Pakistans Elend
Der neue Präsident Asif Ali Zardari steuert im Zickzack von Jean-Luc Racine
Der Amtsantritt des neuen pakistanischen Präsidenten Asif Ali Zardari am 9. September war durch zwei signifikante Ereignisse eingerahmt. Kurz zuvor, am 3. September, waren – erstmals seit Beginn des „Antiterrorkriegs“ auf afghanischem Boden – US-Bodentruppen mit Hubschraubern zu einer Kommandoaktion in Südwasiristan abgesetzt worden, einer der sieben Verwaltungszonen der pakistanischen Stammesgebiete (Fata).1 Und am 20. September starben im Stadtzentrum von Islamabad mehr als fünfzig Menschen bei einem Selbstmordanschlag auf das Marriott-Hotel, das von Mitgliedern der pakistanischen Oberschicht und ausländischen Besucher frequentiert wird. Der spektakuläre Anschlag war der letzte in einer langen Reihe von Terrorakten, die im Juli 2007 nach der blutigen Erstürmung der Roten Moschee von Islamabad begonnen hatte. In diese Reihe gehört auch das Attentat vom 6. September 2008, dem Tag der Präsidentenwahl im Parlament, bei dem in Peschawar 25 Menschen umkamen.
Der neue zivile Präsident steht unter einem enormen Handlungsdruck: Er soll den Erwartungen der USA gerecht werden, sich gegen die Macht der Armee behaupten und die neue Terrorwelle und die Aufstände in den Stammesgebieten beenden. Das lässt ihm wenig Handlungsspielraum, um die drei großen Probleme des Landes anzugehen: die Stabilisierung der Demokratie nach langer Militärherrschaft; den Kampf gegen Extremismus und Terrorismus (was eine Neubestimmung der traditionellen geopolitischen Ziele und der Politik gegenüber Indien und Afghanistan impliziert); die Bewältigung der Wirtschaftskrise.
Seit dem tödlichen Anschlag auf seine Ehefrau Benazir Bhutto hat Zardari bemerkenswertes politisches Geschick bewiesen. Sein Ruf war nicht der beste: Der ehemalige Umweltminister hatte elf Jahre im Gefängnis verbracht, wobei die Korruptionsverfahren gegen ihn nie mit einem rechtskräftigen Urteil abgeschlossen wurden.2 Nach Bhuttos Tod setzte er innerhalb der Pakistanischen Volkspartei (PPP) die Wahl seines 19-jährigen Sohns Bilawal zum neuen Vorsitzenden durch. Tatsächlich jedoch lag die Führung der stärksten Partei des Landes seit den Parlamentswahlen vom Februar 2008 in den Händen des „Ko-Vorsitzenden“ Asif Ali Zardari.3
Im Parlament hat Zardaris PPP keine Mehrheit. Deshalb bemühte er sich um ein Bündnis mit Nawaz Sharif und dessen Muslimliga (PML-N), der zweitstärksten Kraft, und mit der Awami National Party (ANP), die in den Paschtunengebieten in der Nordwestgrenzprovinz (NFWP) die Mehrheit gewonnen hatte. Er schafft es sogar, den ebenso dämonischen wie opportunistischen Chef der Jamiat Ulema-e-Islam (JUI) einzubinden. Fazlur Rehman pflegte einst guten Beziehungen zu den Taliban, hat aber inzwischen mit dem neuen islamistischen Wahlbündnis Muttahida Majlis-e-Amal (MMA) gebrochen, das der Geheimdienst unter General Pervez Musharraf 2002 aus der Taufe gehoben hatte.
In der eigenen Partei musste Zardari erst einige gewichtige Gegner bezwingen, um die Wahl von Yousaf Raza Gilani zum Ministerpräsidenten und Fehmida Mirza zur Parlamentspräsidentin (der ersten Frau auf diesem Posten) durchzusetzen. Er überstand auch die Turbulenzen um die Wiedereinsetzung der entlassenen Richter. Der für seine unabhängige Haltung bekannte Präsident des Gerichtshofs Iftikhar Muhammad Chaudhry kehrte nicht in sein Amt zurück, was allerdings die Muslimliga veranlasste, aus der Koalition auszutreten.
Nachdem sich Zardari die Unterstützung verschiedener Gruppen gesichert hatte, trat er an, das von Pervez Musharraf geräumte Amt des Staatspräsidenten zu übernehmen – und brach damit ein Versprechen gegenüber seinen Bündnispartnern von der Muslimliga. Am 6. September wählten ihn die Abgeordneten des Bundesparlaments und der Regionalparlamente mit 75 Prozent der Stimmen zum Staatspräsidenten.
Die entscheidende Frage ist jetzt, ob der gewiefte Taktiker Zardari zum Staatsmann werden kann. Der Staat Pakistan war seit seiner Gründung und dem ersten Kaschmirkrieg (1947–1948) stets darauf bedacht, nicht von Indien und Afghanistan in die Zange genommen zu werden. Deshalb ließ Islamabad an diesen beiden Fronten immer wieder Guerillakämpfer jenseits der Landesgrenzen agieren, die vom Geheimdienst ISI (Inter Services Intelligence) gesteuert wurden.
Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 begriff General Musharraf, dass er sich dem von George W. Bush ausgerufenen „Krieg gegen den Terrorismus“ anschließen musste. Seine Haltung war aber nicht eindeutig. In Kaschmir wurden die Aktivitäten der Dschihadisten eingedämmt, ihre Organisationen aber nicht aufgelöst. Und in Pakistan ging man eher gegen das Umfeld von al-Qaida vor als gegen die afghanischen Taliban, die sich in die pakistanischen Stammesgebiete und in die Provinz Belutschistan zurückgezogen hatten.
Auch diese halbherzigen Maßnahmen genügten jedoch, um seit Ende 2003 einige der islamistischen Kämpfer gegen das Regime aufzubringen. Dieser Konflikt verschärfte sich, als die Armee erstmals in die Stammesgebiete einmarschierte und parallel dazu ein politischer Dialog mit Indien aufgenommen wurde.
Die Militäroperationen blieben so erfolglos wie das Bemühen, in separaten Verhandlungen einen Keil zwischen die pakistanischen Rebellen und die afghanischen Taliban und Al-Qaida-Netzwerke zu treiben. Die Stammesführer und die Vertreter des politischen Islam verloren bald ihren Einfluss an die jüngeren Milizenführer, die tausende von Kämpfern aufbieten konnten. Die verurteilten die Aktionen der pakistanischen Armee ebenso wie den Einsatz von US-Drohnen, die seit 2006 auf vermeintlich terroristische Ziele gelenkt wurden und dabei immer mehr Zivilisten trafen.4
Als Zardari im September 2008 Präsident wurde, war die Lage bereits außer Kontrolle. In Afghanistan kann die von der Nato geführte Internationale Sicherheitstruppe Isaf die Rückkehr der Taliban nicht verhindern, und auch in Pakistan wächst der Einfluss der Rebellen. Von Südwasiristan bis Bajaur hat sich der Aufstand über alle Bezirke der Stammesgebiete ausgebreitet, und in den Dörfern des Swat-Tals setzen die Milizen des Maulana Fazlullah die Scharia durch. Zugleich steigt die Zahl der Selbstmordanschläge in pakistanischen Städten. Seit Juli 2007 starben dabei fast 1 200 Menschen.
Die Regierung in Washington, die lange an Präsident Musharraf festgehalten hatte, verfolgt mit großer Unruhe den Versuch der Regierung Gilani, mit den Aufständischen ins Gespräch zu kommen. Diese vor allem von der paschtunischen Awami National Party betriebene Initiative blieb bislang jedoch ohne große Resultate, und der ausgerufene Waffenstillstand scheint sogar das Erstarken der islamistischen Kräfte zu begünstigen.
Riskante Demonstration der Entschlossenheit
Und so beschloss die US-Militärführung, die das halbherzige Engagement der pakistanischen Armee seit langem bemängelt hatte, am 3. September ihren Schlag gegen die Rebellen auf pakistanischem Boden. Die Aktion sollte Entschlossenheit demonstrieren, ist aber hoch riskant, zumal Islamabad schon vor Monaten einen neuen Kurs eingeschlagen hat. Seitdem konnten die pakistanischen Streitkräfte im Swat-Tal durchaus Erfolge verzeichnen, und ihre Bodenoperationen und Luftangriffe im Bezirk Bajaur waren so massiv, dass rund 250 000 Menschen vor den Kampfhandlungen fliehen mussten. Zugleich hatten die regierungstreuen Stammesführer mit der Aufstellung von Anti-Taliban-Milizen begonnen.
Die Regierung Bush wiederum hat am Ende ihrer Amtszeit schon Elemente der von Barack Obama empfohlenen Strategie übernommen. Sie zieht Truppen aus dem Irak ab, um die Streitkräfte in Afghanistan verstärken zu können, und ordnet, wenn nötig, auch Operationen auf pakistanischem Boden an. Das könnte auf eine stille Übereinkunft zwischen dem US-Oberbefehlshaber Admiral Michael Mullen und dem pakistanischen Armeechef General Ashfaq Parvez Kayani hindeuten. Öffentlich protestierte Kayani allerdings pflichtgemäß gegen die Verletzung der pakistanischen Souveränität; das pakistanische Militär ließ sich im Grenzgebiet sogar auf ein paar Scharmützel mit US-Kommandoeinheiten ein. Und Präsident Zardari erklärte am 25. September vor der UN-Vollversammlung: „Verletzungen unserer nationalen Souveränität sind kein Beitrag zur Überwindung der terroristischen Bedrohung – im Gegenteil: Sie könnten sie verschärfen.“5
In der pakistanischen Öffentlichkeit haben die Terroranschläge, die Offensive der Armee und der Einsatz von US-Drohnen eine heftige Diskussion ausgelöst. Die Staatsführung will demonstrieren, dass der Kampf gegen den Terrorismus von Pakistanern für Pakistan geführt wird und keinesfalls ein amerikanisches Unternehmen ist.
In den Beziehungen zu Indien setzt Zardari auf die Fortführung des Dialogs. In dem Kommuniqué nach dem ersten Treffen mit Indiens Ministerpräsident Manmohan Singh am 24. September wurde die Wiederaufnahme von Gesprächen, die Eröffnung weiterer Grenzübergänge zwischen den beiden Teilen Kaschmirs und die Stärkung der bilateralen Beziehungen angekündigt. Das bedeutet eine Entspannung in den Beziehungen zwischen Hindus und Muslimen im indischen Teil Kaschmirs, die sich im Laufe des Sommers deutlich verschlechtert hatten. Es bedeutet aber auch das Ende der Eiszeit zwischen beiden Ländern, die der Anschlag auf die indische Botschaft in Kabul am 7. Juli 2008 ausgelöst hatte und hinter dem – nach US-Quellen – der pakistanische Geheimdienst ISI steckte. Einige Probleme sind allerdings nicht vom Tisch. Weiterhin ist der künftige Status von Kaschmir ebenso ungeklärt wie die Frage, wer es schafft, den ISI zu disziplinieren. Die Entlassung seines Chefs General Nadeem Taj nach nur einem Jahr könnte signalisieren, dass der ISI künftig einen weniger doppeldeutigen Kurs verfolgen wird.
Dennoch bleibt ungewiss, ob sich eine neue Politik, die ein gutes Verhältnis zu Indien und Afghanistan höher bewertet als die alte Forderung der Militärs nach „strategischer Tiefe“, durchsetzen kann.6 Schließlich hat die langjährige Praxis der Destabilisierung in der Region dem Militär geholfen, seine starke Stellung innerhalb des Staatsapparats zu behaupten.
Nun hat der afghanische Präsident Hamid Karsai laut Berichten mit Unterstützung aus London und mithilfe saudischer Vermittler Geheimverhandlungen mit den Taliban aufgenommen. Dies schafft allerdings neue Voraussetzungen, die Präsident Zardari zum Reagieren zwingen. Er muss in Abstimmung mit General Kayani eine klare Linie für das Vorgehen in den Stammesgebieten entwickeln.
Dabei gilt es vor allem, die einzelnen Akteure zu identifizieren und auseinanderzuhalten. In diesem Punkt hat sich Rehman Malik, der Sicherheitsberater des Regierungschefs, von den alten Standpunkten abgesetzt. Er erklärte am 1. September, die pakistanischen und afghanischen Taliban hielten enge Verbindungen zu al-Qaida. Auch die Gruppe Tehrik-e-Taliban Pakistan sei eine „Filiale von al-Qaida“. Darf man angesichts dessen mit den pakistanischen Taliban verhandeln?
Ein weiterer Faktor ist der Wechsel in der Führung des US-amerikanischen Central Command7 , das für Afghanistan und Pakistan zuständig ist. General David Petraeus, der am 31. Oktober Chef des Centcom wurde, versucht nach dem Modell der Abwerbung sunnitischer Milizen im Irak einige der afghanischen Taliban aus dem Al-Qaida-Netzwerk herauszulösen.
Damit stellen sich neue Fragen. Welchen Preis soll Pakistan für solche Bündnisse zahlen? Ist Islamabad bereit, eine zunehmende Islamisierung der Stammesgebiete zu akzeptieren und seine Pläne der Modernisierung und Normalisierung der dort herrschenden archaischen Verhältnisse aufzugeben? In den Stammesgebieten und anderen Landesteilen sterben täglich Menschen durch Selbstmordanschläge oder in Kämpfen zwischen Rebellen und der Armee. Und die US-Luftwaffe schlägt immer noch mit ihren Drohnen zu.
Auch die sozialen und wirtschaftlichen Probleme stellen Präsident Zardari vor gewaltige Aufgaben, gerade auch in den Stammesgebieten. Die USA haben weitere Finanzhilfen zugesagt, aber das wird Pakistan nicht retten: Das Land leidet unter den steigenden Rohölpreisen und dem Rückgang der Auslandsinvestitionen, der Kurs der Rupie verfällt, es droht eine Liquiditätskrise. Die Währungsreserven der Zentralbank betragen weniger als 5 Milliarden US-Dollar. Mitten in der globalen Finanzkrise bemüht sich Islamabad bei befreundeten Staaten (Saudi-Arabien, Iran, China) und internationalen Organisationen um neue Kredite.
Präsident Zardari hat von Musharraf eine extrem liberalisierte Wirtschaft übernommen. Dennoch will er im Parlament eine Reihe von Reformprogrammen in den Bereichen Landwirtschaft, Energie und Sozialversorgung vorlegen. Wie diese Vorhaben finanziert werden sollen, hat er noch nicht verraten. 2007 wuchs Pakistans Wirtschaft noch um 7 Prozent, dies dürfte sich für 2008 halbiert haben. Auch in der Wirtschaftspolitik steht der neue Präsident also vor gewaltigen Problemen.
Aus dem Französischen von Edgar Peinelt
Jean-Luc Racine leitet das Institut für Indien- und Südasien-Studien am Nationalen Forschungszentrum CNRS, Herausgeber mit Soofia Mumtaz und Imran Ali, „Pakistan. The Contours of State and Society“, Karatschi (Oxford University Press) 2002.