14.11.2008

Telefon im Grab

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Telefon im Grab

Die Drogenkartelle in Mexiko sind jederzeit für alles gerüstet von Anne Vigna

Juan und Paco sind im Dienst. Sie rasen durch die Straßen von Culiacán, der Hauptstadt des nordmexikanischen Staates Sinaloa an der Pazifikküste. Es ist kurz vor elf Uhr abends. Ohne zu bremsen, überholen die beiden einen Wagen der städtischen Polizei. Juan sitzt am Steuer, Paco bedient das Funkgerät. Beide prüfen zwischendurch den Sitz ihrer Krawatten. Eine knisternde Stimme: „Vier Tote in der Nähe der Kirche. In einem roten Chevrolet. Gebt uns Bescheid, sobald ihr mehr wisst.“ Man könnte meinen, in einem Einsatzwagen der Polizei zu sitzen – aber Juan und Paco arbeiten für ein Bestattungsunternehmen. Laut Visitenkarte sind sie „Spezialisten für Schießereien“.

Ihr Beruf ist ein hartes Brot. Paco und Juan müssen schnell sein. Es gibt in Culiacán noch sechs andere Bestatter, die sich auf die Opfer des Bandenkrieges spezialisiert haben. Sobald die beiden an Ort und Stelle sind, müssen sie die Angehörigen ausfindig machen und ihnen zwischen zwei Polizeiverhören ihre Dienste aufdrängen. „Die Leute beschimpfen uns als Aasgeier“, sagt Paco. „Sie verachten uns, weil wir die Familien belästigen, noch bevor die Toten geborgen sind. Aber wenigstens machen wir eine nützliche Arbeit und liegen nicht auf der faulen Haut.“

Paco und Juan entdecken den roten Chevrolet. Sie springen aus dem Auto und finden in dem ganzen Tumult die Namen der Opfer heraus. Dann kämpfen sie sich zu den weinenden Verwandten durch und helfen ihnen, die Leichen wegzutragen. Die vier Toten waren alle jünger als 25 Jahre. Sie wurden in ihrem Auto aus dem Hinterhalt erschossen. Und die Mörder hinterließen keine Spuren. „Genau wie immer“, sagt Juan. „Mit diesen vier Leichen sind es heute schon dreizehn.“ Seine Kollegen sind zur gleichen Zeit in einem anderen Viertel von Culiacán unterwegs. Auch dort gab es eine „weitere Abrechnung im Drogenmilieu“, wie die Schlagzeilen am nächsten Morgen lauten.

Aber waren die vier jungen Männer wirklich Mitglieder einer Drogenhändlerbande, sogenannte Narcos? Vielleicht. Da bisher keine einzige Untersuchung in solchen Fällen zu einem konkreten Ergebnis geführt hat, weiß man das nie so genau. Für Paco und Juan steht aber fest, dass die vier im Chevrolet nicht sauber waren. „Das sieht man schon am Auto und an den Klamotten“, murmelt Paco. „Die hatten Knete. Und was glaubst du, wie man in einem Armenviertel von Culiacán zu Geld kommt?“

Culiacán ist die Hauptstadt des Bundesstaats Sinaloa. In ganz Mexiko gilt die Region als „Wiege des Drogenhandels“, wo die Bosse immer in Ruhe ihre Geschäfte machen konnten und wo mehr Luxusgeländewagen zugelassen sind als im ganzen übrigen Mexiko. Fachleute schätzen, dass die Wirtschaft hier zu 60 Prozent aus Drogenhandel besteht oder zumindest in diesen verstrickt ist.

Die Spuren dieser Aktivitäten finden sich überall in Culiacán – am deutlichsten vielleicht auf den Friedhöfen, und insbesondere auf einem, der Garten von Umaya heißt. Es ist ein idyllisches Fleckchen Erde, wo die Maurer so zahlreich sind wie die Toten. Sie bauen üppig ausgestattete Mausoleen, manche davon mit zwei Stockwerken, Klimaanlage, Telefon, Kühlschrank und ausladenden Sofas – ein seltsam neureiches Geprotze, das man in Mexiko sonst so nicht findet. Das, was im Volksmund Narco-Style genannt wird, treibt nirgendwo im Land solche Blüten wie hier. Wer in der Branche zu Geld kommt, braucht vor allem das richtige Auto: eines dieser schwarzen Pick-up-Riesenschiffe, aus dessen Lautsprechern die berüchtigten narcocorridos dröhnen – Lieder, in denen gern die Taten und großen Gesten der „Capos“ verherrlicht werden.

Auch das Viertel der Musiker in Culiacán ist ein ganz spezieller Ort. Wer im Geschäft ist, bekommt sehr viel höhere Gagen als jeder andere Musiker im Land. Dafür spielt man bei allen Festlichkeiten, ohne je nachzufragen, wer die Musik eigentlich bestellt hat. „Es stimmt, wir verdienen ganz gut, aber zurzeit herrscht hier nicht gerade Partystimmung, und es gibt wenig Arbeit“, sagt Conrado. Er ist der Manager einer Narcocorridos-Band, die sich ungeniert Cártel de Sinaloa nennt. „Überhaupt nehmen sich zurzeit alle zurück. Man sieht kaum noch diese Angeber in ihren fetten Pick-ups. Jeder hat Angst, aufzufallen und umgebracht zu werden.“

Jede Nacht trägt Culiacán Trauer für ein neues Opfer im Bruderkrieg rund um das Sinaloa-Kartell. Seit sich ein paar Anführer von der Bande abgespalten haben, bringen sich die rivalisierenden Clans gegenseitig um. Und dann gibt es da noch den „Krieg gegen den Drogenhandel“, den Präsident Felipe Calderón nach seinem Amtsantritt im Dezember 2006 ausrief.

Im vergangenen Mai ließen die Gebrüder Beltrán den Sohn von „Chapo“ Guzmán auf dem Parkplatz der schicksten Shoppingmall von Culiacán ermorden. Bei der Leiche fand man ein Bekennerschreiben der Beltráns. Der Mord sollte die Verhaftung von Alfredo Beltrán Leyva, genannt „El Mochomo“, rächen. Guzmán wurde vorgeworfen, Alfredo Beltrán der Polizei „übergeben“ zu haben. Seither fordern die gegenseitigen Racheakte zwischen den Beltráns und Guzmáns Leuten in dem kleinen Staat mit nur 2,6 Millionen Einwohnern jeden Monat im Durchschnitt 100 Menschenleben.

Dabei sind fast sämtliche wichtigen Leute aus diesem kriminellen Milieu mehr oder weniger zusammen aufgewachsen. Sie stammen aus dem berüchtigten „Goldenen Dreieck von Mexiko“ in den kalten Bergen der westlichen Sierra Madre, im Grenzgebiet der Staaten Sinaloa, Durango und Chihuahua.

Die Drogenbosse aus der Sierra Madre

In den 1940er-Jahren entdeckten die US-Amerikaner in den Bergen der Sierra Madre ideale klimatische Bedingungen für den Mohnanbau. Nordamerika benötigte damals große Mengen Morphium für seine Soldaten an der Front, und Mexiko beeilte sich, dem großen Nachbarn im Norden zu Diensten zu sein. Niemand dachte auch nur im Entferntesten daran, dass der Anbau von Mohn und Cannabis einmal zum größten Problem des Landes werden könnte. Die abgelegenen Bergdörfer der Sierra Madre Occidental sind zum Teil bis heute nur mit Kleinflugzeugen oder nach stundenlanger Fahrt auf schlechten Straßen zu erreichen. Von hier stammen die größten Drogenbosse Mexikos.

Während Culiacán täglich unter dem Konflikt zu leiden hat, bleibt Badiraguato, die größte Gemeinde in der Sierra, davon verschont. „Wie Sie sehen, schlafen wir hier ruhig“, sagt der Bürgermeister Martín Meza Ortiz. „Die Narcos haben wenigstens noch Respekt vor ihrer eigenen Herkunft“, fügt er hinzu. „Außerdem lebt Chapo Guzmans Mutter, eine streng gläubige Frau, noch auf ihrem Hof in La Tuna.“

Nur einige hundert Meter von einem Armeestützpunkt entfernt sieht die Landschaft fast genauso aus wie im sogenannten Goldenen Dreieck von Birma, dem einst größten Opiumanbaugebiet der Welt. Der Bürgermeister hat ein Treffen zwischen Journalisten und den Bauern organisiert, die das betreiben, was man als „illegalen Anbau“ bezeichnet. Ein gewisser „Ángel“, seinen wahren Namen will er nicht preisgeben, fasst zusammen, wie das Leben in der Sierra aussieht: Die Armee vernichtet die verbotenen Kulturen, die Bauern pflanzen daraufhin erneut an – unter dem Druck der Aufkäufer, von denen sie auch noch schlecht bezahlt werden. Nachbarn vermodern in irgendeinem Gefängnis. Und allgegenwärtig ist die Angst, alles zu verlieren.

Auf die Frage, ob denn etwa nichts dran sei an der Großzügigkeit, die den Drogenhändlern nachgesagt wird, reagiert „Ángel“ mit bitterem Lachen. „Großzügig? Die? Nie im Leben! Jeden Peso, den du von denen leihst, musst du auf den Tag pünktlich zurückzahlen.“ Aber investieren die Drogenbosse denn nicht in den Straßenbau und lassen Stromkabel verlegen? „Das sind doch nur Märchen!“, antwortet „Ángel“: „Wenn die eine Straße bauen, dann nur, damit sie zu ihrer Ranch fahren können! Nur der Kirche geben sie Geld, um für eine Feier zu bezahlen, aber uns Armen geben sie gar nichts. Wir müssen nur für sie arbeiten.“

Auch ein kurzer Besuch in den Dörfern bestätigt: Das Geschäft mit den Drogen hat das Leben für die Bauern in der Sierra sicher nicht leichter gemacht. Ihre Häuser sind genauso heruntergekommen wie die Hütten im bitterarmen Chiapas, im Süden Mexikos. Es gibt keine Straßen, nur Feldwege und keine weiterführenden Schulen nach der Grundschule. Badiraguato gehört zu den 200 ärmsten Gemeinden Mexikos.

Seit der Staat den Kampf gegen den Drogenhandel mit militärischen Mitteln führt, hat sich die Lage noch verschlimmert. Im Februar konfiszierte die Armee insgesamt 227 Kleinflugzeuge, die neben dem Transport von Drogen auch Passagiere an Bord genommen hatten. Seither gelangt man auch in Notfällen und bei komplizierten Geburten nicht mehr in die Provinzhauptstadt. In den Dörfern, die nicht das Glück haben, enge Vertraute der Capos zu ihren Bewohnern zu zählen, herrschen bürgerkriegsähnliche Zustände.

El Pozo ist so ein Dorf. Es liegt nur eine halbe Autostunde von Culiacán entfernt. Nach Zeugenberichten tauchten hier am 21. März und am 25. Juni plötzlich bis zu 50 bewaffnete Männer auf. Sie richteten ein Blutbad an. Neun Menschen starben, darunter zwei Kinder. Niemand weiß, warum – weder die Polizei noch die Justiz noch die Dorfbewohner, die in Panik flohen. Eine Woche nach dem zweiten Massaker begann die Armee in El Pozo mit Evakuierungsmaßnahmen. Soldaten luden ein paar Säcke auf einen Lastwagen und blafften die umstehenden Frauen an: „Tempo, Tempo! Wir wollen nicht ewig in eurem Scheißkaff abhängen.“

Don Manuel, der Bürgermeister, sagt, dass seit dem ersten Morden in El Pozo 70 Häuser leerstehen. Zurückgeblieben sind nur die, die nirgendwo anders Verwandte haben oder es sich nicht leisten können, wegzuziehen. „Nach dem, was passiert ist, kauft hier doch niemand mehr ein Haus.“ Don Manuel will mit seiner Frau in El Pozo bleiben. Aber er hat seine beiden Töchter nach Culiacán geschickt und verlässt das Haus nur noch, um seine Tiere mit dem Nötigsten zu versorgen. Ein paar Straßen weiter verbarrikadiert ein Mann sein Haus, so gut es eben geht. Er versichert, dass er sich nichts vorzuwerfen und mit dem Drogenhandel nichts zu tun habe. „Aber die Toten hatten auch nichts mit Drogen zu tun. Wir haben jeden Tag Angst, dass die Mörder wiederkommen.“ Der Stacheldraht, mit dem sich dieser Mann schützen will, scheint lächerlich, wenn man bedenkt, was hier passiert ist: Die Polizei fand vor Ort 400 bis 500 abgefeuerte Kugeln, die die Mordkommandos bei jedem ihrer Überfälle hinterlassen haben.

Ismael Bojórquez ist Chefredakteur der lokalen Wochenzeitung Rio Doce. Er ist vielleicht der Einzige, der wirklich herausfinden will, was in El Pozo geschah. Aber auch er konnte kaum etwas in Erfahrung bringen. Einige Zeugen berichteten, dass die Mörder es auf eine verhältnismäßig reiche Familie im Dorf abgesehen hatten. Aber diese Familie hatte hier schon seit langem niemand mehr gesehen.

So fielen die Mörder über die Erstbesten her, die ihnen über den Weg liefen. „Nur deshalb mussten diese Kinder sterben. Und nur deswegen steht in allen Gesichtern die nackte Angst“, sagt Bojórquez. „Es gibt in Sinaloa schon hunderte verlassener Dörfer wie El Pozo. Je mehr sich das Drogenkartell hier breitgemacht und je öfter die Armee deshalb hier eingegriffen, die Leute schikaniert und ungerecht behandelt hat, desto mehr Einheimische haben das Weite gesucht. Das mit der Abwanderung ist in den letzten Jahren immer schlimmer geworden, weil Polizei und Armee nicht in der Lage sind, die Leute zu beschützen.“

Dabei ist die Armee überall auf den Straßen von Sinaloa präsent. Die Kolonnen mit gepanzerten Fahrzeugen beeindrucken aber niemanden mehr. Sie werden nur noch kritisiert. „Die sind völlig nutzlos, und sie machen alles nur noch komplizierter“, ist die weit verbreitete Meinung. Auch Bojórquez ist der Ansicht, dass die Armee mit dieser Aufgabe überfordert ist.

„Es ist wahr, dass sie noch nie irgendwelche Verbrecher verhaftet haben, und es ist wahr, dass sie immer erst dann kommen, wenn schon alles vorbei ist. Das eigentliche Problem ist aber, dass der Präsident hier schwere Geschütze auffahren lässt, anstatt auf der wirtschaftlichen und politischen Ebene anzusetzen. Im nächsten Jahr sind Parlamentswahlen, und deswegen will Calderón den Filz aus Drogenhändlern und Politikern nicht allzu energisch bekämpfen. Hier halten doch alle die Hand auf. Und da hängen die Politiker von allen Parteien mit drin.“

Rio Doce ist die kritischste Wochenzeitung der Region. Die Enthüllungen, die sie bringt, betreffen nicht nur die Narcos, sondern auch die Sicherheitskräfte. So fand Bojórquez zum Beispiel heraus, dass die Bundespolizei, die Federales, sich zu Unrecht damit brüstete, im Juli dieses Jahres vier Verbrecher erschossen zu haben. In Wirklichkeit waren die vier nämlich schon tot, als die Polizisten anrückten – umgekommen im Kugelhagel feindlicher Narcos.1 Diese Affäre macht deutlich, wie verzweifelt die zuständigen Behörden versuchen, die niederschmetternde Bilanz ihrer Arbeit zu vertuschen.

Sage und schreibe 87 Polizisten wurden in Culiacán seit Beginn dieses Jahres getötet. Sie sind das vorrangige Ziel der Banden, wann immer es darum geht, den Behörden eine „Botschaft“ zu übermitteln oder Rache für eine Polizeiaktion zu üben. Unvorstellbar ist das Ausmaß, in welchem diese Morde ungestraft geschehen können.

Ganz legale Waffenkäufe in den USA

Im Juni dieses Jahres überfielen Narcos in der Nähe der Universität eine Polizeistreife. Alle sechs Beamte starben. Sekunden bevor die Täter zuschlugen, teilten sie der Polizei über Funk mit: „Die nächsten Bullen, denen wir über den Weg laufen, bringen wir um!“ Sie schlugen zu, als die Streife an einer roten Ampel hielt. Die Polizisten hatten nicht einmal mehr Zeit, ihre Waffen zu ziehen. Am nächsten Morgen verkündete die Innenministerin von Sinaloa: „Die Polizisten sind gestorben, weil sie nicht misstrauisch genug waren.“ Die Familien der Toten reagierten empört. Drei von ihnen verweigerten das offizielle Ehrenbegräbnis.

„Jeder weiß, dass die Narcos viel besser ausgerüstet sind als die Polizei“, sagt Vicente Amaral, Vater eines getöteten Polizisten. „Mein Sohn ist sicher nicht gestorben, weil er zu leichtgläubig war.“ Die Streife war allein unterwegs gewesen und hätte, selbst wenn dazu Zeit gewesen wäre, keine Verstärkung bekommen können. Außerdem trug keiner der Polizisten eine kugelsichere Weste.

Es ist zudem ein offenes Geheimnis, dass sich die Drogenbanden in den USA mit Waffen versorgen – und dagegen ist die Regierung trotz aller Anstrengungen machtlos. „Die Vereinigten Staaten haben eine gewisse Mitverantwortung für diesen Drogenkrieg eingestanden. Das ist ein erster, aber noch unzureichender Schritt“, sagt Alejandro Díaz de León Carrasco, Leiter der Abteilung für internationale Zusammenarbeit im mexikanischen Justizministerium. Die Narcos profitieren ungehindert von dem in den USA – im Gegensatz zu Mexiko – sakrosankten Recht auf freien Waffenbesitz.

„Die Regierung in Washington weiß ebenso gut wie wir, dass die Drogenkartelle in 100 000 Waffenläden einkaufen lassen und sich bei den 3 000 Waffenmessen eindecken, die jedes Jahr allein in Texas, Arizona und Kalifornien stattfinden. Man braucht dort nichts als eine gültige Aufenthaltsgenehmigung, um so viele AK-47-Maschinenpistolen zu kaufen, wie man will, es gibt keine Beschränkungen und keine Kontrollen.“

Nach Auskunft des mexikanischen Justizministeriums stammen 90 Prozent der bei den Narcos konfiszierten Waffen aus den USA. Von 2002 bis 2006 fand man jährlich rund 2 500 schwere Schusswaffen und 450 000 Stück Munition. Allein zwischen Januar und September dieses Jahres waren es schon 10 000 Waffen und 1,2 Millionen Kugeln.2 Selbst das Ministerium gibt zu, dass dieser „Erfolg“ nicht nur auf das Vorgehen von Polizei und Militär zurückgeht. Die Narcos kaufen jetzt ganz einfach mehr Pistolen und Gewehre. Und der Kampf um die Besitzstände fördert untereinander auch noch das Wettrüsten. „Das Schlimmste an diesem Schmuggel ist“, so Alejandro Diáz, „dass das schmutzige Geld aus dem Drogenhandel in der US-Waffenindustrie gewaschen wird. Drogen und Waffen folgen denselben Routen.“

Solche Äußerungen sind bemerkenswert. Noch vor kurzem hätte kaum ein Vertreter einer mexikanischen Regierung gewagt, die Zusammenhänge so offen zu benennen. Aber der wachsende Zorn über den Mangel an Kooperationsbereitschaft jenseits der Grenze macht die Mexikaner langsam gesprächig. Nicht einmal der sehr konservative Präsident Calderón bildet da eine Ausnahme. „Vor allem müssen wir den Schmuggel von tausenden von Waffen aus den USA nach Mexiko unterbinden. Diese Waffen tragen ganz erheblich zur Eskalation der Gewalt in unserem Land bei. Sie sind schuld daran, dass jedes Jahr dutzende mexikanische Polizisten und Soldaten sterben.“3

Waffen und Drogen werden über die 3 000 Kilometer lange Grenze verschoben, die zumeist mitten durch die Wüste verläuft. Doch die Schmuggler wählen nur selten den Weg durch die Wüste, sondern operieren bevorzugt in dicht besiedelten Gebieten. In Mexicali, der Hauptstadt von Baja California, verläuft die Grenze nur ein paar hundert Meter vom Stadtzentrum entfernt. Ein imposanter, mehrere Meter hoher Zaun trennt Mexicali von der US-amerikanischen Stadt Calexico. Er soll als Barriere gegen den Drogenschmuggel dienen und Migranten abhalten.

Tunnel für die Drogen

Doch seit Jahren finden Polizisten zu beiden Seiten der Grenze immer wieder und oft nur zufällig sogenannte Narco-Tunnel. Zwischen Wohnhäusern oder Lagerhallen auf beiden Seiten werden mehrere hundert Meter lange Stollen gegraben. Jahrelang mussten sich Schmuggler und Schleuser nicht einmal die Mühe machen, einen Tunnel zu bauen: Sie benutzten einfach das Netz der Abwasserkanäle der beiden Städte. Ganz genauso sieht es in der Grenzstadt Nogales im Bundesstaat Sonora aus.4

Alfredo Arenas leitet in Mexicali eine Polizeieinheit, die mit den US-Behörden zusammenarbeitet. Auf diese Weise hat er bereits mehrere Tunnel entdeckt. Jeden Tag patrouillieren Arenas Streifen durch die Wohnviertel entlang der Mauer. Auf einer Strecke von mehr als 10 Kilometern halten die Beamten Ausschau nach ungewöhnlichen Aktivitäten. „Natürlich gibt es nicht bei jedem Haus einen begründeten Verdacht“, sagt er. „An der Grenze stehen tausende von Wohnhäusern, und wir dürfen sie nicht alle ohne weiteres durchsuchen.“

In diesem Jahr fand Arenas einen 120 Meter langen Stollen in vier Metern Tiefe, ausgestattet mit Lüftung und Beleuchtung. Doch im Vergleich zu einigen anderen unterirdischen Wegenetzen, die von der amerikanischen Drug Enforcement Agency (DEA) entdeckt wurden, war dieser Stollen ein eher einfaches Modell. Insgesamt 37 Tunnel hat man seit 1990 unter der Grenze gefunden, die meisten in Kalifornien und Arizona. Der längste maß 441 Meter und befand sich unmittelbar neben dem internationalen Flughafen von Tijuana. „So ein Tunnel kostet je nach Länge zwischen einer und fünf Millionen Dollar“, sagt Arenas.

Mit dieser Investition lässt sich schätzungsweise das Zehnfache verdienen. „Bekannt ist auch, dass der Drogenhandel allein die Tunnel noch nicht rentabel macht. Die Migranten und vor allem der Waffenschmuggel spielen dabei ebenfalls eine große Rolle.“

Wie viele Polizisten spricht Arenas nicht gern über Korruption in den eigenen Reihen. Aber die Regierung Mexikos ist sich sicher, dass Drogen und Waffen auch am helllichten Tag geschmuggelt werden – mithilfe von bestechlichen Polizei- und Zollbeamten.5 Arenas leugnet die Tatsachen nicht. Ihn ärgert aber, dass die Korruption meistens nur den mexikanischen Polizisten in die Schuhe geschoben wird. „Inzwischen sitzen einige meiner US-Kollegen im Gefängnis, weil sie sich von Narcos bestechen ließen. Der wichtigste Unterschied ist, dass Bestechung auf der US-amerikanischen Seite etwa das Zehnfache kostet. Und natürlich können Drogen und Waffen nur dann reibungslos über die Grenze gelangen, wenn es auf beiden Seiten ein Netzwerk gibt.“

Nicht nur wegen seiner militärischen Ausrichtung sorgt auch die sogenannte Mérida-Initiative, ein Hilfsprogramm, das der US-Kongress im Oktober 2007 ratifizierte, für Kritik. In den nächsten drei Jahren wollen die USA jährlich 500 Millionen Dollar an Mexiko und 50 Millionen an mittelamerikanische Staaten vergeben, um vor Ort die Ausbildung und Ausrüstung der Polizisten zu verbessern. Der Leiter der Polizeieinheit von Mexicali fühlt sich gegängelt: „Bevor sie hier ankommen und uns ausbilden, sollten sie erst mal bei sich zu Hause etwas gegen den Drogenkonsum unternehmen!“, empört sich Arenas. Doch in den USA genießt Drogenprävention keine Priorität.6 Die Strafverfolgung von Konsumenten und Dealern steht bei der Drogenbekämpfung noch immer im Vordergrund.

Fußnoten: 1 „La farsa de la PFP“, Rio Doce, Culiacán, 8. Juli 2008. 2 Zahlen des mexikanischen Verteidigungsministeriums: Die Armee führt Buch über die monatlich beschlagnahmten Waffen. www.sedena.gob.mx/in dex/.php?id=520. 3 Rede von Felipe Calderón anlässlich der Eröffnung der 25. Konferenz mexikanischer und amerikanischer Bundesstaaten entlang der gemeinsamen Grenze. 4 Erst kürzlich wurde der Polizeichef von Sonora, Juan Manuel Pavón Félix, in Nogales auf offener Straße erschossen. Der Beamte hatte kurz zuvor in der Grenzstadt neue Anweisungen für die Polizeiarbeit im Kampf gegen die Drogenkriminalität erteilt. 5 Um gegen die Korruption vorzugehen, sollen von nun an Soldaten die Grenzen und die Checkpoints in der Wüste überwachen. 6 Vgl. International Crisis Group, Latin American Drugs I und II, Latin America Report N°25, Bogotá, 14. März 2008.

Aus dem Französischen von Herwig Engelmann

Anne Vigna ist Journalistin.

Le Monde diplomatique vom 14.11.2008, von Anne Vigna