Die Tamil Tigers sind die erfolgreichste Widerstandsbewegung der Welt
DER Machtkampf in Sri Lanka eskaliert. Präsidentin Chandrika Kumaratunga hat Neuwahlen für den 2. April angeordnet. Damit will die Präsidentin verhindern, dass die Regierung von Premierminister Ranil Wickremesinghe einen Kompromiss mit den Tamil Tigers (LTTE) findet, die im Nordosten längst ein autonomes Gebiet erkämpft haben. Der Konflikt zwischen den beiden großen singhalesischen Parteien gefährdet nicht nur einen möglichen Ausgleich mit den Tamilen, sondern auch den seit Februar 2002 haltenden Waffenstillstand.
Von CÉDRIC GOUVERNEUR *
In Batticaloa ist der 27. November traditionell der „Tag der Helden“ – man gedenkt der 17 000 tamilischen Guerillakämpfer der „Liberation Tigers of Tamil Eelam1 “ (LTTE), die im Verlauf des zwanzig Jahre währenden Bürgerkriegs gefallen sind. Doch im Jahr 2003 hatte die Gedenkfeier von Batticaloa fast den Status eines offiziellen Ereignisses. Denn in der Stadt an der Ostküste Sri Lankas laufen zugleich die Verhandlungen zwischen der Regierung und den tamilischen Separatisten über eine föderative Lösung des Konflikts. Überall in der Stadt hingen die Fahnen der LTTE, in einem Festzelt waren tausende von „Märtyrer“-Porträts aus der Region ausgestellt, und inmitten der Feierlichkeiten zu Ehren der „Tamil Tigers“ patrouillierten Soldaten der Regierungsarmee. Die Stimmung war entspannt: Alle schienen darauf bedacht, Zwischenfälle gerade an diesem Tag zu vermeiden, um die Friedensverhandlungen nicht in Gefahr zu bringen. Manche der jungen Soldaten machten sogar ein paar Einkäufe auf dem Markt – natürlich unbewaffnet.
Seit 1983 hatten die hinduistischen Tamilen gegen die von buddhistischen Singhalesen dominierte Zentralregierung Krieg geführt.2 Die britische Kolonialmacht hatte – nach ihrer üblichen Divide-and-rule-Strategie – die tamilische Minderheit (18 Prozent der Bevölkerung) im Nordosten des Landes privilegiert behandelt. Als Sri Lanka 1948 unabhängig wurde, gerieten die ehemaligen Kollaborateure in eine schwierige Lage: Die singhalesischen Regierungen der 1950er- und 1960er-Jahre betrieben gegen die Tamilen eine gezielte Diskriminierungspolitik. Singhalesisch wurde zur allein gültigen Nationalsprache erklärt, die Tamilen wurden über Nacht zu Analphabeten im eigenen Land.
Als ihre Forderung nach einem Bundesstaat kein Gehör fand, verlegten sich die Tamilen auf separatistische Ziele. 1975 wurde der Bürgermeister von Jaffna von einem jungen tamilischen Extremisten umgebracht. Der Täter Vellupilai Prabhakaran wurde zum Begründer der „Tamil Tigers“. Rückhalt fanden die tamilischen Guerillagruppen in Indien. Hier gestattete man ihnen sogar, militärische Ausbildungslager aufzubauen, unter anderem auch deshalb, weil die Regierung in Neu-Delhi damals der Regierung in Colombo ihre proamerikanische Haltung heimzahlen wollte. Im Juli 1983 eskalierte der Konflikt: Auf einen Überfall der LTTE reagierten singhalesische Extremisten mit Pogromen gegen die tamilische Minderheit und trieben damit tausende von Tamilen in den Untergrund. Fast täglich gab es Massaker unter der Zivilbevölkerung. Auch innerhalb des tamilischen Lagers entstand ein blutiger Streit um die Vorherrschaft, aus dem die LTTE als Sieger hervorging.
1987 schaltete sich dann Indien offiziell in den Konflikt ein. Die Regierung von Rajiv Gandhi unternahm eine Reihe von Vermittlungsversuchen und schickte schließlich ein Expeditionskorps – die Indische Friedenstruppe IPKF – in den Nordosten Sri Lankas. Dies erfolgte mit Zustimmung der Regierung in Colombo, die sich damals auf die Niederschlagung eines Aufstands linksextremer singhalesischer Gruppen im Süden konzentrieren wollte.3
Während sich die anderen tamilischen Gruppen von den Indern entwaffnen ließen, setzte die LTTE den Kampf gegen den ehemaligen Verbündeten fort: Am 21. Mai 1991 fiel Rajiv Gandhi in Madras einem Anschlag der Tamil Tigers zum Opfer. Die IPKF war bereits 1990 so sehr unter Druck geraten, dass sie abgezogen werden musste. In den folgenden Jahren starben im Guerillakrieg der LTTE gegen die Regierungsarmee 60 000 Menschen, 11 000 sind spurlos verschwunden. Die wenigen überhaupt angestrengten Verhandlungen scheiterten allesamt.
Am „Tag der Helden“ wirkt Batticaloa wie ausgestorben. Die Tamilen haben sich alle im Hinterland versammelt, das von der Guerilla kontrolliert wird. Hinter dem letzten Kontrollpunkt an der Stadtgrenze gibt es einen riesigen Verkehrsstau: Es geht durch vermintes Gebiet. „Erst seit dem Waffenstillstand können wir doch hierher kommen, um unsere Toten zu ehren“, erklärt ein Tamile. Ziel der Fahrt ist der Friedhof von Theravai: Eine gigantische sternförmige Anlage inmitten eines künstlichen Sees. Im Zentrum des Sterns stehen Standbilder berühmter Guerillakämpfer. Auf jedem Grabstein sind der Name des Kämpfers und sein Todestag eingraviert. Nur das Geburtsdatum fehlt – wahrscheinlich weil die LTTE sehr viele Kindersoldaten in den Kampf geschickt hat.
Zu Zehntausenden drängen sich die Menschen zwischen den Gräbern, man hört die Klagerufe von Müttern und Ehefrauen. Mit Sturmgewehren bewaffnete Mitglieder der Tiger, Männer und Frauen, sorgen für Ordnung. Notfalls schlagen sie auch mit dem Gewehrkolben zu. Mit Einbruch der Dunkelheit wird an jedem Grab eine Fackel entzündet. Der Anblick dieser ganzen Anlage im Schein des Feuers erinnert an die martialischen Zeremonien totalitärer Staaten.
Viele Tamilen nennen die LTTE ganz selbstverständlich „unsere Armee“ oder „unsere Regierung“. Kommt man auf die zweifelhaften Methoden der Guerilla zu sprechen – die Kindersoldaten, die Massaker an der Zivilbevölkerung – hört man stets die gleichen Antworten, allenfalls begleitet von einem resignierten Seufzer: „Ohne die LTTE hätten uns die Regierungsarmee und die Singhalesen allesamt abgeschlachtet.“ Die permanente Bedrohung hat die Tamilen in die Arme der Tiger getrieben – eine Art Leviathan, dem man sich unterwirft und dem man seine persönlichen Freiheiten opfert, weil er Schutz bietet. Außerdem waren die Tiger die Kraft, von der man sich die Durchsetzung eines unabhängigen Staats versprach. „Die Tiger können auf großen Rückhalt zählen“, meint ein westlicher Mitarbeiter einer Hilfsorganisation. „Im Alltag der Leute spielt die LTTE eine wichtige Rolle. Gibt es Probleme, dann wendet man sich an die Tiger. Und sie scheinen allmächtig und allgegenwärtig zu sein. Sie erheben Steuern, beschlagnahmen Fahrzeuge und rekrutieren Zwangsarbeiter. Sich gegen sie zu stellen, kommt offensichtlich niemandem in den Sinn.“
Im Gegenteil: Die Tamilen sind den Tigern dankbar. „Nur durch sie werden wir unseren Staat Eelam bekommen“, hört man immer wieder. Seit Februar 2003 ist zwischen der LTTE und der Regierung in Colombo ein Waffenstillstandsabkommen in Kraft, das nur wenige Male verletzt wurde. „Der Friedensprozess ist stabil“, meint ein europäischer Diplomat. „Niemand glaubt mehr an eine militärische Lösung, die Bevölkerung ist kriegsmüde, und selbst der alte Ultraradikale Prabhakaran hat die Forderung nach einem unabhängigen Staat zugunsten der föderativen Lösung aufgegeben. Das Land setzt jetzt ganz auf die internationale Gemeinschaft.“
Auf der großen Geberkonferenz mit Vertretern von rund 50 Staaten, die im Juni 2003 in Tokio stattfand, bekam Sri Lanka Hilfsgelder für die nächsten vier Jahre in Höhe von 4,5 Milliarden US-Dollar zugesagt – gekoppelt an die erfolgreiche Fortsetzung des Friedensprozesses. Den Waffenstillstand überwacht eine skandinavische Mission unter Führung Norwegens (Sri Lanka Monitoring Mission/SLMM). „Beide Seiten sind an der Einhaltung des Waffenstillstands interessiert“, erklärt Magnus Karlsson, der schwedische Befehlshaber der Marinekommission der SLMM. „Ein Friedensvertrag ist noch nicht in Sicht, aber wenigstens haben die Gegner schon mal den Finger vom Abzug genommen.“
Letztlich erklärt sich der Waffenstillstand aus einer militärischen Pattsituation. Guerillaführer Mahendram Balasingham gibt sich allerdings sehr selbstbewusst: „Wir sind die stärkste nationale Widerstandsbewegung der Welt.“ Tatsächlich hat sich die LTTE den Ruf der Unbesiegbarkeit erworben, weil sie die indische Friedenstruppe vernichtend geschlagen und auch über die Regierungstruppen Sri Lankas die Oberhand behalten hat. Die Tamil Tigers können sich überdies auf ein internationales Netzwerk stützen, erheben Abgaben bei Tamilen im Ausland und machen Geld mit diversen Schmuggelgeschäften.4 Ihre Kämpfer sind angewiesen, lieber zu sterben, als sich zu ergeben – deshalb hat jeder von ihnen immer eine Zyankalikapsel bei sich.
Die LTTE setzt gnadenlos auch immer wieder Selbstmordattentäter ein, wie zum Beispiel 1991 bei dem Anschlag auf Rajiv Gandhi oder zuletzt 2001 beim Anschlag auf den Flughafen von Colombo. Die siegreiche Gegenoffensive der LTTE zwischen November 1999 und April 2000 hat selbst die Experten verblüfft. Ein aus Sri Lanka stammender Politologe kam zu dem Schluss, damit sei „deutlich geworden, dass Colombo die LTTE niemals militärisch besiegen wird“5 . Magnus Karlsson von der SLMM beurteilt die Lage etwas differenzierter: „Die Armeeoffiziere versichern uns, sie könnten die Tiger schlagen. Aber auch ihnen ist klar, dass nur Verhandlungen eine endgültige Lösung bringen können, denn der Sieg hätte einen hohen Preis: immer neue Attentate und dauerhafte Instabilität.“
Am 4. November 2003 kündigte Staatspräsidentin Chandrika Kumaratunga, die Vorsitzende des linksnationalistischen Parteienbündnisses „People’s Alliance“ (PA) die Kohabitation mit der Regierung auf, die von der rechtsliberalen „United National Party“ (UNP) unter Premierminister Ranil Wickremesinghe gestellt wird. In einer Aktion, die als Protest gegen den angeblichen Ausverkauf in den Verhandlungen mit der LTTE gedacht war, rief sie den Ausnahmezustand aus (der letztlich nicht in Kraft trat), entließ die Innen-, Verteidigungs- und Informationsminister und setzte für zwei Wochen die Sitzungen des Parlaments aus.
Nach ihrer Wiederwahl im Jahre 2000 hatte die Präsidentin sich mit der UNP arrangieren müssen, die im Dezember 2001 bei den Parlamentswahlen dank ihres Versprechens, endlich für Frieden zu sorgen, 109 der 225 Mandate erringen konnte. Auch Kumaratunga hatte in den Jahren 1994 und 1995 schon mit der Guerilla verhandelt, wenn auch ohne Erfolg. Ihr politischer Handstreich vom 4. November war eindeutig gegen die „Friedensvorschläge“ gerichtet, die die LTTE drei Tage zuvor gemacht hatte. Dabei präsentierten die „Tiger“, obwohl sie sich offiziell für eine bundesstaatliche Lösung ausgesprochen hatten, das Modell einer Übergangsbehörde für die Selbstverwaltung von Eelam (ISGA). Diese Konstruktion stellte sich allerdings wie ein unabhängiger Staat dar, der jeder Kontrolle durch Colombo entzogen war. Das aber ist auch für die Mehrheit der Singhalesen völlig unannehmbar, bei denen die (von vielen so genannte) „Kapitulation“ gegenüber dem Terrorismus große Verwirrung stiftete.
EU-Vertreter beim Geburtstag des Guerillaführers
DER Friedensprozess wird von zwei Dritteln der Singhalesen abgelehnt, von 90 Prozent der Tamilen dagegen befürwortet.6 „Viele Singhalesen sind verbittert“, meint Kethesh Logonatha, Forschungsdirektor am politikwissenschaftlichen „Zentrum für politische Alternativen“ (CPA) in Colombo. „In ihren Augen erkauft die Regierung den Frieden mit der LTTE, indem sie ihr ein Drittel des Landes überlässt, ohne dafür Gegenleistungen zu erhalten. Sie fürchten eine Teilung der Insel und unterstellen der internationalen Gemeinschaft, dass sie parteilich ist.“ In Colombo war man zum Beispiel schockiert, als Chris Patten, Vertreter der Europäischen Union, Ende November 2003 dem unbeugsamen tamilischen Guerillaführer Prabhakaran ausgerechnet an dessen Geburtstag einen Besuch abstattete.
Für die Singhalesen ist Sri Lanka die Wiege des Theravada-Buddhismus. Sie verstehen sich als Hüter eines kulturellen Erbes, das ihrer Ansicht nach in Gefahr ist, von der indischen Kultur vereinnahmt zu werden – und diese Kultur repräsentieren für sie die hinduistischen Tamilen.7 „Für die Mehrheit der Singhalesen sind die Tamilen eine Minderheit innerhalb ihrer Nation“, erklärt Kethesh Logonatha. „Man kann ihnen gewisse Rechte gewähren, aber sie bleiben dennoch eine Minderheit.“ Ganz in diesem Sinne sehen viele die Diskriminierung der Tamilen nicht als rassistische Politik, sondern als eine Art „gerechten Ausgleich“ für die Privilegien, die diese Minderheit unter der Kolonialherrschaft genossen hatte.
Die Staatspräsidentin hat mit ihrem Handstreich vom November lediglich die Mehrheitsmeinung im nationalistischen Lager erneut zur Geltung gebracht. Auch Magnus Karlsson findet es „untragbar, dass die Hälfte der politischen Führungsschicht von den Verhandlungen ausgeschlossen war“, als es um die Zukunft des Landes ging. Er findet,die Singhalesen sollten zu einer gemeinsamen Haltung finden, um den maßlosen Forderungen der Tiger entgegentreten zu können. Der Friedensprozess kommt nicht voran. Die Gespräche stagnieren. Zudem werden sie von den Spitzen beider Exekutiven geführt, wogegen der Abschluss eines Friedensabkommens eine Verfassungsänderung erfordern würde, die im Parlament von Colombo eine Zweidrittelmehrheit braucht.
Umso schwerer wiegt die Drohung der Präsidentin, vorgezogene Neuwahlen anzuordnen – angesichts der Stimmung in der singhalesischen Bevölkerung käme das einem Ende der Friedensverhandlungen gleich. An der Fortführung der Gespräche ist vor allem den USA gelegen. Sie wollen Sri Lanka um jeden Preis stabilisieren, weil sie der buddhistischen Insel in einem Indischen Ozean, der von seinen Anrainern als ein „muslimischer See“ wahrgenommen wird, einen hohen strategischen Stellenwert zuschreiben. Das macht die Tiger nervös, und sie zeigen erst einmal die Krallen: „In Colombo herrscht ein solches Chaos, dass wir gar nicht mehr wissen, mit wem wir reden sollen“, erklärt S. P. Tamilselvan. Der dreißigjährige, schwer verwundete Kriegsheld ist offiziell die Nummer zwei der Bewegung und derzeit Führer ihres politischen Flügels. Er droht ganz unverhohlen: „Wir sind für den Frieden, aber wenn man den Tamilen den Krieg aufzwingt, wird die LTTE ihren Verteidigungspflichten nachkommen.“
Im Rahmen einer bundesstaatlichen Lösung müssten die Tiger die Oberhoheit der Zentralregierung in Colombo anerkennen. Das wird ihnen nicht leicht fallen, denn sie haben im Norden der Insel de facto bereits einen eigenen Staat etabliert. Wenn man den letzten Kontrollposten der Regierung in Vavuniya passiert hat, befindet man sich in einer Zone, die allein von der LTTE kontrolliert wird. An einer großen Grenzstation mit dem Schild „Zollzentrale des tamilischem Eelam“ verlangt die Guerilla eine Abgabe für alle aus dem Süden eingeführten Produkte. In der Ferne sieht man Kilinochchi, die Hauptstadt der Tiger. In der von schweren Kämpfen gezeichneten Stadt hat die LTTE ihr Hauptquartier mit Verwaltung und Polizei eingerichtet. Uniformierte Polizisten stellen bei zu schnellem Fahren Strafzettel aus, die am Postschalter zu bezahlen sind, damit die Beamten erst gar nicht in Versuchung kommen.
LTTE-Polizeichef Mahendram Balasinghham äußert sich sehr zufrieden: „Unsere Polizei ist unbestechlich und wendet unser eigenes Strafrecht an. Wir bauen hier einen eigenen Staat auf. Überall, wo wir die feindlichen Strukturen zerstört haben, konnten wir unsere Institutionen aufbauen.“ So sieht es auch S. P. Tamilselvan: „Nachdem wir die Regierungstruppen verjagt hatten, mussten wir überall eine neue Verwaltung etablieren, um die Bevölkerung zu versorgen.“ Diese Institutionen sind völlig in der Hand der Einheitspartei, gegenüber Colombo muss hier niemand mehr Rechenschaft ablegen.
Im Norden Sri Lankas liegt die Halbinsel Jaffna. Die gleichnamige Stadt, einst eine blühende tamilische Metropole, wurde wiederholt von der indischen Luftwaffe und den Streitkräften der Regierung bombardiert und ist heute ein vermintes Trümmerfeld. Ein Drittel der Halbinsel gilt als „Hochsicherheitszone“ und wird über ein flächendeckendes Netz von Kontrollpunkten von 30 000 Regierungssoldaten überwacht. Doch jetzt, nach Jahren der Isolation, beginnt Jaffna allmählich wieder zu neuem Leben zu erwachen. 170 000 Flüchtlinge sind bereits in die Stadt zurückgekehrt, und mancher musste dabei feststellen, dass sein Haus von der Armee beschlagnahmt wurde.8 Auch die Stromversorgung funktioniert endlich wieder, und die Läden füllen sich mit Waren.
An den Wochenenden kommen auch die ersten singhalesischen Touristen – auch dies ein vorsichtiges Zeichen des Wandels. Die Einwohner von Jaffna betrachten die Armee – die „Singhalesen“ – natürlich als Besatzer und hoffen auf ihren Abzug. Aber sie konnten auch feststellen, dass die Soldaten seit dem Waffenstillstandsabkommen ein besseres Benehmen an den Tag legen. Die militärische Präsenz ist zwar nicht zu übersehen, aber im Alltag hat längst die LTTE das Sagen. Die Tiger erheben direkte und indirekte Abgaben, und ihre Autorität wird auch von der Verwaltung respektiert. Etliche der alten Beamten kümmern sich sogar darum, dass die Leute ihre „Guerillasteuer“ auch korrekt begleichen.
Die Tiger verstehen es jedenfalls, ihre Macht zügig auszubauen. In Kilinochchi sind sie die alleinige Autorität, und auch in Jaffna haben sie sich schon teilweise etabliert. Die Menschenrechtsorganisationen Human Rights Watch und amnesty international werfen der LTTE vor, den Waffenstillstand zur Liquidierung innenpolitischer Gegner auszunutzen, und kritisieren in diesem Zusammenhang die vornehme Zurückhaltung der staatlichen Kräfte und der SLMM.9 Offenbar möchte sich derzeit niemand mit der Guerilla anlegen. In deren Hoheitsgebiet im Nordosten der Insel ereignen sich pro Monat zwischen fünf und zwölf politische Morde.
V. K. Jakan, ehemaliger Parlamentsabgeordneter und Sprecher der Demokratischen Volkspartei von Eelam (EPDP), empfängt uns in Jaffna in einem Militärbunker. „Seit dem Waffenstillstand wurden fünf unserer Führungsmitglieder getötet, weitere zwanzig sind verschwunden“, gibt er zu Protokoll. Was solche Praktiken angeht, hat allerdings auch die EPDP keine weiße Weste. Dennoch muss man im Herrschaftsgebiet der Tiger für die Meinungsfreiheit das Schlimmste befürchten. Andere Parteien wie die „Vereinigte Tamilische Befreiungsfront“ (Tulf) und die „Befreiungsfront des tamilischen Eelam“ (Telo) haben sich inzwischen den Tigern angeschlossen und sie als „alleinige Vertreter der Tamilen“ anerkannt – doch gewiss mehr aus Not denn aus Überzeugung. Ein Führungsmitglied der Telo, das anonym bleiben möchte, gibt dafür eine ehrliche Erklärung: „Für das tamilische Volk gibt es jetzt keine Alternativen mehr. Die Tiger haben die Kämpfer der Telo schon 1986 dezimiert. Und wenn ich heute öffentlich gegen sie auftreten würde, wäre das mein Todesurteil.“
Besonders umstritten ist der Osten, das Gebiet um Batticaloa und Trincomalee. In dieser Region stellen die Muslime, die landesweit nur 7 Prozent der Bevölkerung ausmachen, wahrscheinlich die Mehrheit dar. Sie sind eine relativ wohlhabende und einflussreiche Schicht von Händlern (und Geldverleihern), die zwar tamilisch sprechen, aber großen Wert auf ihre muslimische Identität legen. Für die Anhänger der LTTE sind sie „Kriegsgewinnler und Spione der Regierungstruppen“.
Immer wieder werden Muslime ermordet. Zuletzt fand man im November 2003 in Kinniya, an der Bucht von Triconmalee, die verstümmelten Leichen dreier Bauern in der Nähe eines LTTE-Lagers. Zwar verhängte die Regierungsarmee daraufhin eine Ausgangssperre, aber inzwischen sind hunderte von Familien in Panik aus ihren Wohnorten geflohen. Ganz offensichtlich geht es den Attentätern darum, die muslimische Bevölkerung aus Triconmalee zu vertreiben; die Stadt verfügt über einen der besten Naturhäfen in ganz Asien.
In Kattan Kudy bei Batticaloa sind wir bei den Ältesten der muslimischen Gemeinschaft zu Gast. Ganz in der Nähe steht die Moschee, in der 1990 über hundert Muslime von Kämpfern der Tiger umgebracht wurden, während des Gebets. „Unter dem Regime der LTTE zu leben wäre für uns unerträglich“, erklärt einer der Scheichs, der seinen Namen nicht genannt wissen will. „Wir können ihnen nicht glauben, wenn sie uns versichern, dass sie unsere Rechte respektieren werden.“ Die muslimische Minderheit fordert, dass ihre politische Vertretung, der „Sri Lanka Muslim Congress“ (SLMC), an den Friedensverhandlungen beteiligt wird. „Wir wollen eine eigene politische Einheit innerhalb eines dezentralisierten Staates, nach dem Vorbild von Pondicherry10 . Die Zukunft dieses Landes liegt im Föderalismus, und nicht in ethnischen Säuberungen.“
Sri Lanka unternimmt die ersten, unsicheren Schritte in Richtung Frieden, doch der Weg dahin ist noch weit. Nach den Vorstellungen der LTTE müsste ihre Kontrolle über das tamilische Gebiet im Nordosten in eine anerkannte Staatlichkeit münden. Die Guerilla trägt die Verantwortung für schwere Menschenrechtsverletzungen. Doch darüber würde die internationale Gemeinschaft wohl hinwegsehen, wenn man für Sri Lanka nur endlich die politische Stabilität erreichen könnte, die Gewinn bringende Investitionen in dieses Land ermöglichen würde.
Manche Experten hoffen auf Veränderungen innerhalb der LTTE: Man setzt auf den Einfluss der Exiltamilen, die über zwei Jahrzehnte Erfahrungen mit der westlichen Demokratie gesammelt haben. Und auf diejenigen Führungsfiguren, die eine pragmatische Haltung einnehmen und sich immer mehr als Politiker denn als Untergrundkämpfer verstehen.
deutsch von Edgar Peinelt
* Journalist