14.11.2008

China schafft Tatsachen

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China schafft Tatsachen

von Philip S. Golub

Der wirtschaftliche Aufstieg, den China derzeit erlebt, gleicht dem der USA vor über einem Jahrhundert. „In beiden Fällen spricht man von starken Wachstumsraten und einem hohen Beitrag zur Steigerung des weltweiten Bruttoinlandsprodukts (Welt-BIP)“, schreibt Professor Angang Hu von der Tsinghua-Universität in Peking. Wie im Fall der USA, heißt es weiter, werde dieser Wirtschaftsboom „nicht nur China selbst verändern, sondern die Welt als ganze umgestalten“.1

Einige Analogien sind in der Tat frappierend: Die ökonomische und territoriale Expansion der USA in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und die intensive Industrialisierungsphase nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg (1861–1865) bezogen ihren Schwung aus dem Zufluss internationaler Investitionen, die in mehreren kräftigen Schüben erfolgten. Diese Investitionen leisteten einen wesentlichen Beitrag zur Bildung von Kapital, zum Ausbau der Verkehrswege, zur Erschließung und Besiedelung von Gebieten sowie zum Aufbau eines integrierten kontinentalen Markts.2 Ohne diese transnationalen Investitionsströme – insbesondere, wenngleich nicht ausschließlich britischen Ursprungs – wäre der Aufstieg der USA weniger rasant und weniger kraftvoll verlaufen.

Wir haben es also mit einem seltsamen Paradoxon zu tun. Der Kapitalismus neigt seinem Wesen nach zur Globalität – seine Logik hebelt die Aufteilung der Welt in Nationalstaaten aus. Zugleich tragen Investitionen, die bestimmte Regionen bevorzugen, am Ende dazu bei, nationale Großmächte aufzubauen, manchmal sogar Hegemonialmächte.

Allerdings bestehen grundlegende Unterschiede zwischen der allmählichen Integration der Schwellenländer in die Weltwirtschaft gegen Ende des 20. Jahrhunderts und dem früheren System der zwangsweisen Integration von Ländern des Südens, das zu dem starken Nord-Süd-Gefälle und den dauerhaften Ungleichheiten im modernen internationalen System führte.

Das historische Bild vom Stillstand Asiens ist falsch

Die heutige Einbindung der Schwellenregionen in den globalisierten Kapitalismus hat die Nutzung einheimischer Wachstumsfaktoren vorangetrieben. Trotz ihrer ökonomischen Abhängigkeit von den drei größten Volkswirtschaften der Welt (der Triade USA, Europa, Japan) werden Länder wie China, Indien oder Brasilien zunehmend autonom. So ist der Anteil des innerregionalen Handels in Ostasien von 40 Prozent im Jahr 1980 bis 1995 auf 50 Prozent und bis heute auf 60 Prozent gestiegen. Diese Regionalisierung der Handelsströme macht deutlich, dass die Abhängigkeit vom US-Markt (single market dependency), die in den 1980er- und 1990er-Jahren stark war, immer geringer wird.

Erinnern wir uns an Hegels berühmten Satz aus den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (1831): „Die Weltgeschichte geht von Osten nach Westen, denn Europa ist schlechthin das Ende der Weltgeschichte, Asien der Anfang.“ Das sagt genug über die teleologische Vorstellungswelt, die seit dem 19. Jahrhundert den Ton angab. Die westliche Moderne wurde – und wird bis heute – oft als das krönende Ergebnis einer ansteigenden historischen Bewegung aufgefasst. Dem entsprechend haben die Sozialwissenschaften eine „Einzigartigkeit des Abendlands“3 postuliert, die als Triebfeder für dessen Aufschwung, Expansion und Vorherrschaft galt. Der westliche Blickwinkel hatte für den angeblichen Stillstand Asiens (und der übrigen außereuropäischen Welt) im 19. Jahrhundert zwei Erklärungen parat: deren Beschränkung auf ein verzaubertes religiöses Universum, das der instrumentellen Vernunft der Moderne nicht zugänglich sei, und ihre primitive, vorkapitalistische, namentlich „asiatische Produktionsweise“.

Diese Vorstellungen haben sich als grundlegend falsch erwiesen. Nach heutigen Erkenntnissen war die Entwicklung des Lebensstandards, der Wissenschaften, Marktinstitutionen und Wirtschaftsaktivitäten in den östlichen und den westlichen Teilen Eurasiens vor 1820 gar nicht so unterschiedlich; die nichteuropäischen Wirtschaftswelten waren dabei schon wegen ihres demografischen Gewichts die wichtigeren; um China und Indien (wie auch das Osmanische Reich) herum existierten enge regionale Handelsnetze.4 Die internationalen Hierarchien, dank derer die Welt dauerhaft in herrschende Zentren und abhängige Peripherien zerfiel, haben sich erst unter dem Druck der ökonomischen und territorialen Expansion des Westens herausgebildet.

Vor diesem Hintergrund versteht man den historischen Charakter des Ringens um ein neues Gleichgewicht im Umfeld der großen Schwellenregionen Ostasien, Lateinamerika und Südasien. Lange an den Rand gedrängt, sind diese Regionen, wie François Perroux es nennt, „aktive Wirtschaftseinheiten“ geworden oder auf dem besten Weg, es zu werden: Einheiten, deren Programm nicht nur ihrer jeweiligen Umgebung angepasst ist, sondern die ihrerseits in der Lage sind, die Umgebung ihrem Programm anzupassen.5 Dieser Wandel ist der weitreichendste seit der Industriellen Revolution in Europa zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Er wirft die Hierarchien um, die aus der ökonomischen und territorialen Expansion des Westens entstanden sind, und bedeutet eine Rückkehr, freilich unter neuen historischen Bedingungen, zu der polyzentrischen internationalen Konstellation von vor 1820.

Eines der Hauptelemente bei diesem Umwälzungsprozess ist der kontinuierliche Machtzuwachs Asiens. Im Kielwasser des Vorreiters Japan und im Gefolge der Schwellenländer Nordost- und Südostasiens, die den Absprung aus der „Dritten Welt“ innerhalb von zwei Generationen geschafft haben, preschen nun China und Indien mit einer erstaunlichen Expansionsdynamik vor. Zwischen 1980 und 2006 hat sich das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf (kaufkraftbereinigt) in China um den Faktor 16 vervielfacht, in Indien verfünffacht. Im gleichen Zeitraum ist ihr jeweiliger Anteil am Welt-BIP von 3,2 Prozent auf 13,9 Prozent bzw. von 3,3 Prozent auf 6,17 Prozent gestiegen. Der Anteil Asiens insgesamt liegt heute bei 34 Prozent und wird für das Jahr 2020 auf etwa 45 Prozent geschätzt.6

Der Aufstieg der Schwellenregionen hat direkte Auswirkungen auf die Funktionsweise der Weltwirtschaft. Er führt zu einer Umstrukturierung der internationalen Arbeitsteilung; zum Preisverfall bei den Massenerzeugnissen, der auf ein immer breiteres Spektrum von Waren durchschlägt; zu einer Inflation der Rohstoffpreise; und zur Umverteilung des Kapitals zugunsten der Regionen, die ungeheure Überschüsse akkumulieren. Sie verfügen über Geldreserven, die heute auf über 3 000 Milliarden Dollar gegenüber 800 Milliarden im Jahr 2000 geschätzt werden, das entspricht 70 Prozent der Weltreserven.

So „verteilt sich die Finanzmacht außerhalb der USA“7 , dem Herzen der Weltfinanz seit 1919. Das amerikanische Finanzmodell steckt in einer nie dagewesenen Krise. Die großen Finanzinstitute der Wall Street (Citigroup, Morgan Stanley usw.), die britische Großbank Barclays und die Schweizer UBS mussten sich hilfesuchend an die Staatsfonds Chinas, Singapurs und der Golfstaaten wenden, um ihr Überleben zu sichern. Zwischen Juni 2007 und Juni 2008 sind aus fern- und nahöstlichen Staatsfonds 46 Milliarden Dollar an westlich gelistete Geldinstitute geflossen, die damit ein Drittel ihres Refinanzierungsbedarfs decken konnten.8

Strukturwandel ist ein seltenes Phänomen in der Geschichte. Mit welchen Reibungen der begonnene Wandel des ökonomischen Gefüges einhergehen wird, ist angesichts der enormen und vielfältigen inneren und äußeren Herausforderungen, die mit der rasanten Entwicklung und Modernisierung der bevölkerungsreichsten Regionen der Welt verbunden sind, nicht vorauszusehen. Aber er scheint irreversibel zu sein (sofern es nicht doch zu einem – ebenso gigantischen wie unwahrscheinlichen – exogenen oder endogenen Schock kommt). Gewiss, die systematischen Dezentrierungen der Vergangenheit waren im Allgemeinen gleichbedeutend mit internationalen Krisen: Es bedurfte der Napoleonischen Kriege, um der Pax Britannica den Weg zu bereiten; und erst nach zwei Weltkriegen wurden die USA zum neuen Zentrum der Weltwirtschaft. Aber wir dürfen hoffen, dass die Mächtigen der Welt diesmal den Frieden bewahren. Im Gegensatz zu 1815 oder 1914 geht es nicht um die Verlagerung von einem Machtzentrum zu einem anderen, sondern um die Verteilung der Macht auf mehrere und unterschiedliche Pole.

In einer Welt, die geprägt ist von wechselseitigen Abhängigkeiten und deren globale Probleme sich längst nicht mehr auf nationaler oder regionaler Ebene lösen lassen, müssten sich diese Gemeinschaften in Richtung einer verstärkten Zusammenarbeit bewegen. Das sollte zumindest der Maßstab aller Dinge sein. Die Tatsache, dass China sich entschlossen hat, mit seinen Staatsfonds zur Überwindung der Finanzkrise an der Wall Street beizutragen, hat eine politische Bedeutung: Peking bemüht sich um die direkte Verflechtung mit einer Schlüsselkomponente der Weltmacht USA. Der Westen hat sich daran gewöhnt, das Zentrum der Weltwirtschaft zu sein. Er wird sich wohl oder übel umgewöhnen, sich auf eine neue Welt einstellen müssen, die künftig im Plural geschrieben wird.

Fußnoten: 1 Angang Hu, Vortrag am Royal Institute for International Affairs, Chatham House, London, 18. April 2007. 2 Siehe L. E. Davis und R. C. Cull, „International Capital Markets and American Economic Growth, 1820–1914“, Cambridge University Press 1994. 3 Jack Goody, „The East in the West“, Cambridge University Press 1996. 4 Siehe Kenneth Pomeranz, „The Great Divergence“, Princeton University Press 2000; Jack Goody, siehe Anm. 3; Christopher Bayly, „Die Geburt der modernen Welt. Eine Globalgeschichte 1780–1914“, Frankfurt am Main (Campus Verlag) 2006. 5 François Perroux, „Pouvoir et économie généralisée“, Paris (Presses Universitaires de France) 1994; dt. „Wirtschaft und Macht“, übersetzt von Carl Eugsten, Bern (Haupt) 1983. 6 Schätzungen anhand der Datenbanken der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds (IWF). Siehe www.econ stats.com. 7 McKinsey Global Institute, „Fourth Annual Report on Global Capital Markets“, Executive Summary, Januar 2008, S. 7. 8 Siehe Laurent Quignon, „Financial Crises, Banks in the Mid-stream“, in: Conjoncture, BNP Parisbas, Mai 2008; sowie Georges Soros, „The Worst Market Crises in 60 Years“, in: Financial Times, London, 22. Januar 2008.

Aus dem Französischen von Grete Osterwald

Philip S. Golub lehrt am Institut d’études européennes an der Universität Paris VIII.

Le Monde diplomatique vom 14.11.2008, von Philip S. Golub