13.02.2004

Klitzekleine Kopftücher und eine Riesenwut

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Klitzekleine Kopftücher und eine Riesenwut

Von WENDY KRISTIANASEN *

IN Teheran ist auf Schritt und Tritt zu spüren, dass die Menschen keinerlei Erwartungen mehr an das politische System haben. Nuschin, 22 Jahre alt und Journalistin beim Internet-Kulturmagazin TehranAvenue, fasst die sieben Jahre unter Reformpräsident Mohammed Chatami zusammen: „Was 1997 noch neu und aufregend war, wurde langweilig, weil sich ja doch nichts änderte.“

Damit erlebt sie die zweite Enttäuschung, seit die Geistlichen die Macht übernommen haben. „Zuerst haben sie Gefühle ausgenutzt, mit denen die Leute leicht zu packen sind: ihre Religiosität, ihre Gottesfürchtigkeit, ihren Aberglauben. Als meine Eltern jünger waren, traten viele Leute für die Rückbesinnung auf traditionelle Werte ein. Aber die meisten merkten bald, dass man ihnen mehr Tradition zumutete, als sie verlangt hatten. Als wir größer wurden, registrierten wir, wie unsere Eltern auf das alles reagierten, und wir waren noch verwirrter als sie, konnten noch weniger zwischen richtig und falsch unterscheiden. Die Leute lehnten die Politik ab, weil sie ihnen als eine große Lüge erschien.“

Nuschin war 16 Jahre alt, als dann Chatami Präsident wurde – nach einem erdrutschartigen Wahlsieg, bei dem er 21 von 30 Millionen abgegebenen Stimmen erhielt. Chatamis damalige Bewegung Dovvom-e Chordad versprach eine zivile Gesellschaft mit rechtsstaatlichen Strukturen und freier Meinungsäußerung. In seinem Wahlkampf hatte er angekündigt, sich vor allem für die Belange der Jugendlichen und der Frauen einzusetzen, und im Juni 2001 wurde Präsident Chatami im Amt bestätigt – mit 77 Prozent Stimmenanteil.

Doch weil Chatami sich gegenüber den Konservativen nie durchsetzte, hat sich für die jungen Leute in Teheran nicht viel geändert. Wie Nuschin erzählt, hat sie sich immer für Politik interessiert, doch bei allen Jüngeren sei das anders: „Die sind politisch völlig apathisch und schieben alle Schuld auf die Islamische Republik. Mittlerweile verhalten wir uns alle wie Diplomaten: Um etwas zu erreichen, halten wir uns an die Regeln.“

Bis in die 1990er-Jahre hinein hatte nur die kleine Minderheit, die irgendwo im Ausland studieren konnte, Kontakte zum Westen. Dann gab es plötzlich Satellitenschüsseln, und das Internet kam in den Iran. Der Westen überrollte das Land wie eine gewaltige Flutwelle, brachte den Jugendlichen völlig neue Bilder und Eindrücke. Nuschin meint: „Amerika ist ein Symbol der Freiheit. Jeder will in die USA, will dort leben oder zumindest mal hinfahren, um Spaß zu haben. Die Menschen dort kommen aus völlig unterschiedlichen Milieus, und die herrschenden Regeln werden dir nicht aufgezwungen. Und die Leute nehmen dich viel offener auf als in Europa, wo wir uns wie Fremde fühlen.“ Dass das iranische Regime die USA kategorisch ablehnt, macht sie erst recht zum Objekt der Begierde.

Das Café ist in Teheran ein ganz wichtiger Ort – einer der wenigen, wo Jungen und Mädchen sich öffentlich und außerhalb des Hauses treffen können, in Gruppen oder auch als Paare. „Aber das gilt nur für Teheran“, meint Behrang verdrossen. Er hat die Zulassung für die Universität Teheran nicht geschafft. Deshalb studiert er jetzt Veterinärmedizin in Täbris.1

In Teheran sind die revolutionären Ordnungshüter, etwa die Basidschi-Milizen, in den letzten zwei Jahren etwas lockerer geworden. Junge Männer, die cool wirken wollen, tragen lange Haare. Bis zur äußersten Grenze reizen Mädchen die traditionelle iranische Kleiderordnung aus. Sie schreibt eigentlich Hosen vor, darüber ein weites Übergewand und das Kopftuch. Aber es kommt darauf an, wie man diese Kleidung trägt.

Schwarz ist eigentlich die Farbe des Tschador und der alten Frauen, aber sie wird auch von den jungen Mädchen geschätzt, die ein kurzes und eng geschnittenes Übergewand bevorzugen. In der Motahari-Allee in der Nähe des Zentrums habe ich ein Mädchen in knallig orangefarbenen Stöckelschuhen gesehen, mit einer orangefarbenen Handtasche, einem klitzekleinen orangefarbenen Kopftuch und einem aufreizend engen und kurzen Übergewand, das nur knapp über ihren Hintern reichte. Der passende Lippenstift in Knallorange komplettierte diese höchst aufmüpfige Form der Selbstdarstellung.

Ganz in der Nähe, im Laleh-Park, spielen vier Jungen Gitarre in der Wintersonne. Gleich daneben gleitet ein Mädchen elegant auf ihren Rollerblades vorbei. Sie heißt Karina, ist 22 Jahre alt und Armenierin. Sie hat Buchhaltung an einem technischen College studiert und arbeitet jetzt in einem Büro. Sie trägt ein kurzes, enges Übergewand und ein blau schimmerndes Kopftuch, das so knapp bemessen ist, dass an den Seiten ihre widerspenstigen roten Locken herauspurzeln. Die Locken reichen ihr fast bis zur Hüfte.

Ich frage sie, ob sie keine Angst vor den Basidschi hat. „Im Park ist es okay, hier gibt es nur die Park-Polizei. Außerhalb des Parks gibt es sogar muslimische Mädchen, die mit einem noch viel knapperen Outfit als wir davonkommen.“ Und dann meint sie noch: „Das Leben hier ist so langweilig. Es gibt nichts zu tun, man kann nirgends hingehen. Zum Beispiel ins Kino. Da laufen nur Filme über das wirkliche Leben, und vom Alltag habe ich auch so schon genug.“

In der Nähe sitzen Grüppchen junger Leute um runde Tische. Die Mädchen haben auf der einen Seite Platz genommen, die Jungs gegenüber. Etwas weiter sieht man Pärchen auf den Parkbänken, die schweigend Händchen halten. Die Mädchen tragen keine demonstrative Kleidung. Mutig sind sie dennoch.

Aber die eigentlichen Vergnügungen in Teheran stellen die Disco-Partys dar, die privat abgehalten werden. Sie sind sicher, nach außen abgeschirmt, und in weniger traditionellen Häusern gibt es dann sogar Alkohol. Nuschin bekommt strahlende Augen, wenn sie von diesen Partys spricht: „Sie sind einzigartig. Da treffen sich Gruppen, die einen ganz starken Zusammenhalt haben, Menschen, die einander wirklich etwas bedeuten. Deshalb herrscht da eine ganz eigene Intimität.“

Mariam ist 14 und geht noch zur Schule. Sie liebt die Cafés und Pizzerien, die Burger-Läden und natürlich die Disco-Partys. Sie und ihre Freunde haben eine ganz eigene Sprache entwickelt. Für cool sagen sie „plus“, für trendy „titanisch“, und schick heißt „ba-class“. Mädchen zwischen 10 und 14 sind „fenchul“, also Finken, ein Polizist ist ein „kaktus“, die Geheimdienstler nennt man „kaftar“, Tauben2 .

Mariams Lieblingsband heißt Arian, die erste iranische Pop-Gruppe, die eine eindrucksvolle Erfolgsstory aufweisen kann. Von ihren zwei Alben auf CD und Video haben sie über eine halbe Million Exemplare verkauft. Das Besondere an dieser Popgruppe ist, dass sie aus Mädchen besteht. Die drei Sängerinnen tragen cremefarbene Kopftücher und brechen traditionelle Vorstellungen über die Geschlechterrollen auf – für junge Iranerinnen eröffnet sich mit Arians Erfolg ein ganz neuer Raum für ihre Zukunftsträume.

Für diese kommerzielle Musik haben die Leute, die das Magazin TehranAvenue herausgeben, nicht besonders viel übrig. Sie organisieren Wettbewerbe mit Underground-Musik und bringen experimentelle Pop-, Rock- und Fusion-Bands zusammen, die sonst nur selten auftreten können. Die Veranstalter solcher Events wissen, dass die Autoritäten ständig ein Auge auf sie haben. Aber weil sie sich vom Mainstream fern halten, machen sie sich auch keine allzu großen Sorgen. Je alternativer und je kleiner das Publikum, desto weniger hat eine solche Gruppe zu befürchten.

Die Website von TehranAvenue (www.tehranavenue.com) erscheint auf Persisch und Englisch. So können sich auch Exiliraner der zweiten Generation auf dem Laufenden halten. Die Internetpräsenz ist grafisch anspruchsvoll gestaltet und berichtet – oftmals in ziemlich respektlosem Ton – über das Teheraner Unterhaltungsangebot, über Kino, Theater und Konzerte. Hinzu kommen Berichte, etwa über ein Frauen-Fußballteam, das unter den schwarzen Kopftüchern rote Mannschaftstrikots trägt. In anderen Artikeln geht es um Sexualität und Aids. Und der Besitzer eines Internetshops wird interviewt, der auf die neuartige Idee kam, Kondome über seine Website zu verkaufen – und zwar ganz legal.

Das große Thema neben Alkohol und Drogen – Haschisch, Marihuana, Ecstasy, eigentlich alles, was das Herz begehrt – ist Sex. Nuschin sieht Teherans Jugend in zwei Lager geteilt: Die Älteren, zwischen 23 und Mitte 30, scheinen Sex noch als etwas Heiliges zu empfinden, was man nur aus Liebe tut, in einer ernsthaften, langfristigen Beziehung. Wer hingegen unter 23 ist und im Klima der Reformerwartung aufwuchs, lebt für den Augenblick. Ihnen ist nichts mehr heilig, also auch nicht Sex. Der ist für Jungs wie Mädchen nur ein Event, ein flüchtiges Erlebnis. Und weil diese Kids zusammen aufgewachsen sind, gibt es in der Clique kaum Tabus, und auch Jungfräulichkeit für die Mädchen ist nicht mehr so wichtig.

Doch für die Leute ab Mitte 20 ergeben sich, wenn sie eine ernsthafte Beziehung beginnen, gesellschaftliche Zwänge. So berichtet Schirin, eine 24-jährige, erfolgreiche Fotografin: „Du kannst zwar ins Kino und in den Coffee Shop gehen, aber ein Ausflug allein mit deinem Freund ist ausgeschlossen. Zu deinen Eltern kannst du ihn auch nicht mitnehmen. Also musst du heiraten.“ Obwohl es im Iran ein recht unkompliziertes System der so genannten „Ehen auf Zeit“ gibt, wird eine solche Beziehung nicht gerne gesehen. Also haben Schirin und ihr Freund geheiratet, obwohl sie sich keinen eigenen Haushalt leisten konnten: „In diesem Land kannst du erst richtig leben, wenn du verheiratet bist.“

Scharsad ist 25, stammt aus Schiras, weit im Süden, und arbeitet in Teheran in der Werbebranche. Sie hat ein anderes Problem. Scharsad ist eine der wenigen unverheirateten jungen Frauen, die alleine in ihrer eigenen Wohnung leben. „Und das ist gar nicht einfach“, erklärt sie. „Meine Nachbarn beobachten mich ständig, sie registrieren, wann ich komme und wann ich gehe. Sie sind so was wie die selbst ernannte Verwandtschaft.“

Dr. Mohammed Sanati kann all dies nur bestätigen. Der Professor an der Abteilung für Psychiatrie der Universität von Teheran leitet Therapiegruppen, deren zwölf bis fünfzehn Teilnehmer meist noch jung sind. Nicht einmal die Hälfte von ihnen interessiert sich heute für Politik, schätzt der Psychiater, und 10 Prozent seiner Klienten haben eine extreme Wut im Bauch. Einer von ihnen ist Jassin. Er war Mitglied des Studentenverbandes seiner Universität, wurde dann aber hinausgeworfen. Er berichtet, dass Politik heute nicht mehr so ernst genommen wird wie zu der Zeit, als Chatami an die Macht kam: „Nur noch ein Zehntel aller Studenten betrachten sich heute als radikal.“

Andererseits glaubt Dr. Sanati, dass viele junge Leute heute immer noch gläubig sind. Ausnahmslos alle seine Patienten erzählen, dass ihre Familien in unterschiedlichem Maße religiös geprägt sind, „vor allem als Tradition“. Die Jüngeren, die das Wertesystem der Eltern ablehnen und trotzdem nicht atheistisch werden, bestehen darauf, sich auf ganz neue und eigene Weise zu Religion zu bekennen. Dazu gehört, die Glaubensregeln auf neue, vielleicht privatere Weise zu interpretieren, zum Beispiel, wann und wie man zu beten oder zu fasten hat. Diese Generation versucht, irgendwie an einem Gott festzuhalten.

So mag ein junger Mann auch heute noch eine Fahrt nach Maschhad unternehmen, zum wichtigsten Pilgerort der iranischen Schiiten. Aber es ist nicht ausgeschlossen, dass er ein Goldkettchen um den Hals trägt. Damit missachtet er das Gesetz. Denn für Männer ist im Iran nur Silberschmuck gestattet.

deutsch von Elisabeth Wellershaus

* Journalistin, Mitarbeiterin von Le Monde diplomatique, London.

Fußnoten: 1 Im Jahre 2003 studierten an den iranischen Universitäten rund 60 Prozent Frauen. 2 Nachzulesen im Taschenwörterbuch des persischen Slang von Mehdi Samai, erschienen im Markas-Verlag, Teheran 2003.

Le Monde diplomatique vom 13.02.2004, von WENDY KRISTIANASEN