genuss von 15 Minuten Straflosigkeit.
71 Jahre lang (von 1929 bis 2000) regierte die Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI), ohne je eine demokratische Wahl gewonnen oder verloren zu haben. Sie hielt sich vermittels rotierender Seilschaften, die Öffentliches mit Privatem verwechselten und Hoffnungen – neues Spiel, neues Glück – erneuerten wie auf einem Jahrmarkt: „Wenn es diesmal nicht geklappt hat, wird dir mit der nächsten Revolutionsregierung Gerechtigkeit zuteil werden.“
Die mexikanische Art des Regierens, die weder Transparenz noch Rechenschaftspflicht kennt, hat durch ihre Schattengrammatik die einheimische Sprache verändert. Die Politik wurde in „die Finstere“ (tenebra) umgetauft, und die wichtigen Geschäfte wurden „im Dunkelchen“ (oscurito) abgewickelt. Gefährlich wurde es, wenn Licht auf eine Sache fiel; der Verschwörer musste im Schutz der Nacht agieren und dem Gegner dadurch zuvorkommen, dass er „früh aufstand“. In seinem Roman „Der Schatten des Caudillo“1 (ein wunderbares Porträt der Generäle der Revolution, die in den 1920er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts zu Politikern wurden) schrieb Martín Luis Guzmán: „Wer zuerst schießt, tötet zuerst. Denn die mexikanische Politik, eine Politik der Pistole, konjugiert nur ein Verb: früh aufstehen.“
Fast ein Jahrhundert lang war Machtausübung ein Gewerbe der Finsternis, abhängig vom politischen Wert des Undurchsichtigen. Als das Monopol der PRI endete, lösten sich die Codes der Straflosigkeit auf, ohne dass andere an ihre Stelle traten. Willkommen in der Dekade des Chaos! Acht Jahre nach dem demokratischen Machtwechsel ist Mexiko ein Land von Blut und Blei.
Die Vorherrschaft der Gewalt hat bewährte Umgangsformen und eingespielte Verfahrensweisen aufgelöst. Die Massenmedien haben ihre Spielräume erweitert, arbeiten aber in einem Umfeld, wo es immer gefährlicher wird, die Wahrheit zu sagen. Laut Reporter ohne Grenzen (RSF) liegt Mexiko bei der Anzahl der verschleppten und ermordeten Journalisten inzwischen vor dem Irak.
Ereignis und Trugbild lassen sich nicht mehr unterscheiden. In der Untergangsstimmung kommt Prinzipienlosigkeit als Pragmatismus oder Notmaßnahme daher. Der Tauschhandel der Macht ist wie ein Maskenspiel: Der Klerus unterstützt im Bundesstaat Jalisco die seit 2000 regierende, rechtsgerichtete Partei PAN (Partido de Acción Nacional) und bekommt dafür üppige Almosen; die Lehrergewerkschaft (die größte Lateinamerikas) bietet Präsident Calderón mehr als eine Million Stimmen an und bekommt dafür Posten in so wichtigen Bereichen wie der nationalen Sicherheit; die Monopolisten führen während des Präsidentschaftswahlkampfs 2006 einen schmutzigen Medienkrieg gegen den als „Gefahr für Mexiko“ dargestellten Kandidaten der Linken und werden dafür mit der Ausschaltung der Konkurrenz belohnt.2
Wie bei den amerikanischen Comicfiguren der „Fantastic Four“ agieren die tatsächlichen Mächte im Dunkeln. Als die PRI die Präsidentschaft verlor, bedeutete das nicht das Ende der Straflosigkeit; sie breitete sich in der ganzen Verwirrung nur weiter aus. Das hat eine eigenartige Sehnsucht nach der autoritären Herrschaft der alten Staatspartei ausgelöst, denn „die wusste wenigstens, wie man stiehlt“.
Entsprechend der traditionell hermetischen mexikanischen Politik verschwanden die Protagonisten von der Bühne und starben, ohne Enthüllungen zu machen oder kompromittierende Tagebücher zu hinterlassen. Nichts hatte mehr Gewicht als das Geheimnis und nichts war bedeutsamer als die Geste. Die Aufgabe der Journalisten bestand darin, mehr oder weniger esoterische Zeichen zu deuten. Jede Bewegung war einstudiert, wie eine Figur im Stierkampf oder eine Pose im Kabuki-Theater: Wenn der Präsident gut gelaunt war, bestellte er am Montag zum Frühstück Spiegeleier mit Ranchero-Sauce; wenn er bis zu den gebackenen Bohnen kam, ohne ein Wort an den Innenminister zu richten, stand eine Kabinettsumbildung unmittelbar bevor.
Die politische Gastronomie folgt inzwischen anderen Regeln. Wir stehen vor einem Buffet, wo einer dem anderen den Teller wegnimmt, alle durcheinanderschreien und die Reste in Tupper-Dosen mit nach Hause nehmen.
Die Krise der Regierbarkeit findet ihre Entsprechung in einer Krise der Botschaften. Die Regierung ist außerstande, den Informationsfluss zu steuern. 70 Jahre lang war es wichtiger, Erklärungen abzugeben, als zu regieren (der Wohlstand als nicht widerlegbares Versprechen), jetzt erscheint der Präsident zwischen zwei Morden für ein paar Sekunden im Fernsehen, ein Wimpernschlag der Politik zwischen den Gewehrsalven. Vor diesem Hintergrund bietet das organisierte Verbrechen die neuen Leitsymbole an.
Der Drogenhandel schlägt in der Regel zweimal zu: erst in der Welt der Taten und dann in den Nachrichten – wo er nur selten auf einen Gegner trifft. Das Fernsehen steigert noch das Entsetzen, wenn es Designerverbrechen in Nahaufnahme und Zeitlupe zeigt. Jedes Kartell hat sein eigenes Markenzeichen: Die einen schneiden die Köpfe ab, andere die Zunge, wieder andere wickeln ihre Opfer in Decken und stopfen sie in den Kofferraum eines Autos. In manchen Fällen filmen die Verbrecher ihre Exekutionen und schicken die Videos an die Medien oder stellen sie nach sorgfältiger Bearbeitung bei YouTube ein. Die Medien sind die Duty-Free-Zone der Drogenhändler, die Zone, wo die in der Wirklichkeit begangene Grausamkeit zur Info-Werbung für den Terror wird.
Die Kartelle wenden die Gesetze des Blutes an, wie Kafka sie in der Erzählung „In der Strafkolonie“ beschreibt. Das Opfer erfährt nicht, welches Urteil gesprochen wurde: „Es wäre absurd, es ihm mitzuteilen, da es ihm mit der Egge auf den Leib geschrieben wird.“ Der „Narco“ (Drogenhändler) benutzt die Sprache der Grausamkeit, bei der die Wunden die Verurteilung des Opfers nachzeichnen und zugleich eine Drohung gegen die Zeugen sind.
Das ius sanguinis (Blutrecht) der Drogenbosse kommt durch eine kafkaeske Umkehrung des gerichtlichen Verfahrens zustande: Das Urteil steht nicht am Ende, sondern am Anfang eines Prozesses; es kündigt an, dass andere zur Rechenschaft gezogen werden können. „Wenn du kein Blut fließen lässt, kann das Gesetz nicht gedeutet werden“, schreibt Lyotard über „In der Strafkolonie“. Das ist auch das implizite Motto des organisierten Verbrechens. Dessen Aussage ist eindeutig – während das andere Gesetz, nämlich „unseres“, verschwommen bleibt.
Die Narcokultur hat ihren Einflussbereich mit den Narcocorridos ausgeweitet, traditionelle Musik mit drogenbezogenen Texten, die oft von den Protagonisten selbst in Auftrag gegeben wird. In der allgegenwärtigen Verwirrung genießen die Trobadore des Verbrechens das zweifelhafte Prestige der Illegalität, das ein gegen den Strich gebürstetes Charisma und die Zustimmung der „Volksmoral“ verlangt. Traurige Akkordeonklänge begleiten die Sagas von Raubzügen. So wunderlich oder lustig oder folkloristisch es auch klingt, wenn die Abenteuer der Leute besungen werden, die „Unkraut“ über die Grenze schmuggeln – die Narcocorridos gehören zu einer leistungsfähigen Branche (etwa so stark wie die Erdölbranche), die täglich dutzende Morde verübt. Als Dokumente der Unterwelt betrachtet, sind diese Musikstücke durchaus erhellend.
Drohung ist exakt dasselbe wie Subvention
Erstaunlichweise haben es die Narcocorridos bis in die Volksmusiksendungen im Radio und selbst in literarische Anthologien geschafft. Im Namen eines falsch verstandenen Multikulturalismus hat eine Gruppe von Schriftstellern vor zwei Jahren dagegen protestiert, dass zwei Narcocorridos aus Schulbüchern getilgt wurden. Bei ihrer Beschwerde übersahen sie allerdings, dass diese Texte nicht in Schulstunden über die Probleme Mexikos durchgenommen wurden, sondern im Literaturunterricht, wo sie Dichter wie Amado Nervo oder Ramón López Velarde verdrängten.
Die Narcos konnten sich natürlich auf die Unterstützung der Radiosender verlassen, die von ihnen bedroht oder subventioniert werden (was exakt dasselbe ist), und ebenso auf das ethnologische Mitgefühl derer, die im Verbrechen eine Form der Traditionspflege sehen. Der britische Schriftsteller J. G. Ballard hält die Idee der unbegrenzten Möglichkeit für die wichtigste Neuerung des 20. Jahrhunderts. „Dieses wissenschaftliche und technologische Konzept verhängt ein Moratorium über die Vergangenheit – die Vergangenheit zählt nicht mehr und ist vielleicht tot – während in der Gegenwart unbegrenzte Möglichkeiten liegen.“
Die Technik erlaubt die sofortige Erfüllung der Wünsche und verändert Gewohnheiten. Die Vertriebsnetze des Konsums und die immer billigeren Erzeugnisse haben dazu geführt, dass der Rolling-Stones-Song „I can’t get no satisfaction“ heute wie blanke Ironie klingt. Im Zeitalter der programmierten Genüsse ist Nichtbefriedigtsein eine böswillige Beschwerde oder der abseitige Wunsch eines Dandys.
Der unverhohlene Hang zur Instant-Befriedigung hat sich in Mexiko mit der Straflosigkeit verbündet. Die Welt der Drogen und die Überbewertung der Gegenwart finden im Dreiklang aus schnellem Geld, hoch gerüstetem Verbrechen und der Dominanz des Geheimen zu ihrer Bestimmung. Vergangenheit und Zukunft, traditionelle Werte und hoffnungsvolle Pläne verlieren in diesem Umfeld jeden Sinn. Es gibt nur das Hier und Jetzt: die günstige Gelegenheit, der Handelsplatz der Laune, wo du fünf Ehefrauen haben, einen Killer für 1 000 und einen Richter für 2 000 Dollar kaufen kannst; wo du am Rande des guten Geschmacks und der Norm leben kannst, zwischen grässlich bunten Versace-Hemden, Giraffen aus massivem Gold, Schmuckstücken, die wie Insekten des Regenwalds aussehen, einer Uhr für 300 000 Dollar und türkisfarbenen Stiefeln aus Straußenleder. Die Belohnung für die Maßlosigkeit findet im Narrativ des Verbrechens statt und im Schutz der Dunkelheit: 15 Minuten Straflosigkeit für alle.
Schon vor 50 Jahren war im Nordosten Mexikos der Drogenhandel ein allgegenwärtiges Thema. Heute bewegt er gigantische Summen. Die psychologische Reaktion auf eine Bedrohung, die mit Geld wuchs und gedieh, war zunächst, sie einfach zu ignorieren, sie in einen lichtlosen Raum zu verbannen, wo nur die Gegenwart existiert – ein schwarzes Loch, das jeden Tag größer wird und den Ereignishorizont zurückdrängt, die Grenze, wo die Zeit noch existiert und die Gegenwart ein Ergebnis des Vergangenen und der Vorraum des Zukünftigen ist.
Der Drogenhandel hat die kulturellen und medialen Schlachten gewonnen. Die Gesellschaft schirmt sich vor dem Problem ab, indem sie sich weigert, es wahrzunehmen: „Die Killer bringen sich gegenseitig um.“ Die Nachrichten aus der Unterwelt sind nicht nur zur akzeptierten Routine geworden oder zur gleichgültigen Banalisierung des Bösen – man distanziert sich einfach davon. Es geht immer um Unbekannte, weit entfernte oder absonderliche Menschen, die schon wissen werden, warum sie einander die Kehle durchschneiden.
Jeden Morgen bringen die Tageszeitungen die blutrote Bilanz: Die zwölf Enthaupteten in Yucatán von gestern werden heute abgelöst von den 24 Hingerichteten aus dem La-Marquesa-Park. Offenbar gelingt es dem Überlebensinstinkt, die Zone der Gewalt im Geiste auszugrenzen. Solange es „die dort“ sind, die einander umbringen, sind wir in Sicherheit.
Julio Scherer García, der Nestor des unabhängigen Journalismus in Mexiko, hat gerade ein aufschlussreiches Buch herausgebracht: „Die Königin des Pazifik“3 , die Geschichte der bekannten Drogenhändlerin Sandra Ávila. Über Monate hat Julio Scherer sie in dem Gefängnis besucht, in dem sie seit dem 28. September 2007 einsitzt. Ávila, die in den Medien als „Königin des Südens“ präsentiert wurde – nach einer Romanfigur von Arturo Pérez Reverte – verfügt über alle erforderlichen Eigenschaften, um für die Öffentlichkeit interessant zu sein. Sie ist eine schöne, starke, selbstbewusste Frau, gefangen genommen von einem schwachen Präsidenten, der seit einem Fahrradunfall im Kindergarten nicht mehr richtig wachsen wollte und in den Uniformen, die er gern trägt, noch kleiner wirkt (an ihm sehen sie alle wie Größe XL aus). Die Königin war eine unwiderstehliche Beute für einen solchen Herrscher auf kleinem Fuß. Ihre Zurschaustellung ist Teil einer Propagandastrategie, die über die Auswirkungen des Drogenhandels jedoch nicht hinwegtäuschen kann.
Laut Scherers Bericht war Sandra Ávila an Verbrechen weniger direkt, aber auf alarmierend andere Weise beteiligt, als ihre Häscher behaupteten. In den 44 Jahren ihres Lebens hat sie nichts anderes kennengelernt als die Narcowelt. Sie spricht darüber, wie Sophia Coppola über das Kino sprechen könnte. Sie ist mit allen wichtigen Drogenbossen zusammengewesen oder mit ihnen verwandt, wurde von einem kriminellen Verlobten entführt, hat zwei Drogenbosse geheiratet (einer davon war ein korrupter Polizeikommandant), musste erleben, wie ihr halbwüchsiger Sohn gekidnappt wurde, und hat Menschen zu ihren Füßen sterben sehen; sie hat alle vorstellbaren Feste gefeiert, Juwelen und Autos besessen, die herrlichsten Villen – wenngleich oft nur für ein paar Wochen – bewohnt und jeder mit Geld bezahlbaren Ausschweifung gefrönt. Und obwohl sie an der Universität von Guadalajara ein Semester Journalismus studiert hat, wusste sie nicht, wer Julio Scherer war.
Javier Marías hat in einem Kommentar über die Fernsehserie „Die Sopranos“ geschrieben, sie zeige das Privatleben der Gangster und erlaube einen ungewöhnlichen Zugang: einen Schritt ins Innere, ohne dass man sein Leben riskiere, in Räume, wo die Mafiosi Menschen sind wie du und ich und sich mit den Schulproblemen ihrer Kinder herumschlagen müssen. Aus der Perspektive eines Narcobosses muss das „Draußen“ ausgeschaltet und seinem Privatleben angepasst werden: Er muss den Country Club kaufen, das Fußballstadion, die Polizeiwache, die Luftblase, in der Sandra Ávila leben kann. In diesem „Second Life“ muss man niemandem etwas vormachen und sich nicht verstecken, weil alle Zuschauer gekauft sind.
Die Pazifikkönigin scheint nicht die Strategin des Bösen zu sein, die der Präsident so dringend braucht, sondern etwas viel Gewöhnlicheres und Schrecklicheres: die Begleiterin der Schande. Sie hat ihr ganzes erfülltes Leben lang keinen einzigen Moment in der Legalität verbracht. Das Erstaunlichste dabei ist nicht ihr hoher Rang in der Welt des Verbrechens, sondern dass sie das Protokoll der Subkultur, in die sie hineingeboren wurde, erfüllt, als ob es das Natürlichste der Welt wäre (gemurrt hat sie lediglich darüber, dass sie kein Mann ist, denn dann hätte sie eine wichtigere Rolle spielen können). Vom kleinen Mädchen bis zur Witwe hatte sie ein Leben, das man als persönliche Karriere lesen kann; eine Karriere, wie sie noch vor einigen Jahren nur im Bundesstaat Sinaloa, dem Sitz des Pazifikkartells, möglich war, die heute jedoch im ganzen Land stattfinden könnte.
Wer glaubt, dass ein Gegenstand namens Rolex Oyster Perpetual Date genügte, um die Königin des Pazifik zufriedenzustellen, der täuscht sich: Sandra Ávila besaß 179 Luxusuhren dieser Art. Solchem Überfluss im Safe entspricht die Ausstattung der Waffenkammern in der Narcowelt: Nach einem Überfall lassen die Killer oft 15 oder 17 Maschinengewehre zurück als Beweis, dass ihr Arsenal unerschöpflich ist.
Das Theatralische an den Narcos beruht auf den Kugeln und der Folter, aber auch auf der Verschwendung von Waffen und der Vielzahl von Verkleidungen, die es ihnen erlauben, als Mitglieder jeder beliebigen Polizeieinheit aufzutreten. Die Drogenkartelle haben den Justizapparat derart infiltriert, dass sie über alle erdenklichen Uniformen verfügen. Das Erstaunliche dabei ist eigentlich, dass die Polizei als Komplizin des Verbrechens noch Uniform trägt.
Dem Drogenhandel ist die Idee der Grenze fremd, er bewegt sich mühelos vom Privatleben in immer abgelegenere Regionen des zivilen Lebens, die er noch nicht gekauft hat. Ein Narcoboss braucht bei seinem Eintritt ins öffentliche Leben keinen anderen Pass als sein Pseudonym, seinen Gangsternamen; er kann einen Namen aus der Mythologie annehmen („Herr der Himmel“), aus dem Landleben („Don Neto“) oder aus einer Trickfilmserie („Der Blaue“). Die Schlimmsten sind die, die sich mit einer die grausigen Tatsachen konterkarierenden Koketterie „Barbie“ oder „Blonde Wimper“ nennen. Wie die Superhelden haben die Narcos keinen Lebenslauf, sondern nur eine Legende. In den USA trifft man dergleichen nicht; in Mexiko aber sind diese Leute allgegenwärtig und unberührbar. Es ist völlig egal, ob sie in einem Hochsicherheitsgefängnis sitzen oder in einer Villa mit Perlmutt-Jacuzzi – sie hören nie auf, ihren Geschäften nachzugehen.
Eigenartigerweise ist das Verleugnen der Gewalt in Mexiko inzwischen einer gut informierten Angst gewichen. Um uns zu beweisen, dass die Narcos „anders“ sind, nahezu außerirdische Wesen, lernen wir jetzt ihre exotischen Decknamen auswendig und erfinden Gerichte, die sie zu sich nehmen, wie „Jaguarherz mit Schießpulver“ oder „Langustinen bestäubt mit Tamarinde und Kokain“. Aber die Aktivitäten der Narcos haben so überhandgenommen, dass es immer schwieriger wird, sie sich als etwas Entferntes vorzustellen. Die „Sopranos“ sind inzwischen eine Reality Show, die wir von unseren Nachbarn geboten bekommen.
Das Verbrechen ist nicht mehr anderswo
Die Landschaft hat sich durch die Investitionen von Schwarzgeld verändert. Jede beliebige mexikanische Stadt verfügt über ausreichend Schauplätze, die als Filmkulissen für den Mord an einem Narcoboss oder an einem Kommandanten dienen könnten. Da gibt es zum Beispiel das perfekte Restaurant, einen Tempel aus Neon und Plastik, wo die Kellnerinnen im Minirock Brontosaurierrippchen servieren; daneben eine Niederlassung von Mercedes Benz und ein Hotel, das mit seiner Plexiglaskuppel an eine Moschee erinnert. Sogar Städte wie Torreón oder Mérida, die bis vor kurzem als ruhig galten, weil man davon ausging, dass die Drogenhändler dort ihre Wohnungen und Rückzugsgebiete hatten, waren schon Schauplätze von blutigen Abrechnungen.
In der neuen Atmosphäre der Angst bieten 10 000 Agenturen ihre Sicherheitsdienste an, und mehr als 3 000 Menschen haben sich bereits einen reiskorngroßen Chip implantieren lassen, damit man sie im Falle eines Kidnappings mit Radar orten kann.
Wegschauen geht nicht mehr, und es hat auch keinen Sinn mehr, sich einzureden, dass die Überfälle weit weg in einem Themenpark für blutige Abrechnungen stattfinden, zu dem wir zum Glück keinen Zutritt haben. Am 15. September dieses Jahres, dem mexikanischen Unabhängigkeitstag, wurden zwei Granaten in eine wehrlose Menge auf dem Hauptplatz von Morelia geworfen. Gleichzeitig gab es ein virtuelles Attentat: Die Einwohner der Stadt Villahermosa bekamen E-Mails, die ihnen mitteilten, dass sie alle Kidnappingkandidaten seien.
Präsident Felipe Calderón ging als Sieger aus anfechtbaren Wahlen hervor, die das Land gespalten haben. Um Stärke unter Beweis zu stellen, ließ er die Armee überall im Land patrouillieren. Die Ankündigung, dass man vor einer Konfrontation nicht zurückschrecke, war der Auslöser für Kämpfe zwischen den Drogenkartellen und für Morde an Polizisten. Doch während in den Straßen und Schluchten die Leichen lagen, untersuchte niemand die Finanzierungsnetzwerke der Mafia, keiner verhaftete die Komplizen in der Regierung.
Der letzte hohe Funktionär, der wegen Geschäften mit der Mafia hinter Gitter kam, war Mario Villanueva, der damalige Gouverneur des Bundesstaats Quintana Roo. Das war 2001, unter der Regierung von Ernesto Zedillo, dem letzten PRI-Präsidenten. Die folgenden beiden – demokratisch gewählten – Regierungen waren unfähig, gegen sich selbst zu ermitteln und das Zusammenspiel zwischen Drogenhandel und Politik aufzudecken, dem die Narcowelt ihr Aufblühen verdankt.
Wir sind bei einer neuen Grammatik des Schreckens angelangt: Wir stehen vor einem diffusen, nicht zu ortenden Krieg, in dem es keine Front und keine Etappe gibt, in dem nicht einmal zwei gegnerische Lager zu erkennen sind. Es ist unmöglich, einigermaßen verlässlich festzustellen, wer wirklich zur Polizei gehört und wer sie infiltriert hat. Der politische Pakt mit dem organisierten Verbrechen hat eine entscheidende symbolische Verschiebung bewirkt. Nachdem es jahrzehntelang immer das „Andere“ war, rückt es nun immer näher und näher.
Die Installationskünstlerin Rosa María Robles hat die neu erwachte Angst vorweggenommen. Ihre Ausstellung „Navajas“ (Messer), die 2007 in Culiacán gezeigt wurde, enthielt die Arbeit „Alfombra roja“ (Roter Teppich). Das war keine Anspielung auf den Laufsteg, auf dem die Reichen und Schönen Andy Warhols Utopie entgegenstolzieren, sondern auf die Decken der encobijados (Verhüllten), getränkt mit dem Blut der Opfer, auf die „Strafkolonie“, die zwischen Januar und Oktober 2008 an die 3 000 Opfer forderte. Der nicht wiederholbare Augenblick des Verbrechens und die grenzenlosen Möglichkeiten des Drogenhandels gewinnen in diesem Kunstwerk eine andere Bedeutung. Das Blut fließt in die lineare Zeit, in den gemeinsamen Boden, wo das Leben vom Verbrechen erfasst wird.
Robles gelang es, an acht Decken aus einem Polizeidepot heranzukommen. Mit ihnen hat sie den „roten Teppich“ geschaffen. Im Ausstellungsraum wurden sie zu einem dramatischen Ready-Made. Marcel Duchamp meets James Ellroy: das „Objet trouvé“ als Beweisstück. Robles setzte die Straflosigkeit doppelt in Szene: Sie zeigte ein unaufgeklärtes Verbrechen und erbrachte den Beweis, dass es ein Kinderspiel ist, an Gegenstände heranzukommen, die eigentlich unter strenger Bewachung stehen müssten. Ihre Ausstellung löste Auseinandersetzungen darüber aus, ob man polizeiliche Beweisstücke zweckentfremden dürfe. Die tatsächliche Wirkung ihrer Arbeit war aber eine andere: In der Galerie lieferten die Decken einen viel wertvolleren Beweis als in der Pathologie.
Nach einigen Diskussionen wurde „Alfombra roja“ zurückgezogen. Daraufhin färbte Robles eine Decke mit ihrem eigenen Blut – eine Geste, die die mexikanische Gegenwart mit großer Eindringlichkeit illustriert. Wir alle sollten über diesen roten Teppich gehen. Früher konnten wir meinen, das vergossene Blut sei das der Anderen. Heute wissen wir, es ist unseres.
Aus dem Spanischen von Ralf Leonhard
Juan Villoro ist Schriftsteller und Journalist in Mexiko-Stadt. Er ist Autor von „Das Spiel der sieben Fehler“, München (DVA) 1997, zuletzt: „El testigo“ (Editorial Anagrama) 2004.
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