13.02.2004

Der Autor und seine Komplizen

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Der Autor und seine Komplizen

Er war einer der großen lateinamerikanischen Autoren des 20. Jahrhunderts, einer, der nicht anders konnte als schreiben und dabei immer staunender, experimenteller und spielerischer wurde. Das zeigen schon die Titel seiner Erzählungen, etwa „Reise um den Tag in 80 Welten“. Für manche war der Argentinier Julio Cortázar, der in Belgien geboren wurde und in Paris am 21. Januar 1984 starb und dessen Roman „Rayuela“ in den 1960er-Jahren zum Kultbuch einer ganzen Generation von Intellektuellen und Studenten wurde, einfach der Che Guevara der Literatur.

Von JOSÉ MANUEL FAJARDO *

SEIT zwanzig Jahren ist Paris Ziel und Schauplatz einer anhaltenden, aber diskreten Wallfahrt, die man inmitten des touristischen Trubels leicht übersieht. Sie führt zum Friedhof Montparnasse oder vielmehr zu einem seiner Gräber, dem des argentinischen Schriftstellers Julio Cortázar, der am 12. Februar 1984 gestorben ist. Die Pilger lassen Zettel mit eilig hingekritzelten Sätzen am Grab zurück, vielleicht weil sie überzeugt sind, das traurige Zwischenreich des Todes könne sie nicht daran hindern, ihren Austausch mit dem Schriftsteller fortzusetzen. Es sind Leser aus allen Teilen der Welt, viele von ihnen selbst Autoren.

Jeder versucht auf seine eigene Art und Weise, mit Cortázar zusammen zu sein. Der chilenische Romancier Luis Sepúlveda und der Mexikaner Antonio Sarabia stecken eine angezündete Zigarette in eine Ritze des Steins und lassen sie herunterbrennen. Unter den jungen kubanischen Autoren wie Amir Valle, Karla Suárez oder Raúl Aguiar ist es Sitte und fast ein Muss, das Grab zu besuchen – sofern man denn eine Reiseerlaubnis für Paris bekommt – und Fotos und Bücher nach Kuba mitzubringen, um sie untereinander weiterzugeben. Eine bezeichnende Ehrung zu dieser schwarzen Stunde der Kubanischen Revolution – für jemanden, der sich so leidenschaftlich und kritisch für sie engagiert hat.

Eine Erzählung von Raúl Aguiar könnte als Ausgangspunkt dienen, um den Spuren Cortázars zu folgen, der nicht nur den so genannten lateinamerikanischen Boom verkörperte (gemeinsam mit García Márquez, Vargas Llosa oder Carlos Fuentes), sondern auch den rebellischen Geist der Sechziger- und Siebzigerjahre. Aguiars Text erzählt die imaginäre Begegnung einer jungen Frau aus dem Havanna der Gegenwart mit dem argentinischen Autor. Für sie ist es ein Morgen des Jahres 2003, für Cortázar der Januar 1967. Der Reiz der Erzählung liegt in der Melancholie, die dadurch entsteht, dass der Leser die traurigen Antworten auf Cortázars Fragen bereits kennt: „Ich habe tausend Fragen. Ist der Mensch auf dem Mars gelandet? Und was ist mit dem Vietnamkrieg? Was ist inzwischen in Kuba passiert? Lebt Fidel noch? Und Che? Und hat der Sozialismus am Ende gesiegt? Was weißt du über Argentinien?“ Eine lange Liste der Enttäuschungen.

Tatsache ist, dass das leidenschaftliche Interesse an der Welt bei dem Julio Cortázar aus Fleisch und Blut erst spät erwachte. Er selbst bekannte, er habe sich „sehr wenig Gedanken über die Menschheit gemacht, bis ich ,Der Verfolger‘ schrieb“, eine seiner besten Erzählungen. Da war er fünfundvierzig.

Geboren wurde Cortázar 1914 als Sohn argentinischer Eltern in Brüssel. Dort lebte er bis zu seinem vierten Lebensjahr, was ihm „eine Art, das R auszusprechen, die ich nie mehr loswurde“, eintrug – eine seiner vielen charakteristischen äußeren Auffälligkeiten. Er war sehr groß und außerordentlich hager, sein Gesicht den Großteil seines Lebens bartlos, was ihm lange das Aussehen eines ewig Jugendlichen verlieh. Er hatte große, weit auseinander stehende Augen, wodurch sein Blick einen erstaunten, katzenhaften Ausdruck bekam. Auch sein Charakter war individualistisch und geheimnisvoll: „Ich glaube, ich war seit meinem sechsten oder siebten Lebensjahr ein metaphysisches Geschöpf […] Ich hatte ständig den Kopf in den Wolken. Die Wirklichkeit um mich herum interessierte mich nicht sonderlich. Ich sah die Löcher, oder anders gesagt: den Raum zwischen zwei Stühlen, und nicht die Stühle. Darum war ich seit meiner Kindheit fasziniert von der fantastischen Literatur.“

Seine Literatur entspann sich zunächst auf dem Gebiet der Fantasie, doch genau wie in seinem kindlichen Blick erscheint in seinen Erzählungen das Fantastische wie ein Zwischenraum, der sich in der Wirklichkeit, in der täglichen Unterhaltung öffnet und diese verwandelt. In „Das besetzte Haus“ nimmt eine Anwesenheit, die nie beim Namen genannt wird, nach und nach von einem Haus Besitz. In „Teufelsgeifer“ überrascht ein Fotograf eine Frau und einen Jungen bei einer Verführungsszene und gerät, als er sie fotografiert, in den Bann seiner eigenen Fotografie. Die fantastische Ebene war eine Konstante im Werk Julio Cortázars.

Von klein auf unterschied sich sein Verhältnis zu den Worten, zum Schreiben nicht von seinem Verhältnis zur Welt im Allgemeinen: „Offenbar bin ich dazu bestimmt, die Dinge nicht so zu akzeptieren, wie sie sich mir darbieten.“ Dieses Unbehagen, diese Auflehnung sollten ihn ein Leben lang begleiten. Cortázar war ein begeisterter Leser von Rimbauds Gedichten und von surrealistischen Texten, er griff die Prinzipien und ästhetischen Wagnisse der Surrealisten auf und führte sie weiter, ohne sie blind zu übernehmen. Wie für die Surrealisten war die Fantasie für ihn Teil einer höheren, Rationales wie Irrationales umfassenden Wirklichkeit. Gleich ihnen war er davon überzeugt, dass zufällige Begegnungen alles andere als zufällig seien, und dass eine Amour fou und der Zufall funktionieren wie eine geheimnisvolle Mechanik, mittels derer die Menschen sich ihr Schicksal schaffen.

Zwei Begegnungen waren es, die seinem Leben und seinem Werk eine radikale Wendung gaben: mit der Stadt Paris und mit „La Maga“, der Zauberin. 1950 unternahm er eine Reise nach Europa, die ihn erstmals nach Paris führte. Während der Überfahrt kam es zu einer jener unerwarteten Begegnungen, die in seinem Leben immer wieder vorkamen.

An Bord befand sich eine junge, jüdische Deutsche mit Namen Edith Aron. Sie hatte schwarzes Haar und grüne Augen. Cortázars Aufmerksamkeit war bald geweckt. Umgekehrt erregte seine schlaksige Gestalt mit dem Gesicht eines großen Kindes die Neugier der jungen Frau. Dennoch wechselten sie nur ein paar Worte. Bei der Ankunft im Hafen trennten sie sich, ohne Adressen auszutauschen, und ein paar Tage später wollte der Zufall (wie einige es genannt hätten), dass sie sich in einer Pariser Buchhandlung über den Weg liefen. Wieder trennten sie sich ohne Verabredung, und die seltsame Kraft, die sie anzog, führte nach wenigen Tagen zu einer erneuten Begegnung. Der Wink war deutlich. Cortázar entdeckte, dass dieses Mädchen mit dem hübschen Lächeln „sprunghaft, kompliziert, ironisch und enthusiastisch“ war. Mit anderen Worten, unwiderstehlich. Und als er 1951 nach Paris zurückkehrte, um sich dort niederzulassen, traf er sie wieder. Ihre Liebesbeziehung dauerte – trotz vorübergehenden Trennungen (und vielen Affären mit anderen Frauen) – sein ganzes Leben lang. Und schließlich verwandelte er sie in die Protagonistin seines Hauptwerks „Rayuela“, die Figur der Maga.

Der 1963 erschienene Roman „Rayuela“ erzählt auch von Cortázars transzendentaler Begegnung mit der Stadt Paris. „Paris war der große existenzielle Schock“, erinnerte er sich Jahre später. Hier entdeckte er seine lateinamerikanische Identität, denn „die schrecklichen Inseln, auf denen wir Südamerikaner festsitzen (Argentinien oder Mexiko sind genauso Inseln wie Kuba), machen es manchmal nötig, nach Europa zu gehen, um endlich die Stimmen der Brüder und Schwestern zu hören“. Die Stimmen anderer lateinamerikanischer Schriftsteller, aber auch die der Leser, die durch ihre Identifikation mit einer aufstrebenden Literatur den „Boom“ ermöglichten.

Der internationale Erfolg der Werke von García Márquez, Vargas Llosa oder Julio Cortázar drückte, wie dieser behauptete, gewissermaßen den kollektiven Wunsch aus, über Grenzen hinweg Bande zwischen den Menschen Amerikas zu knüpfen. Mit anderen Worten, die Literatur kam in Gleichklang mit der revolutionären Bewegung, die damals den Kontinent erfasste und deren Kraftzentrum die kubanische Revolution bildete. Nur logisch, dass Cortázar bald von Kuba fasziniert war. Seine Verbindung zur Revolution war dauerhaft, aber nie unkritisch. Er behielt immer seinen eigenen Kopf – wie seine Haltung in der Padilla-Affäre1 und seine offene Bewunderung für Lezama Lima auch in den dogmatischen Siebzigerjahren beweisen – und war dabei bemüht, mit seiner Kritik nicht den Feinden der Revolution in die Hände zu arbeiten. Deshalb stand er zeitweise völlig allein da und wurde von den Gegnern des Castrismus ebenso wie von der kubanischen Führung scheel angesehen.

Nach „Rayuela“ suchte Cortázar in seinem Schreiben nach einer anderen möglichen Wirklichkeit inmitten der Schrecken eines Jahrzehnts der Unterdrückung, aber auch aufkeimender Hoffnung. Er erlebte den Mai 68 in Frankreich. 1973 veröffentlichte er den Roman „Album für Manuel“: Eine Stadtguerilla lateinamerikanischer Linksintellektueller in Paris erstellt aus narrativen und reflektierenden Texten sowie aus Zeitungsausschnitten eine Textcollage, die eine spielerische politisch-moralische Lektion für Manuel, den Sohn zweier Gruppenmitglieder (und für alle Manuels dieser Welt) sein soll. Für den Roman bzw. die französische Übersetzung wurde Cortázar mit dem Prix Médicis Étranger geehrt, dessen Erlös er dem chilenischen Widerstand stiftete. Man berief ihn in die Jury des zweiten Russell-Tribunals, das sich mit der Situation der Menschenrechte in Lateinamerika befasste. Er unterstützte die sandinistische Revolution. Gleichzeitig wurde sein Schreiben immer experimenteller, immer freier. Frucht dieses Bestrebens waren Bücher, die Erzählungen mit Essays und Kommentaren mischen, wie „Reise um den Tag in 80 Welten“ und „Ultimo Round“, oder verschachtelte Romane wie „62 Modellbaukasten“. Cortázar selbst bekannte sich zu dieser undogmatischen Verbindung von Literatur und Revolution, als er meinte, „wir brauchen heute mehr denn je die Che Guevaras der Sprache, die Revolutionäre der Literatur anstatt die Revolutionsliteraten“.

Am Ende seines Lebens machte die argentinische Diktatur aus Cortázars frei gewähltem Exil ein politisches Exil. 1981 verlieh ihm François Mitterrand die französische Staatsbürgerschaft. Sein Bemühen um eine die Wirklichkeit verändernde Literatur war ein titanisches Unterfangen; die Ausführung aber von beglückender Leichtigkeit. Er besaß das große Talent, wie sein Biograf Mario Goloboff schreibt, „immer spielerisch, immer und trotz allem völlig unfeierlich“ zu Werke zu gehen. Der Humor und die Auffassung der Kunst als metaphysisches Spiel mit realem Einsatz ziehen sich durch sein gesamtes Werk und schlüpfen manchmal sogar, wie in Geschichten der Cronopien und Famen, in die Rolle der Protagonisten. Vielleicht ist das der Grund, warum uns die Wiederbegegnung mit Cortázar im Raum außerhalb der Zeit – auf den Seiten eines seiner Bücher – einen Optimismus einflößt, der nicht recht zu diesen misstrauischen und fatalistischen Zeiten passen will. Vielleicht stimmen uns darum Cortázars Fragen an die junge Kubanerin in Raúl Aguiars Erzählung so wehmütig: Sie verweisen auf den Keim einer anderen Welt, die in der Unsrigen verborgen liegt, die wir aber nicht zu finden wissen, weil wir die Kunst der Begegnung mit dem Anderen, in der Cortázar Meister war, verloren haben. Vielleicht sind darum die Leser, die jeden Tag sein Grab besuchen, nicht nur neugierige Touristen. Sie sind seine Komplizen.

deutsch von Christian Hansen

* Spanischer Journalist und Schriftsteller, geboren 1957, lebt in Bilbao. Autor u. a. von „Der Korsar“, Frankfurt (Krüger) 2000 und „Brief vom Ende der Welt“, Frankfurt (Krüger) 2001.

Fußnote: 1 Der Fall Padilla: 1971 wurde der kubanische Dichter Heberto Padilla inhaftiert und übte daraufhin öffentliche „Selbstkritik“. Der Fall führte zur Abkehr vieler Intellektueller von der bedingungslosen Unterstützung der Kubanischen Revolution.

Le Monde diplomatique vom 13.02.2004, von JOSÉ MANUEL FAJARDO