Die Welt und der Westen
Nach dem Washington Consensus eine multipolare Ordnung von Alain Gresh
Hier einige beliebig herausgefischte Meldungen aus dem Sommer 2008, vor dem verheerenden Sturm in der Finanzwelt: Mittlerweile gibt es mehr chinesische als amerikanische Online-Nutzer und der Anteil der USA am weltweiten Internetverkehr liegt nur noch bei 25 Prozent – vor zehn Jahren lag er noch bei über 50 Prozent; die Wiederaufnahme der Doha-Runde scheiterte, vor allem weil sich Indien und China weigerten, ihre verarmten Bauern den Gesetzen des Freihandels auszuliefern; ungeachtet der halbherzigen Proteste aus Washington verteidigte Russland im Georgien-Konflikt seine nationalen Interessen im Kaukasus.
Solche Nachrichten – und man könnte noch etliche hinzufügen – künden bereits von einer Neuordnung der internationalen Beziehungen: vom Ende der Vorherrschaft des Westens, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihren Anfang nahm und deren Niedergang durch die aktuelle Finanzkrise nur beschleunigt wird. „Das Ende der Arroganz“ titelte der Spiegel am 29. September und im Untertitel: „Die Bankenkrise erschüttert die ökonomische und politische Vormachtstellung der USA“. Es gehört zur Ironie der Geschichte, dass dieser Einschnitt fast zwei Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erfolgt und nach dem Triumphzug der freien Marktwirtschaft.
Prophezeiungen sind immer eine heikle Sache. 1983, zwei Jahre vor dem Einzug Michail Gorbatschows in den Kreml, sagte der Philosoph Jean-François Revel das Ende der Demokratien voraus, da sie nicht in der Lage seien, sich gegen „den gefährlichsten seiner äußeren Feinde, den Kommunismus, in seiner gegenwärtigen Form und als vollendetes Modell des Totalitarismus,“1 zu behaupten. Ein paar Jahre später verkündete Francis Fukuyama „das Ende der Geschichte“ und den uneingeschränkten Sieg des US-amerikanisch-westlichen Modells. Und nach dem Ersten Golfkrieg (1990/1991) sahen zahlreiche Beobachter die Morgendämmerung eines amerikanischen 21. Jahrhunderts anbrechen.
Fünfzehn Jahre später entsteht ein anderer Konsens, der, so scheint es, eher der Realität entspricht: Wir treten in „eine postamerikanische Welt“2 ein. So heißt es zum Beispiel in Frankreichs aktuellem „Weißbuch der Verteidigung“, das die Regierung im Juni 2008 verabschiedet hat: „Die westliche Welt, vornehmlich Europa und die USA, ist nicht mehr einziger Träger wirtschaftlicher und strategischer Unternehmungen, wie sie es noch 1994 war.“3
Wird die Welt multipolar? Die USA werden mit Sicherheit noch viele Jahre, und nicht nur in militärischer Hinsicht, die vorherrschende Macht bleiben. Aber sie werden mit dem Erstarken der Machtzentren in Peking, Neu-Delhi, Brasília und Moskau zu rechnen haben. Die ins Stocken geratenen Verhandlungen der Welthandelsorganisation (WTO), der verfahrene Atomstreit mit dem Iran sowie das Hin und Her bei den Nordkorea-Gesprächen machen deutlich, dass es den USA, selbst wenn sie sich mit der EU verbünden, nicht mehr gelingt, ihre Interessen durchzusetzen, und dass sie bei der Krisenbewältigung auf andere Partner angewiesen sind.
Auch Richard Haass, Präsident des New Yorker Council on Foreign Relations und von 2001 bis 2003 Chef des Planungsstabs im State Department unter Colin Powell, ist der Ansicht, dass die „heutige Welt eher durch Diffusion von Macht als durch Machtkonzentration geprägt“ ist. In seiner Beschreibung einer „non-polaren Welt“4 erklärte er jüngst, wen er alles dazu zählt: die Internationale Atomenergiebehörde (IAEO), die Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ)5 , die Weltgesundheitsorganisation (WHO) sowie regionale Organisationen; Städte wie Schanghai oder São Paulo, Satellitensender von al-Dschasira bis CNN, Milizen wie die Hisbollah oder die Taliban, Drogenkartelle und NGOs.
Bündnisse je nach Interessenlage
Staaten, denen man vorausgesagt hatte, sie würden einmal zu den Opfern der Globalisierung gehören, fordern heute ihren Platz an der Sonne. China, Indien, Russland und Brasilien stellen die internationale Ordnung infrage. Länder wie der Iran, Südafrika, Israel, die südamerikanischen Staaten und Indonesien verfolgen ihre, wenn auch beschränkteren Ziele mit großer Entschiedenheit.
Keiner dieser Staaten wird von einer globalen Ideologie geleitet wie ehemals die Sowjetunion. Keiner bietet sich als alternatives politisches Modell an. Sie alle haben mehr oder weniger das marktwirtschaftliche System übernommen. Und keiner denkt daran, seine nationalen Interessen Kompromissen zu opfern. Allen geht es in erster Linie um die Kontrolle über die Rohstoffe, vor allem Öl und Gas, die immer knapper und teurer werden. Denn durch die Einnahmen aus Öl- und Gasgeschäften kann die oft unzureichende und durch die Klimaerwärmung zusehends bedrohte landwirtschaftliche Produktion ausgeglichen und die Ernährung der Bevölkerung gesichert werden. In zweiter Linie verfolgen die Staaten geopolitische Interessen, die historisch motiviert sind: China in Taiwan und Tibet; Indien und Pakistan in Kaschmir; die Türkei in Kurdistan; Serbien im Kosovo. Diese Territorialkonflikte lösen sich im Sinne einer geglückten Globalisierung keineswegs von selbst auf – im Gegenteil, sie verschärfen sich eher und mobilisieren mehr denn je die Massen.
Der Blick auf die Weltkarte zeigt, dass sich eine Art Krisenbogen vom Atlantik bis zum Indischen Ozean spannt, wie es in Frankreichs aktuellem „Weißbuch der Verteidigung“ heißt, deren Autoren vor „dem neuartigen Risiko einer Verflechtung der Konflikte in den Krisengebieten Naher und Mittlerer Osten, Pakistan und Afghanistan“ warnen. In der Regel geheim gehaltene Programme zur Herstellung von nuklearen, chemischen und biologischen Waffen würden die Gefahr noch vergrößern, zumal die Länder in dieser Region, offen oder versteckt, ihre militärischen Kapazitäten im Bereich der Waffenträger und der Raketen in großem Umfang erweiterten. Damit drohe die Destabilisierung des unter rivalisierenden Gemeinschaften aufgeteilten Irak auf den Mittleren Osten überzugreifen: „Die Instabilität in diesem geografischen Bogen kann direkt oder indirekt unsere Interessen berühren. Die europäischen Länder sind auf unterschiedliche Weise im Tschad, in Palästina, im Libanon, im Irak und in Afghanistan militärisch präsent.“ Unter diesen Umständen sei es vermutlich unumgänglich, dass sich Europa und Frankreich noch mehr für die Zukunft der gesamten Region engagieren, insbesondere bei der Krisenprävention.6
Mit dieser Analyse stimmt die Mehrheit der amerikanischen Strategen überein. R. Nicholas Burns, der heute an der Harvard Kennedy School lehrt, schrieb im Sommer letzten Jahres, als er noch Staatssekretär im State Department war: „Vor zehn Jahren war Europa das Epizentrum der amerikanischen Außenpolitik. (…) Mittlerweile hat sich alles geändert. (…) Der Nahe Osten spielt für Präsident Bush, Außenministerin Rice und deren Nachfolger die gleiche Rolle, die Europa für die US-amerikanischen Regierungen im 20. Jahrhundert gespielt hat.“7 Und die strategische Bedeutung des Greater Middle East nimmt zu, da hier die weltweit größten Ölreserven liegen und sich der Preis pro Barrel Rohöl – trotz des jüngsten Absturzes – auf gleichbleibend hohem Niveau bewegt.
So erklärt sich auch die seit Ende des Zweiten Weltkriegs beispiellose Konzentration westlicher Truppen in der Region, sei es im Irak, im Tschad, in Afghanistan oder im Libanon. Die USA erklären die militärische Präsenz zur notwendigen Maßnahme im Krieg gegen den Terror. Doch damit haben sie zugleich eine „Internationale des Widerstands“ auf den Plan gerufen, die zwar heterogen und häufig uneins ist, die jedoch nichts so eng verbindet wie die Opposition gegen die US-amerikanische Hegemonialpolitik.
Widerstand regt sich auch in Bezug auf ein weiteres Schlüsselgebiet: die Ökonomie. Im Gegensatz zu früheren Wirtschaftskrisen (wie in Asien oder Russland) führt der gegenwärtige Finanzkollaps zur Marginalisierung der internationalen Organisationen IWF und Weltbank. Zu Beginn des Jahrtausends hatten zahlreiche Länder, darunter Russland, Thailand, Argentinien, Brasilien, Serbien und Indonesien, entschieden, ihre Schulden beim IWF vorzeitig zurückzuzahlen8 , um sich aus ihren Abhängigkeiten zu befreien.
Drei Regeln für die Länder des Südens
Wird der Washington Consensus9 nun von einem „Peking Consensus“ abgelöst? Den Begriff prägte der Wirtschaftswissenschaftler und Journalist Joshua Cooper Ramo, seit 2005 Geschäftsführender Direktor des Pekinger Büros von Kissinger Associates, einer Beratungsfirma, die Henry Kissinger 1982 gründete. In seinem Werk „The Beijing Consensus“10 formuliert Ramo drei Grundregeln für die Länder des Südens: Innovationen fördern; nicht nur an die Steigerung des Bruttosozialprodukts denken, sondern auch an die Verbesserung der Lebensqualität, das heißt: eine gewisse Form von Gleichheit anstreben als Voraussetzung für Ordnung und sozialen Frieden; nationale Unabhängigkeit wahren und Selbstbestimmung, verbunden mit der Weigerung, anderen Ländern (vor allem den Westmächten) die Vorherrschaft zu überlassen.
Ramos Konzept wurde viel diskutiert und kritisiert.11 Kann ein Land wie China, dessen Regierung sich voll und ganz der Globalisierung verschrieben hat, überhaupt für ein neues Modell stehen? Immerhin hat hier die Ungleichheit extrem zugenommen. Allerdings macht der Peking Consensus eine Sache deutlich: Erstmals seit der Entkolonisierung können die Länder des Südens unabhängige politische Wege beschreiten und sich Partner suchen – Staaten ebenso wie Unternehmen –, die einen eigenen Kurs verfolgen. Es sind neue Beziehungen entstanden, wie der China-Afrika-Gipfel oder das Treffen der Außenminister der Bric-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China) am 26. September in New York. Länder können Entwicklungspläne beschließen, ohne sich unter das Joch des „Washington Consensus“ zu beugen.
Die geopolitische Architektur der Welt wird noch durch eine andere wichtige Veränderung beeinflusst: Am 17. April 2007 befasste sich der UN-Sicherheitsrat erstmals mit den politischen Folgen der Erderwärmung für Frieden und Sicherheit. Ob in den USA, in Europa oder in Australien, der Klimawandel wird in Zukunft in allen strategischen Überlegungen eine Rolle spielen.12 Man muss hier gar nicht in die Details gehen. Es reichen schon einige Fakten: Immer öfter werden Extremwetterlagen Ernten bedrohen, es wird häufiger zum Ausbruch von Epidemien kommen. Der Anstieg des Meeresspiegels wird Millionen von Umweltflüchtlingen zur Folge haben – schätzungsweise 150 Millionen im Jahr 2050. Der Kampf um Territorien wird neu entfacht werden. Atolle und Inseln werden verschwinden, was sich auf die Ausdehnung der Ausschließlichen Wirtschaftszonen (AWZ) auswirken wird.13 Und die steigenden Lebensmittelpreise werden zahlreiche Länder destabilisieren.
Wenn sich von nun an viele verschiedene Entwicklungswege und eine multipolare Ordnung durchsetzen werden, wird damit nicht nur die ökonomische Vorherrschaft des Westens infrage gestellt, sondern auch sein Anspruch, zu entscheiden, was gut und was böse ist und was als internationales Recht zu gelten hat. Und man wird dem Westen absprechen, sich im Namen von Moral und Menschlichkeit in alle Angelegenheiten der Welt einzumischen. Der frühere französische Außenminister Hubert Védrine meint, der Westen habe nunmehr sein „Monopol auf die Geschichte und die große Erzählung“ eingebüßt. Die vor zwei Jahrhunderten erfundene Weltgeschichte kann man als Geschichte vom Aufstieg und der Überlegenheit Europas zusammenfassen.
Demgegenüber kann die multipolare Ordnung durchaus auch als Chance begriffen werden. Ein echter Universalismus scheint auf einmal möglich. Doch das löst im Westen gelegentlich Angstreflexe aus: Die Welt werde immer bedrohlicher, „unsere Werte“ würden von allen Seiten angegriffen, von China, Russland, dem Islam; und wir sollten unter dem Banner der Nato gegen die Barbaren, die uns zu zerstören trachten, einen Kreuzzug führen. Wenn wir nicht aufpassen, wird diese Sichtweise zur Selffulfilling Prophecy.
Aus dem Französischen von Uta Rüenauver