13.02.2004

Mikroprojekte machen ernst mit dem Kioto-Protokoll

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Mikroprojekte machen ernst mit dem Kioto-Protokoll

DER Kongress in Washington beschloss 2003 massive Steuersubventionen für Benzin fressende Freizeitjeeps. Damit besiegelten die USA ihre Absage an das Kioto-Protokoll, das die Industrieländer zu Schritten gegen die Luftverschmutzung, also gegen die Erwärmung der Erdatmosphäre verpflichtet. Verantwortlich für den Treibhauseffekt ist jedoch die entwickelte Welt insgesamt. Und die darf sogar mehr Kohlenstoffgase produzieren, wenn sie Umweltschutzmaßnahmen in der Dritten Welt finanziert. Nicht nur wegen dieses Ablasshandels fordern Ökologen aus unterentwickelten Ländern, das Kioto-Protokoll zu überarbeiten.

Von AGNÈS SINAI *

Auf dem mikronesischen Archipel im Pazifischen Ozean leben etwa 150 000 Menschen. Rund die Hälfte der Bevölkerung wird immer wieder von heftigen Unwettern bisher unbekannten Ausmaßes heimgesucht, die ihre Häuser beschädigen oder ganze Siedlungen zerstören. Ein starker Gezeitenhub, zunehmende Unregelmäßigkeiten im Zyklus der Regenzeiten und der seit 50 Jahren ansteigende Meeresspiegel führen dazu, dass die Sturmfluten immer bedrohlicher werden. Die Folge ist, dass die Küsten erodieren und die Landwirtschaft durch versalzenes Grundwasser geschädigt wird. Zudem nimmt infolge der steigenden Temperaturen auch der Parasitenbefall der Kokospalmen zu.

„Wir gehören zu den ersten Opfern des Klimawandels“, erklärt Joseph Komo. Als Mitglied der mikronesischen Delegation auf der 9. UN-Klimakonferenz, die im Dezember 2003 in Mailand stattfand, setzte sich Komo dafür ein, die vorgesehenen Gelder zügiger freizugeben. Mit dem UN-Sonderfonds sollen in besonders gefährdeten Regionen Projekte finanziert werden, die die Folgen des Treibhauseffekts auffangen können.

Als Erstes muss man dafür sorgen, dass die Ressourcen zur Herstellung von Grundnahrungsmitteln erhalten bleiben. Das erfordert vor allem den Bau von Entsalzungsanlagen und Deichen. Auch die Förderung der Solarenergie gehört zu den Prioritäten, für die sich die „Alliance Of Small Islands“ (Aosis) bei den Klimaverhandlungen mit besonderem Nachdruck einsetzt. Der 1994 gegründete und sehr aktive Interessenverband spricht für 43 Kleinststaaten aus Afrika, der Karibik, dem Indischen Ozean, dem Mittelmeer, dem Pazifik und dem Südchinesischen Meer. Sie alle sehen sich als die ersten Opfer des globalen Klimawandels.

Auf den Malediven bereitet man sich auf das Schlimmste vor. Hier entsteht eine künstliche Insel, die sich zwei Meter über den Meeresspiegel erheben wird: Hulhumale liegt rund zwanzig Flugminuten von der übervölkerten Hauptinsel Male entfernt und soll einmal 100 000 Menschen aufnehmen. Schon beginnen die roten Korallenbänke der Malediven aufgrund der höheren Meerestemperatur ihre Farbe zu verlieren. Alle Berichte des „Intergovernmental Panel on Climate Change“ (IPCC) verweisen darauf, dass Korallenriffe besonders empfindlich reagieren, wenn der Meeresspiegel ansteigt, das Oberflächengewässer sich erwärmt und die Stürme immer heftiger werden.

Auch am anderen Ende der Welt beruft man sich auf die Empfehlungen der Expertengruppe. Die Pol-Anrainer-Konferenz (ICC) vertritt rund 155 000 Inuit (Eskimos), die in Kanada, Alaska, Grönland und Russland siedeln. Wie ICC-Präsidentin Sheila Watt-Cloutier auf der Mailänder Klimakonferenz verkündete, will ihre Organisation den UN-Menschenrechtsausschuss anrufen. Denn wenn sich die Vereinigten Staaten, Russland und Australien weigern, das Klimaprotokoll von Kioto1 zu unterzeichnen, gefährden sie damit die traditionelle Lebensweise der autochthonen Völker am Nordpol und verletzen damit die Menschenrechte.

„Derzeit verändert sich buchstäblich der Boden unter unseren Füßen“, berichtet Sheila Watt-Cloutier. Kanadische Klimaexperten prognostizieren, dass die berühmte Nordwestpassage, die den Atlantik mit dem Pazifik verbindet, in fünfzig Jahren während des Sommers völlig eisfrei sein wird.

Die Menschen, die auf dem Packeis siedeln, befinden sich mit den pazifischen Melanesiern gewissermaßen im selben Boot. Dass der Klimawandel eine weltumspannende Erscheinung ist, zeigt sich auch daran, dass geografisch weit voneinander entfernt lebende Bevölkerungsgruppen Alarm schlagen. „Das Abschmelzen der Gletscher und Polkappen infolge der Klimaerwärmung ist im 21. Jahrhundert eine der Hauptursachen für den ansteigenden Meeresspiegel“, warnen Experten.2

Von den Polen bis zu den Malediven sind alle Bewohner der Erde über die Biosphäre miteinander verbunden. Doch der Klimawandel ist ausgerechnet für jene Menschen die größte Bedrohung, die an der Peripherie der industrialisierten Welt leben. Das ist auch deshalb eine gigantische Ungerechtigkeit, weil diese Menschen kaum zur Erwärmung der Erdatmosphäre beitragen. Die Hauptverantwortlichen sind vielmehr in den Industrieländern der nördlichen Hemisphäre zu finden.

Unterstellt man, dass alle Menschen zu gleichen Teilen den ökologischen Raum nutzen dürfen, könnte jeder Erdenbewohner pro Jahr eine halbe Tonne Kohlenstoffgase in die Atmosphäre entlassen, denn die Biosphäre ist in der Lage, jährlich drei Gigatonnen Kohlenstoffgase zu recyceln. Nach dieser Gleichung könnten die Einwohner von Burkina Faso ihre Treibhausgasproduktion von derzeit 100 Kilogramm auf 500 Kilogramm steigern, die Bürger der USA hingegen müssten ihren Ausstoß auf ein Zehntel der derzeitigen Menge von 5 000 Kilogramm senken.3

Die Treibhausgasproduktion der Industrieländer hat also offensichtlich ein Niveau erreicht, das es nicht mehr erlaubt, allen Menschen weltweit ein gleiches Quantum von Kohlendioxid-Emissionen zu gestatten. Doch die wahrscheinlichste Entwicklung ist, dass die großen Entwicklungsländer Indien, China, Brasilien und Saudi-Arabien bis zum Jahr 2050 mit den Industrieländern gleichziehen werden. Sollte es dazu im vollen Ausmaß kommen, wäre das gleiche Emissionsniveau pro Kopf als ökologisches Ziel völlig irreal geworden. Das Ziel der Gleichheit diente dann nur noch als Alibi für die Klimakatastrophe, die nach den alarmierenden Vorhersagen des „Intergovernmental Panel on Climate Change“ (IPCC) eine reale Möglichkeit ist.

China und Indien weigern sich, über eine Reduzierung ihrer Emissionen zu verhandeln, solange die Industrieländer ihre selbst gesteckten Ziele nicht erreichen. Schon bei der Klimakonferenz in Neu-Delhi 2002 sorgte der indische Umweltminister M. T. R. Balu für allgemeine Empörung, als er jede Formulierung ablehnte, die ein Entwicklungsland wie Indien auf eine Verringerung seiner Emissionen verpflichtet hätte. Die kleinen Inselstaaten empfanden diese Haltung als Verrat.

Jenseits der ungerechten Verteilung zwischen Nord und Süd gibt es auch noch Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Gruppe der südlichen Länder. In dieser haben sich 77 Staaten4 zusammengeschlossen, die sehr unterschiedliche Interessen vertreten: Da sind etwa die großen Waldvernichter China und Brasilien und die Opec-Länder, die Ausgleichszahlungen für den Fall fordern, dass die Nutzung fossiler Brennstoffe zurückgehen sollte. Zu dieser Gruppe gehören aber auch besonders gefährdete Länder wie Mosambik, das im Jahr 2000 von Überschwemmungen heimgesucht wurde, oder die pazifischen Kleinstaaten, die im Kampf gegen die Klimaerwärmung in vorderster Front stehen.

Da multilaterale Abkommen an der isolationistischen Haltung der Vereinigten Staaten scheitern, sind alle Versuche, den Klimawandel aufzuhalten, bislang vergebens geblieben. Das 1997 verabschiedete Protokoll von Kioto ist zum Objekt endloser Textexegese degeneriert. Die grundlegende Zielvorgabe, das Klima für die kommenden Generationen zu stabilisieren, verliert sich in der Kasuistik der meist westlichen Experten. Man mag einwenden, dass Gipfeltreffen, auf denen die Eingeweihten sich die Bälle zuspielen, zumindest den Verhandlungsprozess in Gang halten, oder dass kleine, theoretische Fortschritte immer noch besser seien als gar keine. Die Diskussionen um das Kioto-Protokoll drehen sich vor allem darum, wie die Bestimmungen umzusetzen wären, die gewährleisten sollen, dass Emissionen ihren Preis haben. Die Verschmutzung der Atmosphäre soll nicht mehr kostenlos sein. Ihr Preis drückt sich in Emissionszertifikaten aus, die international gehandelt werden können. Die Frage ist nur, ob der Preis die Knappheit und Gefährdung des Gemeinguts Atmosphäre widerspiegelt.

Als einziges Instrument der Nord-Süd-Kooperation sieht das Protokoll von Kioto den so genannten Clean-Development-Mechanismus (CDM) vor. Er bietet den Regierungen, Gemeinden und Unternehmen der Industrieländer die Möglichkeit, im Süden klimafreundliche Projekte mit zu finanzieren, also etwa Sonnen- und Wasserkraftwerke, Kraftwerke mit Kraft-Wärme-Kopplung oder sauberen Brennstoffen. Als Gegenleistung erhalten die Industrieländer zusätzliche Emissionsrechte in Höhe der Emissionen, die durch die Projektfinanzierung „vermieden“ werden.

Bei den Mailänder Verhandlungen im Dezember 2003 ging es daher auch um die Frage, welche Vorteile die Länder des Südens aus dem Clean-Development-Mechanismus ziehen können. Geopolitisch gesehen, fungieren diese Länder lediglich als Empfänger von Hilfsleistungen, deren einziger Zweck darin besteht, den Industrieländern nach Bedarf zusätzliche Emissionsrechte zu verschaffen. Als einziger Anreiz dient der Preis pro Tonne nicht ausgestoßener Schadstoffe.

Die Inuit und die Mikronesier werden von diesem System wohl kaum profitieren. Sie verschmutzen die Atmosphäre so wenig, dass der Tonnenpreis bei ihnen gering sein dürfte. Für die großen Entwicklungsländer hingegen scheint die Abmachung schon eher interessant. Der Clean-Development-Mechanismus war auch für China so interessant, dass es 2002 das Kioto-Protokoll ratifizierte, um Auslandsinvestoren anzuziehen. Der aktivste Nutzer ist jedoch Kanada, das in Entwicklungsländern etwa Emissionsfilter in Kohlekraftwerken, Solarstromanlagen und Kleinstwasserkraftwerke finanziert.

Die Berechnung der „vermiedenen Emissionen“ ist nicht immer einfach, zumal bei Ländern, die wie China und Brasilien auf Gelder vom „Sonderfonds Klimawandel“ warten, um ihr Emissionsvolumen zu evaluieren (zum Beispiel die Dunkelziffer der vernichteten Waldflächen im Amazonasgebiet). Der vom Weltumweltfonds verwaltete Finanztopf soll ab 2005 mit lächerlichen 50 Millionen Dollar ausgestattet werden, um den am meisten gefährdeten Ländern zu helfen, sich dem Klimawandel „anzupassen“. Bis dahin müssen die Inuit und die Mikronesier sehen, wo sie bleiben.

Es sei denn, sie schließen sich dem „South-South-North“-Netzwerk an, einer der ermutigendsten Initiativen der letzten Zeit, die sich dem allgemeinen klimapolitischen Trend entgegenstellt. Als Plattform verschiedener Organisationen und Juristen aus Brasilien, Südafrika, Bangladesch und Indonesien setzt sich South-South-North dafür ein, eine radikal andere Entwicklungspolitik einzuleiten und das Kioto-Protokoll unter ökologischen Gesichtspunkten zu überarbeiten.5

Vor allem aber will das Netzwerk den Clean-Development-Mechanismus für die betroffenen Menschen fruchtbar machen und lokale Modellprojekte auf ökologischer Basis anstoßen, die ebenfalls Fördergelder verdient hätten: In Bangladesch hat man 30 000 ländliche Haushalte mit Solarzellen ausgerüstet. In Dhaka ist für die nächsten zehn Jahre der Einsatz von 2 000 Elektrobussen im öffentlichen Personennahverkehr geplant. In einer Township in Kapstadt werden solargetriebene Wasserkocher installiert und bei den Häusern die Wärmedämmung von Wänden und Dächern verbessert. In Rio de Janeiro gibt es eine Biogasanlage, die mit Abfällen von einer städtischen Müllhalde gefahren wird, und im indonesischen Yogyakarta verkehren Busse, die sauberen Treibstoff getankt haben.

Ähnliche Projekte sollen auch in anderen Entwicklungsländern anlaufen. Sie sollen deutlich machen, dass der Süden mit Hilfe nachhaltiger Technologien durchaus die Möglichkeit hat, eine Entwicklungsrichtung einzuschlagen, die man später nicht bereuen muss. Hinderlich wirkt dabei nur das derzeitige CDM-Konzept, das paradoxerweise die Verschmutzerländer bevorzugt. In Bangladesch zum Beispiel, wo auf 1 000 Einwohner weniger als ein Auto kommt, besteht kaum Bedarf an einer Verringerung der Schadstoffemissionen, sodass Fördergelder hier nicht zu erwarten sind.

Damit erweist sich das Kioto-Protokoll immer wieder als konzeptioneller Schnellschuss. Und als Projekt, das auf die Bedürfnisse der Industrieländer und der südlichen Großverschmutzer zugeschnitten ist. Daher sollten die anderen südlichen Länder Mittel und Wege finden, mit dem Erhalt der Biosphäre endlich Ernst zu machen.

deutsch von Bodo Schulze

* Mitautorin von „Sauver la Terre“, Paris (Fayard) 2003.

Fußnoten: 1 Das Protokoll von Kioto wurde auf der internationalen Umweltkonferenz unterzeichnet, die im Dezember 1997 unter der Ägide der Vereinten Nationen stattfand. Darin verpflichten sich die Industrieländer, ihre Treibhausgas-Emissionen zwischen 1990 und 2012 um durchschnittlich 5 Prozent zu senken. Selbst dieses bescheidene Ziel wird wohl nicht erreicht werden, da der Ratifizierungsprozess seit einiger Zeit stockt. Dazu Frédéric Durand, „Umwelt: Wer im Treibhaus sitzt“, Le Monde diplomatique, Dezember 2002. 2 Groupe intergouvernemental d’experts sur l’évolution des climats (GIEC), „Bilan 2001 des changements climatiques. Les éléments scientifiques“, Bd. 1, Genf 2001, S. 30. 3 Dazu „Changements climatiques et solidarité internationale“, hrsg. vom Réseau Action Climat u. a., Montreuil, November 2003. 4 Die Gruppe 77 ist ein 1964 gegründeter Zusammenschluss von Entwicklungsländern. Obwohl die Mitgliederzahl seither auf 133 gewachsen ist, wurde der Name aus historischen Gründen beibehalten. 5 http://www.southsouthnorth.org.

Le Monde diplomatique vom 13.02.2004, von AGNÈS SINAI