Lateinamerika geht eigene Wege
Er verstehe das nicht. Wenn die 4. Flotte der US-Navy nach Lateinamerika kommen könne, warum dann nicht auch eine russische Flotte? So reagierte kürzlich der ecuadorianische Präsident Rafael Correa auf die Proteste, die in den USA über die angekündigten gemeinsamen Manöver der venezolanischen und der russischen Kriegsflotte laut wurden. Correa bezog sich auf die Ankündigung Washingtons vom April dieses Jahres, dass man die 4. US-Flotte mit vielseitig einsetzbaren Seal-Spezialeinheiten (Seal ist die Abkürzung für Sea, Air, Land) reaktivieren werde. Diese seit 1950 eigentlich aufgelöste Flotte soll in der Karibik und in zentral- und südamerikanischen Gewässern unter anderem den Drogenhandel, den sogenannten Narcoterrorismus bekämpfen. Nach Aussage des US-Admirals James Stevenson ist diese „Botschaft nicht nur an Venezuela, sondern an die ganze Region“ gerichtet.1 Die Reaktion in Lateinamerika war alles andere als begeistert.
Brasiliens Präsident Luiz Inácio Lula da Silva, der häufig als „Anti-Chávez“ bezeichnet wird, sagte im Zusammenhang mit der globalen Finanzkrise: „Die Zeiten sind vorbei, in denen wir, die aufstrebenden Volkswirtschaften, vom Internationalen Währungsfonds abhängig waren. … Die Zeit ist vorbei, in der Lateinamerika keine eigene Stimme hatte.“2
Eine dritte, nicht nur symbolische Äußerung: Am 11. September, dem 35. Jahrestag des Staatsstreichs gegen den chilenischen Präsidenten Salvador Allende, erklärten Bolivien und Venezuela die Botschafter der USA in La Paz und Caracas zur Persona non grata, mit der Begründung, Washington plane eine Verschwörung gegen ihre Regierungen.
Weniger Beachtung fand, dass tags darauf Manuel Zelaya, der Staatschef von Honduras, aus Solidarität mit Bolivien die Übergabe des Empfehlungsschreibens des neuen US-Botschafters in Tegucigalpa „aufschob“. Nachdem Honduras die USA und die Weltbank vergeblich um Unterstützung gebeten hatte, war das Land der Bolivarischen Alternative für Amerika (Alba) beigetreten, einem auf Anregung von Hugo Chávez entstandenen geopolitischen Bündnis, dem Bolivien, Kuba, Nicaragua und Venezuela angehören. Mit Costa Rica unterzeichnete ein weiteres zentralamerikanisches Land als 19. Mitglied das Petrocaribe-Abkommen3 und erhält damit ebenfalls venezolanisches Erdöl zum Vorzugspreis.
Wenn Venezuela russische Suchoi-Abfangjäger und Kalaschnikow-Sturmgewehre einkauft oder zwei strategische Bomber vom Typ Tu-160 aus Moskau bei sich landen lässt, will man nicht etwa einen Angriff auf Florida vorbereiten, sondern auf eine globale geopolitische Neuordnung hinwirken. In dieselbe Richtung geht der Beschluss Brasiliens, mithilfe französischer Technologie vier konventionelle U-Boote, ein Atom-U-Boot und Kampfhubschrauber zu bauen. Auch das zeugt von dem Wunsch, sich gegen die USA abzugrenzen.4
Auch innerhalb des Kontinents entwickelt Brasilien neue Beziehungen. Venezuela und Bolivien bauen Verbindungen nach China, in den Iran und nach Russland auf. In beiden Ländern gelang dem russischen Energiekonzern Gazprom ein spektakulärer Einstieg. Immer öfter kommen auch bilaterale Abkommen zustande: zwischen Argentinien, Brasilien, Bolivien, Kuba, Nicaragua, Venezuela, Paraguay und Ecuador.
Zwischen den Ländern Lateinamerikas gibt es nach wie vor Differenzen und Streitpunkte. Doch in entscheidenden Augenblicken bilden sie eine gemeinsame Front. Das zeigte sich zum Beispiel in der Reaktion auf die Krise in Bolivien, wo die Präfekten der östlichen Provinzen den Präsidenten Morales zu entmachten versuchten.6
Unter dem Eindruck, dass die Auseinandersetzung um Bolivien für die Zukunft der Linken Lateinamerikas und darüber hinaus für seine eigene Souveränität entscheidend sein würde, forderte Venezuela, gefolgt von Brasilien, eine Sitzung der Union südamerikanischer Nationen (Unasur), einer bis dato mehr symbolisch als wirklich aktiven Organisation. In Abwesenheit der USA erklärten die Länder der Region ihre „vollständige und entschiedene“ Unterstützung für Evo Morales, der nicht zum Opfer eines „zivilen Staatsstreichs“ werden dürfe.
Derzeit wird die Einrichtung eines südamerikanischen Verteidigungsrats diskutiert, der Konflikte verhindern oder lösen soll. Das Konzept, das 2003 von Chávez vorgetragen und später von Lula da Silva aufgegriffen wurde, stößt bei Kolumbien allerdings auf Ablehnung. Das große Projekt der USA zur Schaffung einer gesamtamerikanischen Freihandelszone (FTAA, auf Spanisch Alca) konnte sich nicht durchsetzen.
Lateinamerika hat von den hohen Preisen seiner Rohstoffe an aufstrebenden Märkten wie Indien und China profitiert. Doch jetzt bekommt es die Auswirkungen der globalen Finanzkrise zu spüren, die sich in Ländern wie Mexiko, Chile, Brasilien und Peru bereits heftig bemerkbar machen.7
Bereits 2006 wurde die Gründung einer „alternativen“ Bank des Südens angeregt. Sie soll die Finanzreserven des Kontinents nutzen, um die Abhängigkeit von IWF und Weltbank zu beenden, und zugleich die Entwicklung der Mitgliedsländer fördern. Damals zögerten Brasilien und Argentinien noch, weil sie eine Form der Integration anstrebten, die ihre wirtschaftliche Vormachtstellung in der Region sichern sollte. Doch angesichts der Bedrohung durch die Krise hat Lula da Silva am 1. Oktober bei einem Treffen mit seinen Amtskollegen Chávez, Correa und Morales in Manaus auf die „Radikalen“ gehört und die Gründung dieser neuen Institution befürwortet. Maurice Lemoine
Aus dem Französischen von Sabine Jainski