14.11.2008

Die nächsten Herren der Weltwirtschaft

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Die nächsten Herren der Weltwirtschaft

von Martine Bulard

Die Geschichte machte in den Finanzkreisen die Runde, ehe sie überall auf der Welt in den Zeitungsredaktionen landete: Im September 2008 habe der chinesische Präsident Hu Jintao seinen Kollegen George W. Bush wegen der Rettung der beiden großen Hypothekenbanken Fanny Mae und Freddie Mac angerufen und damit gedroht, künftig keine US-amerikanischen Schatzbriefe mehr zu kaufen, falls Fanny und Freddie nicht gerettet würden.

Die USA, besagt diese Darstellung, hätten sich dieser Forderung gebeugt. In Washington wurde das Ganze selbstredend dementiert. Die chinesische Seite begnügte sich damit, zu lächeln und auf die Fakten zu verweisen. Fanny Mae und Freddie Mac wurden knapp vor dem Abgrund gerettet, und die chinesischen Darlehen in Höhe von 595,5 Milliarden Dollar blieben garantiert. Ob gut erfunden oder wahr: Diese Geschichte symbolisiert wie keine andere die aktuellen Verschiebungen auf der geopolitischen Ebene der Kapitalbewegungen. Die USA sind nicht mehr imstande, über den Gang der Dinge auf den Weltfinanzmärkten allein zu entscheiden. Sie sitzen auf der Anklagebank.

Während der UN-Vollversammlung vom 24. September wurde Präsident Bush von mehreren Staats- und Regierungschefs an die Zeit erinnert, da seine Regierung „alle anderen Nationen über die Vorzüge einer schrankenlosen Marktwirtschaft belehrte“. Jetzt aber würde sie mit der staatlichen Unterstützung der Finanzinstitutionen „dem eigenen Rezept abschwören“.1 Nur wenige Tage später trafen die großen Namen der internationalen Finanzwelt in Tianjian mit den Ökonomen und politischen Führungskräften Chinas zusammen, die ihnen klarmachten, dass sie die vollständige Liberalisierung ihres Finanzsystems aus guten Gründen nicht zulassen würden.

Verlorene Illusionen über die „unsichtbare Hand“

So sagte Liu Mingkang, der Präsident der chinesischen Bankenregulierungsbehörde: „Als wir sahen, wie die amerikanischen Kontrollbehörden den Eigenfinanzierungsanteil bei Hypothekendarlehen auf null absenkten und dann noch das Konstrukt der ‚umgekehrten Hypotheken‘2 zuließen, haben wir unter uns gesagt: ‚Das ist ja zum Lachen.‘ “3 Liu war in letzter Zeit damit beschäftigt, etwas Ordnung in diesen stark angeschlagenen Sektor zu bringen, indem er für eine stärkere staatliche Aufsicht über die Märkte sorgte. Und zwar frei von jeglichen Illusionen über deren berühmte „unsichtbare Hand“: „Endlich haben wir begriffen, dass viele Erkenntnisse, die wir von unseren Professoren gelernt haben, einfach falsch waren.“

Solche Ironie konnte auch den Bankern nicht entgehen, die sich in Tianjian erstmals schuldbewusst zeigten: „In der Geldpolitik haben wir schwere Fehler gemacht“, meinte Stephen Roach, Präsident von Morgan Stanley Asia, und warf der US-Zentralbank vor, das Land in eine „wahre Konsumorgie“ getrieben zu haben.

An dieser „Orgie“ war allerdings nur eine winzige Minderheit der Bevölkerung beteiligt. Während das reichste Hundertstel der US-Bevölkerung über ein Fünftel des gesamten Volkseinkommens verfügt (ein historischer Rekordwert), stieg das Medianeinkommen im Zeitraum von 2000 bis 2007 jährlich um nur 0,1 Prozent. Die Masseneinkommen haben sich also zu schwach entwickelt, was die Menschen zwingt, sich zur Finanzierung ihrer Wohnung, der Erziehung ihrer Kinder oder ihrer Gesundheitsversorgung zu verschulden. So stiegen etwa die Krankenversicherungsbeiträge im selben Zeitraum um durchschnittlich 68 Prozent. Zudem haben die großen Vermögensbesitzer und die Großkonzerne ihre Investitionen zulasten der einheimischen Industrieproduktion verlagert. Mit der Folge, dass die USA immer mehr importieren und immer weniger exportieren, was das gewaltige Handelsbilanzdefizit erklärt.

Während also die Reichen im Lande immer reicher werden, treiben sie „die da unten“ der Kreditindustrie in die Arme, weshalb man ihnen auch anständige Löhne vorenthalten kann.

Für die Finanzierung dieses Modells sorgen heute die Länder des Südens. Denn es sind vor allem die Schwellenländer, die das Zahlungsbilanzdefizit der USA ausgleichen, indem sie in Washington Schatzbriefe kaufen: 80 bis 90 Prozent der US-amerikanischen Staatsanleihen werden von ausländischen Akteuren gezeichnet.

Mit 1 197 Milliarden Dollar ist Japan zwar immer noch Washingtons treuester Kunde, aber an zweiter Stelle folgt bereits China mit 922 Milliarden Dollar.4 Die Volksrepublik ist damit nicht mehr nur „Werkbank“ der Welt, sie fungiert heute auch als „Hausbank“ der USA. Und Asien insgesamt (einschließlich seiner anderen großen Wirtschaftsmächte Hongkong, Südkorea, Singapur) absorbiert inzwischen mehr als die Hälfte der US-Auslandsverschuldung. Weitere Großabnehmer der US-Schatzbriefe sind nahöstliche Ölstaaten und Schwellenländer wie Mexiko und Brasilien. Und auch das von der Bush-Regierung hart kritisierte Russland zählt zu den zwanzig größten Gläubigerländern der USA.

Nun gibt es ja das alte Sprichwort: Wer die Musik bezahlt, darf den Tanz bestimmen oder zumindest darauf hoffen. Man kann sich ausmalen, wie aufgeregt die Wall Street reagieren würde, falls China keine US-Schatzbriefe mehr kaufen oder seine Bestände sogar reduzieren würde. Danach steht der Pekinger Führung derzeit allerdings nicht der Sinn, wie der chinesischen Premierminister Wen Jiabao gegenüber Newsweek versicherte: „In diesen schwierigen Zeiten stehen China und die USA Seite an Seite. Und wir denken, dieser Handschlag müsste dazu beitragen, die Wirtschaft und das globale Finanzsystem zu stabilisieren, um ein größeres Chaos zu verhindern. Ich glaube, dass die Zusammenarbeit absolut notwendig ist.“5

In solchen Beteuerungen sehen einige Kommentatoren den Beweis für eine ideologischen Allianz zwischen zwei Verfechtern des Kapitalismus. Aber wenn man es nüchterner betrachtet, versucht Peking nur seine eigenen Interessen zu wahren. „Wenn im US-amerikanischen Finanzsektor etwas schiefgeht“, meinte Wen Jiabao in seinem Interview, „würden wir uns auch um die Sicherheit von chinesischen Kapitalanlagen Sorgen machen.“ Damit meint er nicht nur die im Ausland angelegten Mittel – der Kurssturz an den Börsen hat die chinesischen Vermögenswerte nicht verschont –, sondern auch die Binnenwirtschaft.

Tatsächlich sind die von China gekauften Schatzbriefe, die es den USA ermöglichen, ihr Defizit zu finanzieren und mit dem quasi geliehenen Geld chinesische Produkte preisgünstig einzukaufen, nur die Spitze des Eisbergs. Peking verfügt mit nahezu 2 000 Milliarden über die weltweit größten Dollarreserven.6 Würde der Börsen-Tsunami das US-Finanzsystem hinwegfegen und auch den Dollar mit sich reißen, würde auch das chinesische Wirtschaftswunder rasch in sich zusammenbrechen. Genau dieser Zusammenhang hält China davon ab, die eingespielte Finanzmechanik stillzulegen und künftig etwa US-amerikanische Schatzbriefe zu verschmähen oder die in Dollar gehaltenen Währungsreserven drastisch zu verringern. Denn jeder Sturz des Dollarkurses würde nur den japanischen Yen stärken und vor allem zu einer starken Abwertung der eigenen Devisenreserven führen. Der Effekt wäre dann so, als wäre China in den letzten Jahrzehnten für seine Waren mit Spielgeld bezahlt worden.

In der Tat sind die USA schon lange darauf angewiesen, ihr hausgemachtes Defizit mit chinesischen Geldern zu finanzieren, aber umgekehrt kann es sich Peking auch nicht leisten, das Schicksal des amerikanischen Wirtschaftsgiganten zu ignorieren. In dieses System verschachtelter Interessen ist auch Tokio einbezogen, das weltweit über die zweithöchsten Dollarreserven verfügt, und sogar noch das an dritter Stelle stehende Russland. Es ist der Preis, der noch immer für die besondere Rolle entrichtet werden muss, die der Dollar als weltweites Zahlungsmittel nach dem Zweiten Weltkrieg erlangt hatte.

Am Ende dieses Weltkriegs standen die USA als eindeutiger Gewinner da. Dagegen war das hoch verschuldete Großbritannien wirtschaftlich geschwächt, Frankreich so gut wie am Ende und die Sowjetunion völlig ausgeblutet. Festgeschrieben wurden diese Kräfteverhältnisse dann in Bretton Woods (benannt nach der kleinen Stadt in New Hampshire, wo im Juli 1944 die neuen Regeln der internationalen Finanzbeziehungen vereinbart wurden). Das Bretton-Woods-Abkommen schrieb die Leitwährungsfunktion des Dollars fest, der damit das britische Pfund ablöste, und schuf zwei Institutionen, die in der Folge zum bewaffneten Arm der US-Interessenpolitik wurden: die Internationale Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (besser als Weltbank bekannt) und den Internationalen Währungsfonds (IWF/IMF). Der Marshallplan für Europa wurde in Dollars finanziert, um das Gewicht der US-Währung zu festigen und der US-amerikanischen Wirtschaft die Absatzmärkte zu sichern.

Einer der berühmten Verhandlungsführer von damals, John Maynard Keynes, stemmte sich gegen die Vorherrschaft der USA und befürwortete ein internationales Finanzsystem mit einer wirklich internationalen Zahlungseinheit, dem „Bancor“7 . Die realen Machtverhältnisse verhinderten diesen Bancor-Plan. Stattdessen wurde der Dollar als Leitwährung etabliert und damit die Hegemonie der USA in der westlichen Welt befestigt. Seitdem konnte Washington schalten und walten, wie es wollte; ging etwas schief, zahlten die Zeche immer die anderen. Wenn die US-Wirtschaft größere Probleme bekam, konnte man jederzeit die Spielregeln einseitig verändern. Diese Macht äußerte sich ganz unverhüllt in dem berühmten Ausspruch, den John Connally, der Finanzminister der Nixon-Regierung, 1971 gegenüber europäischen Kollegen machte: „Der Dollar ist unsere Währung, aber euer Problem.“

Ganz in diesem Sinne verkündete US-Präsident Richard Nixon am 15. August 1971 das Ende der Dollarbindung an das Gold. Fortan war der Greenback nur noch ein Papier wie andere auch und konnte je nach den Launen der Märkte und der US-amerikanischen Interessenpolitik fluktuieren. Das „übermäßige Dollarprivileg“, wie es Frankreichs Staatspräsident Charles de Gaulle schon seit Mitte der 1960er-Jahre genannt hatte, wurde in der Folgezeit noch maßloser. Die anderen Staaten kuschten. Der internationale Geldverkehr und die Handelsbeziehungen wurden grundsätzlich in Dollar abgewickelt, die von den nationalen Zentralbanken gehortet wurden (neben Yen, D-Mark und später Euro).

Dieser systemgestützte Dollar dominiert das ökonomische Weltgeschehen bis heute. Damit können die USA nicht nur massenhaft Schulden machen und sie dann von ihren „Partnern“ bezahlen lassen, sie können auch Kapital ins eigene Land locken (für Investitionen, für Forschung und Entwicklung oder für die finanzielle Sanierung der Unternehmen). Sie können es auch wieder exportieren, was zum Beispiel ihren multinationalen Konzernen zugutekommt, wenn sie sich im Ausland etablieren. Anhand der weltweiten ausländischen Direktinvestitionen (ADI) für 2007 zeigt sich, dass die USA zum einen nach wie vor der größte Kapitalempfänger sind, zum anderen aber auch bei den globalen Auslandsinvestitionen an der Spitze liegen.8 Damit verfügen sie über eine außerordentlich große Macht, um die Kapitalströme geopolitisch zu beeinflussen.

Dieses System besteht bis heute, doch sein Fundament beginnt zu wanken. Die Staaten, die ihre Währungsreserven in Dollar halten, begnügen sich nicht mehr damit, ihr Geld in den Banktresoren zu parken, wie es die erdölexportierenden Länder in den 1970er-Jahren taten. Vielmehr haben sie neue Anlageformen geschaffen, die sogenannten Staatsfonds, deren Gesamtvolumen auf mindestens 4 000 Milliarden Dollar geschätzt wird. Sie dienen als Finanzierungsinstrument, sei es – wie in den Golfstaaten – für eher größenwahnsinnige Entwicklungsprojekte, sei es auch für die Übernahme ausländischer Unternehmen.9 Damit ist eine Art Eingriffswaffe entstanden, die von vielen westlichen Staaten gefürchtet wird. Hinzu kommt, dass der relative Anteil des Dollars an den Weltwährungsreserven in den letzten zehn Jahren um mindestens 10 Prozentpunkte gesunken ist. Am Ende des ersten Quartals 2008 repräsentierte er nur noch 62,4 Prozent der von allen Zentralbanken gehaltenen Devisen, gegenüber 71,2 Prozent am Ende des Jahres 2000. Im selben Zeitraum stieg der Anteil des Euros von 18,3 auf 27 Prozent.10 Und auch der japanische Yen hat als Reservewährung an Bedeutung verloren. Sein Anteil am weltweiten Währungskorb ging von 6,1 auf 3,4 Prozent zurück, nachdem er in den 1970er- und 1980er-Jahren noch symbolischer Ausdruck der japanischen Wirtschaftsmacht gewesen war, die einige Beobachter schon damals den „Niedergang Amerikas“ voraussagen ließ. Dennoch ist bislang weder der Euro noch der Yen in der Lage, die Nachfolge des Dollar anzutreten. Nur die kluge Politik einer etablierten Wirtschaftsmacht im Verein mit einer neuen politischen Vision könnte das Dollarregime kippen oder zumindest anderen Währungen eine gleichberechtigte Rolle ermöglichen.

Die Europäische Union, die in den letzten Jahren die amerikanische Deregulierungsorgie mitgemacht hat, ist einer solchen Herausforderung nicht gewachsen. Für das nächste Jahr erwarten selbst optimistische Experten für die Eurozone ein durchschnittliches Wirtschaftswachstum von nahe null Prozent, was eine rapide Zunahme der Arbeitslosigkeit und der Unternehmenspleiten bedeutet.

Spiegelkabinett der Finanzderivate

Als politische Macht ist die EU kaum vorhanden; in der großen Finanzkrise spielte sie (entgegen der in den Medien verbreiteten Märchen) so gut wie keine Rolle. Allerdings wurden einige der Prinzipien, die sie zuvor für sakrosankt erklärt hatte, kurzerhand über Bord geworfen – worüber sich niemand beschweren wird. Vergessen sind die Maastricht-Kriterien zur Begrenzung der öffentlichen Ausgaben, vergessen das Verbot staatlicher Finanzhilfen. Doch ein einheitliches Aktionsprogramm der EU kam nie zustande. Fast alle Einzelstaaten übernahmen stattdessen für ihren Bankensektor mehr oder weniger das Verstaatlichungskonzept, das der britische Labour-Premier Gordon Brown entwickelt hatte – also der am wenigsten „europäische“ Regierungschef eines EU-Staats, der nicht einmal der Eurozone angehört!

Und wie reagiert China auf die Krise? Dingli Shen, Direktor des Instituts für internationale Studien an der Fudan-Universität von Schanghai, bemerkt dazu: „Es ist noch nicht so weit, dass unser Land auf Augenhöhe mit den USA agieren könnte, aber die relative Verlagerung des Gravitationszentrums der Weltwirtschaft sollte das chinesische Selbstvertrauen stärken.“11 Als drittgrößte Wirtschaftsmacht wird natürlich auch China in den finanzwirtschaftlichen Mahlstrom hineingerissen und ist deshalb nicht vor den Turbulenzen geschützt (siehe den Artikel auf S. 9). Chinesische Wirtschaftswissenschaftler gehen heute schon davon aus, dass „alle großen, im letzten Jahr außerhalb des Landes getätigten Finanzinvestitionen Verluste gebracht haben“12 . Vor allem die Beteiligungen an den Banken Morgan Stanley (im Wert von 5 Milliarden Dollar) und Blackstone (im Wert von 3 Milliarden Dollar), die den Einzug Chinas in die internationale Finanzwelt symbolisieren, haben starke Wertverluste erlitten.

Vor diesem Hintergrund hat plötzlich unter den Führungskadern der Kommunistischen Partei Chinas eine Diskussion über den Nutzen und die Legitimität dieser Politik begonnen. Interessant ist dabei, wie man in Peking die Weigerung begründet, die ins Trudeln geratene Bank Lehman Brothers finanziell flottzumachen und frisches Geld nachzuschießen. Die chinesischen Vermögensanteile dürften „nicht mehr einfach als Schuttabladeplatz für zweifelhafte Finanzierungen“ oder als „stille Beteiligungen“ ohne Mitbestimmungsrechte behandelt werden, erklärte ein maßgeblicher Bankmanager. Als positives Beispiel verwies er auf den Einstieg der japanischen Mitsubishi-Bank bei der US-Bank Morgan Stanley, der dem neuen Miteigentümer einen Sitz im Verwaltungsrat eingebracht hat.

Zurzeit hält sich der chinesische Wirtschaftsgigant von allzu abenteuerlichen Finanzbeteiligungen fern. Seit kurzem geht in Peking eine Geschichte um, die von der Londoner Financial Times aufgegriffen wurde.13 Demnach rief Anfang 2000 der damalige chinesische Premierminister Zhu Ronqji ein illustres Gremium aus Wirtschaftswissenschaftlern, Funktionären und Finanzspezialisten zusammen, um sich über die neuesten globalen Anlagestrategien und -instrumente aufklären zu lassen. Die Experten erklärten ihm das ganze System als „einen Spiegel, in dem man wieder einen anderen Spiegel sieht und so immer weiter, bis ins Unendliche“. Das ist eine ziemlich gute Beschreibung der sogenannten Derivate – als Spekulationsprodukte, die wiederum der Spekulation dienen. Deren globaler Börsenwert beläuft sich mittlerweile auf mehr als eine Million Milliarden Dollar. Diese Summe entspricht dem in zwanzig Jahren weltweit produzierten „Reichtum der Nationen“, ist aber natürlich rein virtuell (siehe Grafik auf S. 12/13).

Aufgrund solch anschaulicher Erläuterungen und seiner Überzeugung, dass man nach einer alten chinesischen Weisheit „mit Dingen, die man nicht versteht, besser keine Scherze treibt“, hatte Zhu im Jahr 2000 entschieden, die Ventile für die neuen Instrumente nicht allzu weit zu öffnen. Zwar kann man heutzutage auch bei den chinesischen Banken nicht genau wissen, „wie viele Leichen sie im Schrank haben“, meint ein Experte der Bank Industrial and Commercial Bank of China (ICBC) in Schanghai, doch das chinesische Engagement bei riskanten Finanzanlagen sei offenbar ziemlich begrenzt gewesen.

Vor diesem Hintergrund wirft allerdings die jüngste Entscheidung, an den chinesischen Börsen Termingeschäfte zuzulassen, erhebliche Fragen auf, zumal einige westlichen Länder diese Geschäfte gerade wegen ihres spekulativen Charakters eingeschränkt haben. Ein großes Problem bleibt außerdem die Immobilienblase, obwohl sie in den letzten beiden Jahren leicht geschrumpft ist. Doch unser Experte von der ICBC weist darauf hin, dass im Bausektor der Rentabilitätsdruck ohnehin nicht so stark sei. Hier handle es sich zumeist um öffentliche Gebäude, und „der chinesische Staat hat viel Zeit“.

Gegenüber der globalen Ebene hat China also seine ökonomischen Schutzzäune beibehalten. So versichert Professor Yang Baoyun von der Hochschule für Internationalen Studien in Peking: „Das innere Finanzsystem ist weiterhin unter Kontrolle.“ Ungeachtet des internationalen Drucks verfügt Peking über einen größtenteils staatlich organisierten Banksektor; die Regierung übt weiterhin die Aufsicht über die Wechselkurse aus und betreibt eine recht vorsichtige Geldmengenpolitik.14 Es ist eine Ironie der Geschichte, dass der Internationale Währungsfonds (IWF) noch für den Oktober 2008 eine Klage gegen die innerchinesische Regulierung des Finanzsektors vorbereitet hatte, die er jetzt angesichts der Sachlage abblasen musste. Der IWF hält China vor, seine Währung sei gezielt unterbewertet und sein Finanzsektor noch immer nicht dereguliert. Doch jetzt begründet IWF-Chef Dominique Strauss-Kahn die Verschiebung mit dem Argument: „Chinas ökonomisches Ungleichgewicht stellt ein langfristiges Problem dar, dessen Erörterung noch einen Monat warten kann.“ Wobei Strauss-Kahn offenbar gar nicht merkt, wie grotesk der ganze Vorgang ist.15

Die Regierung in Peking hält natürlich an ihren staatlichen Interventionsinstrumenten fest. Und sie konzentriert sich – was keineswegs unwichtig ist – in ihrer Wachstumspolitik weiterhin auf die Güterproduktion und die Forschung. Die systemische Krise, die nunmehr die USA und die europäischen Länder erfasst, zeigt ja vor allem, dass man Dienstleistungen und den Finanzsektor auf Dauer nicht losgelöst von der materiellen Produktion betreiben kann.

Sicher wird das chinesische Modell der Wirtschaftsentwicklung von der Exportlokomotive gezogen. Die sich abzeichnende Schwächung der Konsumnachfrage in den beiden wichtigsten Lieferregionen (USA und EU-Länder) droht auf das Produktionsvolumen in China durchzuschlagen. Schon Anfang 2008 setzten viele Experten auf eine „Entkopplung“ und meinten, dass China sein Wachstum trotz der Wachstumsschwäche der entwickelten Industrieländer fortsetzen könne. Inzwischen wird der internationale Handel des Landes zu 60 Prozent mit den anderen asiatischen Ländern abgewickelt. Doch zum einen sind diese Länder selbst nicht vor wirtschaftlichen Rückschlägen gefeit (Japan befindet sich am Rande der Rezession, Südkorea ist schon mitten drin, und auch für Indien sieht es nicht besser aus). Und zum anderen ist der innerasiatische Handel, rechnet man die Vorprodukte mit ein, letztendlich von der Nachfrage auf den Märkten der G 3 (USA, EU und Japan) abhängig. Sophanha Sa, Ökonom bei der französischen Bank Société Générale, schätzt diese Abhängigkeit auf 50 bis 60 Prozent. Das Wegbrechen dieser Absatzmärkte wird die chinesische Wirtschaft sofort zu spüren bekommen.

Ein Editorial der hochoffiziellen People’s Daily beschreibt die entstandene Lage umfassend und genau. Unter dem Titel „Der Mythos von Wall Street ist zerstört“ wird auf die bedrohlichen Auswirkungen auf den Welthandel hingewiesen und dabei vor allem die Gefahr beschworen, „dass die relativen Vorteile des ‚Made in China‘ schwinden und die Wettbewerbsfähigkeit der chinesischen Exportindustrie leidet“. Zudem würden die globalen geopolitischen Gegebenheiten immer komplexer und die neoprotektionistischen Strömungen stärker werden, so dass „die Handelsbarrieren eher anwachsen als abgebaut werden“.16 Insgesamt haben die chinesischen Führungskreise erkannt, dass eine neue Phase der weltwirtschaftlichen Beziehungen beginnt, und so sehen sie sich nach neuen Wachstumsfeldern um. Professor Yang bringt es auf den Punkt: „Der einzige Weg ist, den inneren Markt zu entwickeln.“ Vor allem gelte es, die soziale Kluft zwischen den Städten und dem Land zu überwinden. Die Preisexplosion bei Nahrungsmitteln habe bereits bewirkt, dass die Einkünfte der Bauern im ersten Halbjahr 2008 um 17,9 Prozent gestiegen sind.17

Was in aller Welt soll mit den hohen Dollarreserven geschehen?

Um den Verbrauch anzukurbeln, reicht es jedoch nicht aus, die Kaufkraft zu stärken. Ein Teil des verfügbaren Einkommens der Haushalte geht schon heute in die Ersparnisbildung (die chinesische Sparquote ist die höchste der Welt); die Familien legen das Geld für Krankheitsfälle oder den Ruhestand zur Seite. Angesichts dessen gilt es, ein effizientes, kollektiv finanziertes soziales Sicherungssystem aufzubauen, das bislang erst in Ansätzen existiert, und ganz allgemein die Einkommen zu erhöhen.

Trotz der benannten Probleme beginnt sich auf den inneren Wachstumsfeldern schon etwas zu bewegen. Li Xiaochao, der Sprecher des Nationalen Amts für Statistik, hat dazu präzise Zahlen: Von dem für 2007 verzeichneten Wirtschaftswachstum von 11,4 Prozent „entfallen 4,4 Prozent auf die Konsumausgaben, 4,3 auf die Investitionen und 2,7 auf die Nettoexporte“.18 Diese Entwicklung dürfte in diesem Jahr bei einer Wachstumsrate von etwa 10 Prozent anhalten. Für 2009 erwarten die Experten dagegen ein reduziertes Wachstums von 7 bis 8 Prozent – was für die westlichen Ländern ein traumhaftes Ergebnis wäre.

Angesichts der vielen inneren Herausforderungen – das Problem der Armut, die soziale Unzufriedenheit auf dem Lande, die wachsende Unsicherheit in den Mittelschichten – ist aber klar, dass eine Verlangsamung des Wachstumstempos die politischen Konflikte und Spannungen verschärfen wird. Und die haben nicht nur mit der unmittelbar anstehende Frage eines neuen Wachstumsmodells zu tun, sondern auch mit den drängenden Umweltproblemen.

Gegenüber dem Ausland versucht China die Belastungen mithilfe der eigenen Dollarbestände zu mindern. Ein Teil der Dollarüberschüsse wurde bereits in afrikanische Länder umgeleitet und in Form von Hilfsgeldern verliehen, und zwar ohne die Auflagen, die Weltbank und IWF normalerweise machen. Zugleich strebt Peking sehr viel mehr bilaterale Handelsabkommen (mit Venezuela, Russland, Irak, Iran) an, um seinen wachsenden Energiebedarf und neue Absatzmärkte zu sichern. China unterstützt auch die Schaffung eines gemeinsamen asiatischen Währungsfonds, den es gemeinsam mit Japan und Südkorea im Mai 2007 gegründet hat. Mit einer Anfangseinlage von 80 Milliarden Dollar ausgestattet, soll dieser Fonds die wechselseitige finanzielle Unterstützung zwischen den zehn Staaten des Asean-Pakts (Vereinigung der Länder Südostasiens) sichern, und zwar am IWF vorbei, dessen Rolle in dieser Region nicht besonders geschätzt wird.

In anderen Regionen der Welt gibt es ähnliche Initiativen, die sämtlich darauf angelegt sind, die Abhängigkeit vom Dollar zu überwinden. In Lateinamerika entsteht eine „Bank des Südens“, in der sich Argentinien, Bolivien, Brasilien, Ecuador, Paraguay, Uruguay und Venezuela zusammenschließen. Sie soll die Finanzierung von Infrastrukturmaßnahmen fördern, und zwar unabhängig von Weltbank und IWF. Argentinien und Brasilien haben beschlossen, ihren gegenseitigen Handel in den eigenen Währungen abzuwickeln, also den Dollar aus ihren ökonomischen Austauschbeziehungen herauszuhalten.

Unter dem Titel Bric wurden auch neue, quasi institutionelle Verbindungen zwischen Brasilien, Russland, Indien und China geknüpft. Brasilien setzt zudem immer stärker auf die Entwicklung Lateinamerikas, selbst wenn das Land unter der nordamerikanischen Rezession zu leiden droht. Der Süd-Süd-Handel entwickelt sich in hohem Tempo. Allerdings ist man noch weit von einer gemeinsamen Front entfernt, die über hinreichend Einfluss verfügen würde, um auf neue internationale Regeln hinzuwirken und den Dollar samt seiner institutionellen Stützen IWF und Weltbank vom Thron zu stürzen.

Dennoch zeichnet sich schon eine fernere Zukunft ab, über die sich Arvind Subramanian19 in der Financial Times Gedanken gemacht hat. Er kann sich durchaus vorstellen, dass China den USA Anleihen gewährt, die – wie im Fall von IWF-Geldern – mit Auflagen versehen sind. Allerdings würden sich diese Auflagen an anderen Kriterien orientieren. Subramanian nennt als Beispiel das Gemeinwohl, das für eine Kontrolle der Banken sprechen würde oder sozialpolitische Ziele wie die Schaffung von sozialen Sicherungsnetzen. Auf diese Weise könnte sich China „die Position einer Supermacht“ verschaffen. Für eine solche Rolle kann sich Peking derzeit allerdings weder erwärmen noch die nötigen Mittel aufbringen.

Fußnoten: 1 Neil MacFarquhar, „Upheaval on Wall Street stirs anger in UN“, International Herald Tribune, 24. September 2008. 2 Das Modell der „reverse mortgage“ funktioniert so, dass ein Hausbesitzer von seiner Bank monatliche Zahlungen bezieht, wofür das Haus schrittweise in den Besitz der Bank übergeht, ohne dass der Eigentümer sein Wohnrecht verliert. 3 Dieses und die folgenden Zitate aus: Yann Rousseau, „Quand Pekin donne des leçons de captitalisme à l’Amérique“, Les Echos, 29. September 2008. 4  „Foreign Holdings of US Securities“, Presseamt des US-amerikanischen Finanzministeriums, Washington, 29. Februar 2008. 5 Interview Fareed Zakaria, „We should join Hands“, Newsweek, 6. Oktober 2008. 6 „The World Factbook“, Central Intelligence Agency (CIA), Washington. 7 Keynes schlug damals ein umfassendes Gefüge internationaler Institutionen vor. Die International Trade Organisation (ITO) sollte sich auf eine internationale Zentralbank, die International Clearing Union, stützen. Siehe Susan George, „Zurück zu Keynes in die Zukunft“, Le Monde diplomatique, Januar 2007. 8 Die ausländischen Direktinvestitionen in den USA stiegen am Ende des Jahres 2007 auf 237,5 Milliarden Dollar, die US-Investitionen im Ausland auf 333,3 Milliarden. Siehe „World Investment Report“, Uncta-Konferenz in New York, 24. September 2008. 9 Siehe Ibrahim Warde, „Räuber, Retter, Verlierer“, Le Monde diplomatique, Juni 2008; Akram Belkaid, „Auf nach King Abdullah Economic City“, Le Monde diplomatique, August 2008. 10 „Currency Composition of Foreign Exchanges Reserves (Cofer)“, Internationaler Währungsfonds, Washington, September 2008; www.imf.org. 11 David Pilling, „America’s chance to end its Asian addiction“, Financial Times, 2. Oktober 2008. 12 Jamil Anderlini, „Prudences guides China’s outlook“, Financial Times, 24. September 2008. 13 Anderlini, siehe Anm. 12. 14 Siehe „Chine, Inde. La course du dragon et de l’éléphant“, Paris (Fayard) 2008. 15 „IMF delays China report“, South China Morning Post, Hongkong, 1. Oktober 2008. 16 „Wall Street turmoil tests China’s foreign trade“, People’s Daily, 6. Oktober 2008. 17 Nationales Amt für Statistik, Oktober 2008; www.stats.gov.cn; die Preisexplosion geht freilich zulasten der Stadtbevölkerung. 18 People’s Daily, 30. Januar 2008. 19 „A master plan for China to bail out America“, Financial Times, 7. Oktober 2008.

Aus dem Französischen von Ulf Kadritzke

Le Monde diplomatique vom 14.11.2008, von Martine Bulard