Die falschen Touristen von Damaskus
Kriegsflüchtlinge aus dem Irak haben in Syrien keinen klaren Status von Theodor Gustavsberg
Teeverkäufer auf der Straße, eine Bäckerei, die samunis – irakische Brötchen – herstellt, und regionale Spezialitäten aus dem Irak in den Auslagen der Restaurants – in den Vororten von Damaskus wie Jaramana oder Saida Zainab gehört all das inzwischen zum Stadtbild. In manchen Cafés hört man sogar nur irakischen Dialekt. Taxen parken vor den Busbahnhöfen. Von hier geht es nach Bagdad, Mossul oder Basra. Die Lage im Irak mag sich verbessert haben, doch nach wie vor verlassen viele Iraker ihr Land.
Ein irakischer Kleinunternehmer, der heute in Schweden lebt, erzählt, wie er mit seiner Familie 2004 aus Mossul nach Qamichli, einer syrischen Kleinstadt an der irakischen Grenze, geflohen ist. „Dort sind wir sechs Monate geblieben. Ich bin damals ständig hin und her gefahren, um meine Baufirma zu Hause am Laufen zu halten. Anfang 2005, als sich die Lage besserte, gingen wir nach Mossul zurück. Im Februar 2006 blieb uns dann aber doch nichts anderes übrig, als das Land endgültig zu verlassen. Wir verkauften alles, was wir hatten, und zogen in die Nähe von Damaskus. Im Juli sind meine Frau und ich dann nach Schweden ausgewandert. Meine beiden ältesten Söhne hatten aber keinen Anspruch auf Familienzusammenführung. Zweimal haben sie versucht, mit Schleusern nach Schweden zu kommen. Es hat nicht geklappt, und sie haben jedes Mal viel Geld verloren.“
In Damaskus versuchen viele Flüchtlinge zwar, wieder ein normales Leben zu führen, aber sobald die Ersparnisse aufgebraucht sind, fangen die Probleme an. Abu Jaber, um die fünfzig und von Beruf Schneider, kann ein Lied davon singen. Ende Juli 2006 hat er Bagdad verlassen. Mit seiner Frau und den vier Kindern lebt er jetzt in einem Vorort von Damaskus. „Einer meiner Söhne hat als Fahrer im Ölministerium gearbeitet, deswegen bekam er nach 2003 dauernd Morddrohungen. In Bagdad war ich selbstständig, ich hatte eine Schneiderei mit zwanzig Nähmaschinen. Aber ich musste die Stadt Hals über Kopf verlassen, so dass ich vorher nur einen Teil meines Eigentums verkaufen konnte. Hier bin ich mit 4 000 Dollar angekommen. Eigentlich wollte ich nach Jordanien, weil ich da Verwandte habe. Aber in Syrien wird man als Flüchtling besser behandelt. Für unsere Wohnung zahlen wir im Monat 20 000 syrische Pfund (272 Euro). Eine Zeit lang war ich arbeitslos oder hatte nur kleine Gelegenheitsjobs, bis ich dann eine winzige Schneiderwerkstatt aufmachen konnte. Wir besitzen nur eine Nähmaschine, an der meine zwei Söhne und ich abwechselnd arbeiten. Zu dritt kommen wir gerade mal auf 500 Pfund (6,70 Euro) am Tag.“
Die Iraker profitieren zwar vom öffentlichen Bildungs- und Gesundheitswesen in Syrien, aber wie alle Ausländer brauchen sie eine Arbeitserlaubnis. Danach fragen die Arbeitgeber aber eher selten, weil sie dann mehr Lohn zahlen müssten. Deshalb sind viele Iraker in der Schattenwirtschaft beschäftigt, mit geringen und unsicheren Einkünften. Doch auch einheimischen Arbeitskräften geht es nicht anders.1 In Damaskus floriert seit einigen Jahren der Kleinhandel – dank des Einwanderungsstroms aus dem Irak und weil die Behörden nicht allzu streng kontrollieren.
Seit Beginn des Irakkriegs im Frühjahr 2003 sind nach Schätzungen der Internationalen Organisation für Migration (IOM)2 mehr als zwei unterwegs, und das UN-Flüchtlingskommissariat (UNHCR) geht davon aus, dass weitere zwei Millionen Iraker das Land verlassen haben.3
Syrien hat zwar weder die Genfer Konvention von 1951 noch die New Yorker Zusatzprotokolle (zur Regelung des internationalen Asylrechts) von 1967 unterzeichnet, doch die Regierung hat immer wieder große Flüchtlingsströme ins Land gelassen. Einige Gruppen, wie die Palästinenser, die nach 1948 kamen, haben sich hier auf Dauer eingerichtet. Andere, wie die Libanesen, die nach dem letzten Libanonkrieg von 2006 über die syrische Grenze flohen, wurden vorübergehend aufgenommen.4 Der aktuelle Zustrom von Flüchtlingen aus dem Irak wird zwar oft mit der palästinensischen Einwanderungswelle von vor 60 Jahren verglichen, doch er folgt anderen Regeln: Es gab nicht eine große Einwanderungswelle in ein oder zwei Etappen, sondern einen Strom, der mal stärker, mal schwächer floss. Für manche bedeutete es den endgültigen Abschied vom Irak, für andere eine Reise mit Rückfahrkarte. Ein weiterer wichtiger Unterschied zur Migration der Palästinenser besteht darin, dass die Iraker überwiegend Städter sind und deshalb auch hier in die Städte ziehen und nicht in Lager draußen auf dem Land.
Offizielle Zahlen über die in Syrien lebenden Iraker gibt es nicht. Das UNHCR geht von mehr als 200 000 Flüchtlingen aus.5 Allerdings sind viele bei der UN-Organisation gar nicht registriert. Die Fluchtsituationen sind sehr verschieden, dann gibt es eine Vielzahl von Reiserouten, und die Migranten bilden auch keine homogene Gruppe. Die Schätzungen schwanken daher zwischen einigen hunderttausend und 1,5 Millionen irakischen Flüchtlingen.6
Vom Umfang her und aufgrund ihrer regionalen Bedeutung handelt es sich hier unverkennbar – bei aller Uneinigkeit über die genauen Zahlen – um eine der größten Flüchtlingsbewegungen weltweit. Und die wichtigsten Aufnahmeländer sind die Nachbarstaaten Syrien und Jordanien. Im Jahr 2006 lagen den westlichen Industriestaaten lediglich 22 115 Asylanträge von Irakern vor; eine Ausnahme bildet nur Schweden, das in den vergangenen Jahren allein einige tausend Flüchtlinge aus dem Irak aufgenommen hat. Bereits in den 1990er-Jahren gingen hunderttausende Iraker ins jordanische Exil7 und zehntausende flüchteten nach Syrien.
Bis zum Oktober 2007 war die syrische Grenze für die Iraker offen. Es galten die gleichen, recht flexiblen Formalitäten für Einreise und Aufenthalt wie für alle Bürger arabischer Staaten. Doch dann wurde – in Absprache mit den irakischen Behörden – eine Visumpflicht eingeführt.
Da es in Syrien keine Asylgesetze gibt (außer für die Palästinenser), betrachtet man die Iraker nicht als Flüchtlinge: Für sie gelten die gleichen Einreise- und Aufenthaltsbestimmungen wie für alle anderen Ausländer. Doch das UN-Flüchtlingskommissariat bietet seinerseits den Irakern an, sich als Flüchtlinge registrieren zu lassen – dann erhalten sie einen Schutzbrief, der ein Jahr gültig ist und verlängert werden kann. Er soll sie vor der Ausweisung schützen und berechtigt auch zum Empfang von medizinischen und sozialen Hilfsleistungen.
Um diese Grundversorgung (finanzielle Hilfe, Nahrungsmittel, Matratzen, Decken usw.) kümmert sich vor allem der syrische Rote Halbmond, gemeinsam mit einigen örtlichen karitativen Einrichtungen, inzwischen sind auch einige ausländische Hilfsorganisationen beteiligt.
Die Einführung der Visumpflicht führte erstens zu einem deutlichen Rückgang der Einreisen aus dem Irak. Nur wenige Gruppen konnten die strengen Auflagen erfüllen: vor allem Geschäftsleute, Taxifahrer, Wissenschaftler und Studenten sowie Personen, die eine Familienzusammenführung beantragten. Außerdem kamen weniger Flüchtlinge, weil die Gewalt im Irak vergleichsweise weniger geworden ist.
Zweitens ging der Grenzverkehr zwischen den beiden Ländern erheblich zurück. Im Verhältnis zur Gesamtzahl der Flüchtlinge spielen hierbei die Rückkehrer eher eine untergeordnete Rolle. Seit der Einführung des Visums sind etwa 40 000 Iraker zurückgekehrt – weil das Leben in Syrien zu teuer wurde oder weil ihre Aufenthaltsgenehmigung nicht verlängert worden war.8 Eine Reihe von Umfragen zeigt, dass die „Verbesserung der Sicherheitslage“ im Irak dabei nur eine geringe Rolle spielte.9
Und drittens wirkte sich die neue Visumpflicht auf das Bleiberecht der Flüchtlinge aus. Bis Oktober 2007 konnten sie als Touristen im Irak leben. Bei Ablauf ihres Touristenvisums mussten sie das Land also nur kurz verlassen, um sich bei der Wiedereinreise ein neues ausstellen zu lassen. Dieses Verfahren zur Verlängerung des Aufenthalts funktioniert aber nicht mehr, seit das Visum vor der Einreise beantragt werden muss.
Was wird also aus den Flüchtlingen, die vor Oktober 2007 ins Land kamen? Die syrischen Behörden haben angekündigt, niemanden wegen Verstoßes gegen das Aufenthaltsrecht ausweisen zu wollen, und nach Auskunft des UNHCR wird diese Zusicherung bislang eingehalten. Einige Flüchtlinge besitzen zudem einen Ausländerausweis, der ein Jahr lang gültig ist und den man bekommt, wenn die Kinder in Syrien zur Schule gehen oder wenn man selbst oder ein Familienmitglied im Krankenhaus behandelt wird. De facto halten sich viele Iraker nach dem neuen Visumbestimmungen also illegal in Syrien auf. Viele sind durch diese Situation gefährdet.
Zu den Exilanten zählen auch Angehörige religiöser Minderheiten, die aus dem Irak geflohen sind, weil sie von islamischen Extremisten verfolgt werden, wie die Religionsgemeinschaften der Mandäer und chaldäische und nestorianische Christen. Nach den Statistiken des UNHCR sind die Flüchtlinge zwar mehrheitlich sunnitische Muslime. Allerdings sind die christlichen Minderheiten und die Mandäer mit 15 beziehungsweise 4 Prozent auffällig überrepräsentiert im Vergleich zu ihrem Bevölkerungsanteil im Irak. Diese Gruppen profitieren allerdings von gut funktionierenden Netzwerken. Auch die alte, ziemlich einflussreiche Diaspora in den westlichen Ländern unterstützt die Exilanten.
Auch wenn Syrien für einige tausend Iraker nur eine Zwischenstation ist auf dem Weg nach Europa, die USA oder Australien, so bietet es doch den meisten Flüchtlingen eine Zuflucht. Hier versuchen sie zunächst einmal, wieder ein normales Leben zu führen. Es gibt Auswanderungsprogramme – das UNHCR hat 2007 etwa 7 800 Irakern Angebote vermittelt, vor allem in den Aufnahmeländern USA, Australien, Kanada und Schweden. Aber nur 833 Flüchtlinge haben 2007 tatsächlich die Region verlassen; 2008 waren es knapp 1 500.10
Ein Iraker in Damaskus sieht das so: „Syrien hat uns aufgenommen. Wir konnten ein neues Leben anfangen, unsere Kinder in die Schule schicken, und wir mussten nicht fürchten, ausgewiesen zu werden. Aber nachdem wir im Irak alles verloren haben und die westlichen Länder uns nicht aufnehmen wollen – wie soll es hier jetzt mit uns weitergehen?“
Aus dem Französischen von Edgar Peinelt
Theodor Gustavsberg forscht am Centre national de la recherche scientifique (CNRS), Paris.