Aufgehalten in Mauretanien
Europa exportiert seine Außengrenze an den Rand der Sahara von Zoé Lamazou
Mit einem Anflug von schwarzem Humor haben die Einwohner der mauretanischen Hafenstadt Nouadhibou, 470 Kilometer von der Hauptstadt Nouakchott entfernt, ihre Viertel aus nackten Hohlblocksteinen nach den großen Metropolen fremder Länder benannt: Accra, Bagdad oder Dubai. Als die spanischen Behörden 2006 im Einvernehmen mit der mauretanischen Regierung ein Auffanglager für illegale Einwanderer in Nouadhibou errichteten, war der Name schnell gefunden: „Guantanamito“.
Hier werden in einem ehemaligen Schulgebäude etwas außerhalb der Stadt, an der Grenze zur Westsahara, all jene Bootsflüchtlinge interniert, die versucht haben, über die in Luftlinie etwa 800 Kilometer nördlich gelegenen Kanarischen Inseln nach Spanien zu gelangen. Zusammengepfercht an Bord traditioneller Fischerboote haben manche nicht einmal vom Ufer ablegen können, weil sie schon vorher von der mauretanischen Küstenwache oder der spanischen Guardia Civil aufgegriffen wurden.
Hinter hohen, oben von Gitterkronen abgesicherten Betonmauern sieht man durch das offenstehende Blechtor den Innenhof, eine ausgedehnte, gähnend leere Sandfläche. Am anderen Ende einen langgestreckten, rosa getünchten Trakt, in dem sich früher die Klassenräume befanden, daneben zwei Blocks mit sanitären Anlagen. Die Nachbarn aus dem angrenzenden Elendsviertel gehen hier scheinbar ungehindert ein und aus, um ihre mitgebrachten Kanister am Wasserhahn zu füllen. Zwei junge mauretanische Polizisten schieben ohne jeden Eifer Wache. In diesen letzten Junitagen ist nur eine Zelle belegt: ein umfunktioniertes Klassenzimmer, 40 Quadratmeter groß, vollgestellt mit doppelstöckigen Pritschen. Aus dem Halbdunkel tauchen verstörte Gestalten auf, lauter Männer, ein knappes Dutzend. Fast alle sind aus Mali, wie sie sagen. Einer ruft einem Polizisten zu: „Wird’s bald mit der Abschiebung? Wir haben das Warten satt!“ Ein anderer klagt: „Jetzt sind wir schon zehn Tage hier!“ „Eine Woche“, verbessert der Wärter. Laut dem zuständigen Vertreter der Hilfsorganisation Roter Halbmond Mohamed Ould Hamada dürfen die Häftlinge nicht länger als 72 Stunden in der ehemaligen Schule festgehalten werden.
Ein Gefangener streicht sich mit der Hand vom Mund zum Bauch hinab, er hat Hunger. Der jüngste gibt sein Alter mit 18 Jahren an. Er kann kaum laufen, beide Beine sind verletzt. Unter dem Verband, den ein Arzt vom spanischen Roten Kreuz kurz zuvor angelegt hat, sind seine klaffenden Wunden zu erahnen. Der Polizist erklärt, ein Boot mit sechsundsiebzig Menschen an Bord sei letzte Woche gestrandet: „Dreißig waren tot. Die Überlebenden wurden zu uns gebracht. Die hier sind die letzten, die anderen hat man mit einem Bus an die malische Grenze gefahren. Manche sind zu krank, um die 1 500 Kilometer durchzustehen. Die behalten wir hier, bis sie wieder bei Kräften sind.“
Die mauretanischen Behörden organisieren nur die Internierung und die Rückführung an die Grenze, im Lager selbst gibt es weder Betreuung noch Verpflegung. Das übernehmen das spanische Rote Kreuz und der mauretanische Rote Halbmond, die obendrein Handys verteilen. Gelegentlich gibt eine gute Seele am Tor Lebensmittel ab. „Die Spanier haben dieses Lager eingerichtet, aber für die laufenden Kosten haben sie uns nichts gegeben. Das Problem ist, dass wir kein Geld haben“, erklärt der Flüchtlingsbeauftragte des Innenministeriums.
In einem Bericht vom Juli 2008 hat Amnesty International die Behandlung der Bootsflüchtlinge in Mauretanien unter die Lupe genommen und insbesondere die willkürlichen Massenabschiebungen sowie die menschenunwürdigen Zustände in „Guantanamito“ angeprangert.1 Vor Ort machen Mitarbeiter der Hilfsorganisationen ihrer Empörung Luft. In den Augen von Ahmed Ould Kleibp, dem Vorsitzenden des Verbands für Umweltschutz und humanitäre Hilfe (Apeah), ist das Lager „ein regelrechter Knast, und die Haftbedingungen sind fürchterlich“. Der Kollege vom Roten Halbmond widerspricht solchen alarmierenden Vorwürfen, gibt jedoch zu, dass sein Vorgänger sich allzu scharfe Äußerungen erlaubt und deswegen seinen Job verloren hat.
Die Sorge des Roten Halbmonds gilt vor allem den Abschiebetransporten: „Unterwegs, von Nouadhibou bis an die senegalesische oder malische Grenze, sind die Migranten sich selbst überlassen und ohne jede Hilfe.“ Bei einem offiziellen Besuch in Nouakchott hat der spanische Außenminister versprochen, eine Delegation seiner Mitarbeiter und einiger hoher Beamter des Innenministeriums in das Lager von Nouadhibou zu entsenden, „um die Menschenrechtslage zu überprüfen“.
Nach Zahlen des spanischen Roten Kreuzes haben von Oktober 2006 bis Juni 2008 insgesamt 6 745 Menschen das Auffanglager passiert, das sind durchschnittlich 300 pro Monat. Im Juni dieses Jahres waren es bereits 500. Seit der Verschärfung der Repressionsmaßnahmen im Jahr 2005 wird die Überfahrt nach Europa an der Straße von Gibraltar, wo zwischen Marokko und Spanien nur 15 Kilometer Seeweg liegen, strenger kontrolliert. Ceuta und Melilla, die beiden spanischen Enklaven in Marokko, sind seitdem praktisch unerreichbar. Fast alle behelfsmäßigen Lager im Umkreis dieser beiden Städte sind verschwunden.
Inzwischen legen die Boote meistens vom südlichen Teil der marokkanischen Westküste ab, von Tarfaya, Laâyoune oder Dakhla. Manchmal beginnt die Reise noch weiter südlich, gelegentlich sogar in Saint-Louis oder in Dakar im Senegal: Dann kommt erst nach 1 500 Kilometern auf hoher See mit den Kanarischen Inseln spanischer Boden in Sicht. Um den überwachten Küstenstreifen zu meiden, fahren die Boote aufs offene Meer hinaus, nehmen eine längere und gefährlichere Überfahrt in Kauf, bis sie endlich die westlichsten Inseln des Kanarischen Archipels ansteuern.
Die auf halber Strecke zwischen Westafrika und dem Maghreb gelegene Hafenstadt Nouadhibou gilt als ein besonders günstiger Ausgangspunkt für die Reise nach Europa. Über die 2004 zu Ende gebaute Straße von Nouakchott nach Nouadhibou, mit der die Transsaharaverbindung zwischen Marokko und dem Senegal fertiggestellt war, werden die Wanderungsbewegungen verstärkt nach Nouadhibou gelenkt. Die dortige Fisch- und Erzindustrie zieht schon seit den frühen 1950er-Jahren Arbeitskräfte aus Subsahara-Afrika an.
Um dem neuerlichen Schub von Flüchtlingsbooten entgegenzuwirken, greift Spanien seit 2006 auf das 2003 geschlossene Rücknahmeabkommen mit Mauretanien zurück: Alle, die auch nur mutmaßlich über mauretanischen Boden versucht haben, illegal auf die Kanaren zu gelangen, werden auf der Stelle nach Nouakchott oder Nouadhibou zurückgeschickt.
Aufklärungsflugzeuge für Afrika kosten nur 100 Euro
Tatsächlich ist „Guantanamito“ nur ein Teil der Abschreckungsmaßnahmen. Seit April 2006 wurde rund um Nouadhibou ein umfassendes Grenzsicherungssystem errichtet – von der Frontex, der „europäischen Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen“. Für ihre Kooperationsbereitschaft bekam die mauretanische Regierung zwei Kostbarkeiten zur Verfügung gestellt, ein Aufklärungsflugzeug und einen Hubschrauber.
Insbesondere Frankreich und Spanien betreiben eine verstärkte Einbindung der sogenannten Herkunfts- oder Transitländer von illegalen Migranten in die europäischen Einwanderungspolitik. Der Europäische Einwanderungspakt, den der französische Minister für Einwanderung, Integration, nationale Identität und Entwicklungshilfe Brice Hortefeux am 7. Juli seinen für Justiz und Inneres zuständigen EU-Kollegen unterbreitet hat, zielt in diese Richtung; ebenso der von Nicolas Sarkozy angeregte Entwurf einer Mittelmeer-Union: Diese sieht weitere Kooperationsabkommen vor sowie einen verstärkten Einsatz von Frontex.
Antonio Camacho, spanischer Staatssekretär für Sicherheitsfragen, ist den jüngsten Vorwürfen von Amnesty International entgegengetreten: Spanien habe „zu keiner Zeit Druck auf Mauretanien oder irgendeinen anderen souveränen Staat“ ausgeübt, um ihn zu politischen Anstrengungen in Hinblick auf das Migrationsproblem zu bewegen. Ungeachtet dessen hat seine Regierung laut El País vom 17. Juli 2008 den Senegal, Mauretanien und die Kapverden zu einem symbolischen Preis von 100 Euro mit je einem Aufklärungsflugzeug vom Typ C-212 ausgestattet.
Bei den Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen in Mauretanien löst der europäische Sicherheitswahn Empörung aus – während sich die illegalen Migranten von ihm nicht abschrecken lassen. „Jede Woche fährt hier mindestens ein Boot ab, das ist ein offenes Geheimnis“, sagt Ba Djibril. Er ist Journalist in Nouadhibou und Generalsekretär der humanitären NGO Apeah. „Die Migranten lassen sich hier nieder, um zu arbeiten, manchmal dauerhaft, aber immer mit dem Ziel, irgendwann nach Europa aufzubrechen.“
Die Geografin Armelle Choplin hingegen betont, dass es längst nicht alle 20 000 Ausländer, die in Nouadhibou leben, nach Europa zieht. Es sei allerdings schwierig, die Migranten in Kategorien einzuteilen: „Manch einer meint, für ihn sei Nouadhibou nur eine Durchgangsstation, und dann bleibt er doch hier hängen, während ein anderer womöglich nie über eine Überfahrt nach Europa nachgedacht hat und plötzlich beschließt, sein Glück zu versuchen, weil sich eine Gelegenheit bietet.“ Im Jahr 2008 sind es zwar weniger als die fünf Boote pro Nacht, die Choplin noch vor zwei Jahren gezählt hat. Aber die Kontrollmaßnahmen der Europäischen Union kommen ihr trotzdem nicht wie ein richtiges Hindernis vor, sondern „eher wie ein Filter“.
In Nouadhibou hört man ständig traurige Geschichten über illegale Überfahrten. Und natürlich gibt es Leute, die von Europa nichts mehr wissen wollen. Die Senegalesin Salimata beispielsweise. Sie handelt zwischen Nouadhibou und Dakar mit Trockenfisch. Wie andere, die aus dem Senegal, aus Mali oder Guinea kamen und seit Jahren in Nouadhibou leben, hat sie nicht vor, Mauretanien zu verlassen: „Mein Mann und mein neunjähriger Sohn sind auf dem Meer gestorben, wie sollte ich da noch fortgehen wollen? Er hat im Hafen gearbeitet. Eines Tages kam ein Mann und schlug ihm vor, gemeinsam mit ihm ein Flüchtlingsboot nach Spanien zu steuern. Er hatte gehört, die Spanier bräuchten Erntehelfer für die Obstlese. Ich habe versucht, ihn davon abzubringen, aber er ist gefahren und hat unseren einzigen Sohn mitgenommen! Er glaubte, das Rote Kreuz würde sich um ihn kümmern, er würde studieren können …“
Die meisten jedoch halten an ihrem Traum fest, trotz aller Schikanen, trotz der angespülten oder aus dem Wasser gefischten Leichen. Manche sind schon mehrfach gescheitert, von Schleppern betrogen oder von Wachen festgenommen worden. Sobald sie das nötige Geld – bis zu 1 000 Euro – beisammen haben, steigen sie in das nächste Boot.
Aïssata ist 27 Jahre alt und kommt aus Guinea. Sie hat mit ihrem Baby zwei Versuche hinter sich: „Das erste Mal war eine einzige Irrfahrt über das Meer. Wir waren fünf Tage unterwegs und sind schließlich irgendwie wieder zurückgekommen. Das zweite Mal hat uns die marokkanische Küstenwache erwischt.“ Auf die Frage, woher sie ihre Entschlossenheit nimmt, antwortet sie lachend: „Wissen Sie, wir haben die Wahl zwischen dem Elend und dem Tod.“
Wie viele Menschen im Meer umkommen, lässt sich nicht feststellen. Nach Angaben der spanischen Regierung sind im vergangenen Jahr 67 Leichen an den Küsten der Iberischen Halbinsel und der Kanarischen Inseln angespült worden. Die Zahl der tatsächlichen Todesopfer beträgt laut Schätzungen ein Vielfaches davon. Aber trotz all der Tragödien reichen die vereinzelten schönen Geschichten, um den Mythos von der leichten Überfahrt neuzubeleben. „Wer weg will, schaut auf die Erfahrungen derer, die Spanien erreicht haben, nicht auf die Ertrunkenen oder Festgenommenen“, sagt Ba Djibril. Immer neue Migranten strömen nach Nouadhibou, von einem Traum geleitet, der eine unwiderstehliche Anziehungskraft besitzt. Salimata weiß, wovon sie spricht: „Sie erzählen ihnen, dass man von hier aus sehen kann, wie sich die Lichter Europas im Wasser spiegeln.“
Aus dem Französischen von Grete Osterwald
Zoé Lamazou ist Journalistin.