Haiti leidet unter seinen Heroen
DAS ärmste Land Lateinamerikas hätte einen Grund zum Feiern gehabt: Vor 200 Jahren verjagte die von Sklaven abstammende schwarze Bevölkerungsmehrheit die französischen Kolonialherren aus Haiti. Doch die Feierlichkeiten im Januar waren von schweren Ausschreitungen überschattet. Studenten und Oppositionelle protestieren seit Ende letzten Jahres fast täglich gegen die Regierung und fordern den Rücktritt von Präsident Jean-Bertrand Aristide. Der frühere Priester und Befreiungstheologe kann nur deshalb so willkürlich regieren, weil Haiti ein schwacher Staat mit schwachen Institutionen geblieben ist.
Von ANDRÉ LINARD *
„Wir werden nicht mitfeiern. Denn elend, heruntergekommen und pleite, wie wir sind, müssten wir wieder einmal den Bauern in die Taschen greifen und das Volk die letzte dürre Kuh schlachten lassen, nur damit dieses Fest irgendwie über die Bühne gehen kann. Nein, wir werden nicht mitfeiern. Denn während wir im Palast, in unseren üppigen Salons goldene Weinbecher leeren und volltrunken das heilige Jahr 1804 besingen würden, hätten die ausgeplünderten Bauern und das verelendete Volk viel eher Gründe, dieses Jahr zu verdammen.“
Dieser Text, der in Haiti vor den Feiern zur 200-jährigen Unabhängigkeit in Umlauf war, beschreibt den gegenwärtigen Zustand des Landes ziemlich treffend. Und doch wurden diese Sätze vor hundert Jahren geschrieben, als sich die „erste schwarze Republik“ auf die Feiern zu ihrem 100-jährigen Bestehen vorbereitete. Der Autor des Textes, Rosalvo Bobo, schrieb damals weiter: „Ehrlich gesagt, wenn ich die Worte ‚Volk von Haiti‘ oder ‚haitianische Nation‘ höre, ist das für mich eine gigantische Ironie. Nein, liebe Freunde, es gibt nur Gruppen und Einzelpersonen, beherrscht von einer Gruppe von verfluchten Existenzen, die sich Regierung nennt.“ Solche Aussagen werden heute von den Intellektuellen Haitis wieder ausgegraben. Enttäuscht haben sie sich vom heutigen Regime des Jean-Bertrand Aristide abgewandt und weigern sich, an den Feierlichkeiten mitzuwirken, weil „die Regierung sich damit nur eine unmögliche Legitimität verschaffen will“.1
Seit Beginn des 19. Jahrhunderts war das gerade unabhängig gewordene Haiti ein isoliertes und umkämpftes Land. Der Inselstaat hatte sich immerhin gut achtzig Jahre vor Kuba oder Brasilien aus der Sklaverei befreit, obwohl diese in Wirklichkeit nie ganz abgeschafft wurde. Auch außenpolitisch war der Zeitpunkt der haitianischen Unabhängigkeitserklärung durchaus günstig. Haiti entzog sich dem Machtbereich Frankreichs in dem Moment, als der europäische Kolonialismus seinen Schwerpunkt nach Afrika verlagerte und sämtliche Kolonialgesellschaften Lateinamerikas ihre Brücken zu den europäischen Herkunftsländer abbrachen. Doch während sich in Europa die Nationalstaaten bereits in ihrer modernen Form herausbildeten, bestand das unabhängige Haiti noch aus Bevölkerungsgruppen ganz unterschiedlicher Herkunft, während ihm zugleich ein auf Konsens beruhendes Modell einer gesellschaftlichen Ordnung fehlte.
So blieb Haiti für lange Zeit ein Staat ohne Nation. In wirtschaftlicher Hinsicht war das Land insofern ein Sonderfall, als ganz Lateinamerika von einer Struktur der Großgrundbesitzer mit ihren Latifundien dominiert war, während sich in Haiti aufgrund seiner besonderen Geschichte kleinbäuerliche Strukturen länger hielten.
Schon vor dem militärischen Sieg über die napoleonischen Truppen im November 1803 und der Unabhängigkeitserklärung am 1. Januar 1804 bildeten sich in Haiti zwei gegensätzliche Tendenzen der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung heraus. Diese Polarität ist ein möglicher Schlüssel zum Verständnis der heutigen, verfahrenen Situation. Toussaint Louverture, als „schwarzer Spartakus“ der noch heute bekannteste Politiker aus der Zeit des Unabhängigkeitkampfs, wollte große Plantagen für die Exportwirtschaft schaffen. Doch dagegen formierte sich ein hartnäckiger Widerstand verschiedener Volksbewegungen, die für den bäuerlichen Kleinbesitz und eine kleinräumige Wirtschaft lokaler Märkte kämpften.
Toussaint konnte sich zwar durchsetzen, aber nur um einen hohen Preis, wie Ernst Mathurin von der Nichtregierungsorganisation Gramir2 erläutert: „Diese beiden Tendenzen arbeiten seit zwei Jahrhunderten gegeneinander. Etwa fünfzig Jahre nach der Unabhängigkeit kam dann eine Art Kompromiss zustande: Man ließ den Bauern ihren kleinen Besitz, während sich die Elite auf den Handel konzentrierte. Die Ausbeutung verlagerte sich weg von den Feldern und hin zum Handel mit Agrarprodukten.“ Doch als die USA das Land 1915 besetzten, legte sie es auf agrarische Exportwirtschaft fest.
Es gibt aber noch andere Erklärungen für die Selbstzerstörung Haitis: etwa die permanente Schwäche des Staates, die immer wieder starken Machthabern den Weg geebnet hat. Der Philosoph Jacky Dahomay3 ist überzeugt: „Freiheit braucht einen institutionellen Rahmen. Im jungen Staat Haiti war diese institutionelle Ebene der Freiheit aber nur schwach entwickelt. Die politische Macht wurde deshalb nie als ein Regieren durch das Erlassen von Gesetzen ausgeübt. Recht und Gewalt verschmolzen miteinander.“ Ernst Mathurin präzisiert diesen Befund: „In Haiti wollte die Revolution vollständig mit der Vergangenheit brechen. Aber niemand hatte eine klare Vorstellung davon, wie der neue Staat aussehen sollte.“ Mit dem Ergebnis, so Dahomay: „Haiti ist der einzige ‚heroische Staat‘ der Welt. Das Wesen der heroischen Machtausübung liegt darin, dass sie sich ausschließlich durch die Willkür des Oberhauptes legitimiert. Ein Held erträgt die Gegenwart anderer Helden nicht.“
Der heroische oder charismatische Herrscher ist das Leitmotiv für die gesamte Geschichte Haitis. Indem der gegenwärtige Präsident Jean-Bertrand Aristide von sich behauptet, in einem symbolischen Verwandtschaftsverhältnis mit Toussaint Louverture zu stehen, beweist auch er, dass er sich diese Tradition zu Eigen gemacht hat. So erklärt sich, wie Aristide es schafft, die Macht im Staat auf seine Person zu konzentrieren, sich über praktisch alle Spielregeln hinwegzusetzen und dennoch bei einem Teil der Bevölkerung immer noch großes Vertrauen zu genießen. Nach Jacky Dahomay unterliegt die Macht in Haiti „der willkürlichen Verfügung des Fürsten. Der bestimmt über Leben und Tod, als sei er nur dafür da, permanent Angst und Unsicherheit zu verbreiten.“ Daher auch die Strategie, aus der Gesellschaft einzelne Gruppierungen herauszulösen (zumeist berüchtigte Banditen wie die „Tontons-Macoutes“4 unter Duvalier oder die heutigen „Chimères“ des Präsidenten Aristide) und ihnen diese mörderische Aufgabe zu übertragen. Das dürfte auch erklären, warum die Regierung in Port-au-Prince zögert, die von der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) beschlossene Entwaffnung der kriminellen Banden Lateinamerikas umzusetzen.
Lyonel Trouillot5 ist einer der brillanten Intellektuellen des Landes. Sein bitteres Fazit: „Haitianer zu sein bedeutet zunehmend, sich als isoliertes Wesen wahrzunehmen, das weder Solidarität noch Gemeinsamkeiten mit anderen kennt.“ Welche Konsequenzen das hat, erläutert der ehemalige haitianische Staatsminister Jean-Claude Bajeux: „Bei uns wird jeder, der sich Kritik erlaubt, sofort als Verräter abgestempelt. Das bekommt er auf allen Ebenen zu spüren, auch auf der materiellen, und es kann bis zur physischen Vernichtung gehen.“
Wenn also „volksnahe“ Politiker die Oppositionellen als „vaterlandslose Gesellen“ bezeichnen, die den Präsidenten aus dem Amt jagen wollen, und wenn sie ihre Bereitschaft erklären, ihren Helden „auf Leben und Tod zu verteidigen“ – dann weiß jeder im Land, dass dies eine Morddrohung an die Adresse der Opposition bedeutet. So hat der Slogan „Aristide oder Tod“, der an die Hausmauern in der Hauptstadt gepinselt ist, eine doppelte Lesart: Die eine für die Kritiker der Macht, die andere für die Schreiber selbst, die ja auch wissen, welches Schicksal ihnen bei einem Umsturz droht.
Ein Wort ist in der Zeit der 200-Jahr-Feiern allgegenwärtig: Wandel. Oft genug ist es nur eine Leerformel, wie bei Exminister Bajeux, der resigniert feststellt: „Die Hoffnung ist dahin. Nüchtern betrachtet, kann dieses Land ohne massive Investitionen, deren positive Auswirkungen sich erst in 20 oder 25 Jahren zeigen werden, gar nicht überleben. Aber es besitzt nicht einmal die Fähigkeit, einen Entwicklungsplan auf die Beine zu stellen.“
Als Jean-Bertrand Aristide 1990 aus seinem Priesteramt direkt in den Präsidentenpalast wechselte, erfreute er sich breiter Zustimmung. Heute herrscht allgemeine Enttäuschung, auch wenn sie noch nicht alle Schichten der Bevölkerung erfasst hat. Dem Präsidenten wird vorgeworfen, dass er ein zunehmend undemokratisches Regime aufbaut und sich durch alle möglichen Geschäfte persönlich bereichert. Für diese Entwicklung gibt es verschiedene Erklärungen. Manche vermuten, dass Aristide die Menschen von Anfang an getäuscht hat. Eine Minderheit glaubt, dass der Staatsstreich von 1991, das dreijährige Exil in den USA und die 1994 erfolgte Rückkehr an die Macht den Präsidenten verändert haben. Und schließlich gibt es Leute, die ihn für ein Opfer der Umstände halten. „Se pa fòt li“ – es ist nicht seine Schuld – kann man auf der Straße hören, wo man die Berater des Staatsoberhauptes und die internationale Gemeinschaft6 für die Missstände verantwortlich macht. Der tiefere Grund liegt zweifellos darin, dass die Wahl Aristides zwar einen Machtwechsel brachte, nicht aber die von vielen erhoffte Veränderung der Gesellschaft.
Die Zukunftsaussichten sind düster, Enttäuschung macht sich breit: „Unsere Kultur ist eine Kultur des Reisepasses“, sagt der ehemalige Vizerektor der Universität Port-au-Prince, Philippe Mathieu. „Die Haitianer sind ein Volk von Migranten.“ Tatsächlich sehen viele Menschen ihre Perspektive nur noch jenseits der Grenzen. Man hofft auf Arbeit in der Dominikanischen Republik, auf einer Zuckerrohrplantage, auf dem Bau oder auch als Straßenhändler. Und dann bleibt noch der große Traum von New York, von Miami oder Montreal, von wo die Auslandshaitianer Geld und Fotos mit schönen Dingen schicken. Wie soll unter diesen Bedingungen eine haitianische Identität entstehen?
„Wir haben eine Sprache, ein Land und eine Geschichte, die wir uns zu Eigen machen müssen. Aber es fehlt das Bindemittel, um eine Nation zustande zu bringen“, sagt Michèle Pierre-Louis, Leiterin der Kulturstiftung Fokal7 . Viele sind der Meinung, dass der 200. Jahrestag der Revolution eine Möglichkeit gewesen wäre, sich um ein solches Bindemittel zu kümmern. „Man hätte etwas Gutes daraus machen können“, meint auch Jean-Claude Bajeux, „zum Beispiel die Freunde Haitis zusammenbringen oder über einen neuen Gesellschaftsvertrag nachdenken.“
Ein paar NGOs werden versuchen, im Rahmen ihrer Möglichkeiten ein solches Projekt zu verfolgen, und sei es nur, um ein Bewusstsein für die Landesgeschichte zu entwickeln und den jungen Leute einen Bezug zu ihrer Vergangenheit zu ermöglichen. Fokal ist eine dieser Organisationen, eine andere Cresfed8 . Dessen Leiterin Suzy Castor hat eine klare Haltung: „Wir werden 2004 nicht mitfeiern, aber wir werden versuchen, an der Definition dessen mitzuwirken, was oder wer die Haitianer wirklich sind.“ Wenn es nach Suzy Castor geht, sollen die Sätze von Rosalvo Bobo aus dem Jahre 1904 irgendwann nicht mehr zutreffen – hoffentlich ist es spätestens beim dreihundertsten Jubiläum Haitis so weit.
deutsch von Herwig Engelmann
* Journalist, Agentur InfoSud-Syfia, Brüssel.