13.02.2004

Die Zeit arbeitet gegen die Wächter, aber noch nicht schnell genug

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Die Zeit arbeitet gegen die Wächter, aber noch nicht schnell genug

Wie der Machtkampf um die iranischen Parlamentswahlen vom 20. Februar ausgeht, ist ungewiss. Der islamische Klerus zeigt Stärke, der Protest der Reformparteien wirkt hilflos, und die apathische Bevölkerung verweigert ihnen Sympathie und Solidarität. Doch jenseits der Tagespolitik ist der Kurswechsel hin zu einer weltlicheren Gesellschaft nicht mehr aufzuhalten, im politischen Denken ist er sogar bereits in vollem Gange. 25 Jahre nach der Islamischen Revolution arbeitet die Zeit gegen die Konservativen.

Von BERNARD HOURCADE *

DIE Iraner haben lernen müssen, mit Katastrophen umzugehen. Das gilt gleichermaßen für Erdbeben, für Kriege und für soziale Erschütterungen. Sie wissen, wie man zerstörte Städte wieder aufbaut, Wellen der Repression übersteht und den Alltag in einer schwer geprüften Gesellschaft bewältigt.

Seit dem Sommer 2003 hat es den Anschein, als ob sich die iranische Geschichte ständig beschleunige. Es geht nicht um den „Regimewechsel“, den die USA und viele Iraner so gerne sähen, auch nicht um eine soziale Revolution. Das an Traditionen reiche Land begibt sich auf einen neuen Weg, der nicht mehr nur von den alten Eliten und den Großmächten bestimmt wird, sondern von allen Bürgern, von allen Provinzregierungen, aber auch von der internationalen Gemeinschaft.

Im Oktober 2003 kamen drei Ereignisse zusammen, in denen sich die ganze Bandbreite des Wandels abbildet. Am 10. Oktober entschied das Nobelpreiskomitee in Oslo, den Friedensnobelpreis 2003 an die Anwältin Schirin Ebadi zu verleihen. Am 21. Oktober unterzeichnete die iranische Regierung das Zusatzprotokoll zum Atomwaffensperrvertrag (Non-Proliferation Treaty, NPT). Und am 27. Oktober beschloss der französische Renault-Konzern, eine Großinvestition im Iran zu tätigen – das erste große Engagement eines ausländischen Konzerns seit 1979.

Diesen drei symbolischen „Oktoberrevolutionen“ sind lange und erbitterte Auseinandersetzungen vorausgegangen. Nachdem viele Iraner über Jahre ihre Hoffnung auf den reformorientierten Staatspräsidenten Mohammed Chatami gesetzt haben, ohne dass diese sich erfüllt hätten, könnten die neuerlichen Entwicklungen sich als eine weitere bizarre Episode in der politischen Geschichte des Landes erweisen. Doch 1997, als Chatami zum ersten Mal gewählt wurde, waren die USA noch nicht in Kabul. Und erst recht nicht in Bagdad, also unmittelbar an der iranischen Grenze.

Chatami gehörte einst zu den Beratern von Ajatollah Chomeini, dem Gründer der Islamischen Republik. Im Unterschied zu manchen Weggefährten verfolgte Chatami die Idee, den Islam von den Beschränkungen eines kulturellen, sozialen und politischen Konservatismus zu befreien und zu einer konstruktiven Kraft in der modernen Welt zu machen. Doch diese Utopie eines anderen politischen Islam ist im innenpolitischen Machtkampf inzwischen endgültig gescheitert.1

Dabei ist die Kraft dieser Idee nicht gebrochen. Unter den Religionsgelehrten in der Heiligen Stadt Qom und unter islamischen Intellektuellen finden sich noch immer viele Anhänger eines Reformislam.2 Doch mit solchen Vorstellungen lassen sich heute die Massen schon längst nicht mehr mobilisieren. Eine andere Fraktion der Erben Chomeinis hat sich durchgesetzt. Sie ist darauf bedacht, die politischen Strukturen und Methoden aus der „revolutionären Phase“ und den Jahren des Kriegs gegen den Irak zu konservieren. Das Ergebnis ist ein Patt zwischen Konservativen und Reformern, das sich in einer Lähmung des politischen Prozesses ausdrückt. In der Bevölkerung führt diese Lage zu einer wachsenden Entfremdung vom Islam insgesamt. Dennoch wirkt die von Chatami ausgelöste Debatte um die Erneuerung der Religion selbst unter den heutigen, deutlich veränderten Bedingungen fort.

In den fünfundzwanzig Jahren seit seiner staatlichen Institutionalisierung hat sich der iranische Islam modernisiert und dabei Kultur, Politik und Wirtschaft des Landes ebenso geprägt wie auch seine internationalen Beziehungen. Nach der Revolution von 1979 hatte eine neue Elite von Korangelehrten, Militärführern und Funktionären die Machtpositionen der Republik besetzt. Als ihr verlängerter Arm wirkten die Pasdaran, die Revolutionswächter, die 1980 an den höheren Schulen angeworben und mit dezidiert politischem Auftrag per Sondergesetz in die Universitäten geschleust worden waren. Die neue Führungsschicht, die ihre Privilegien der Revolution und dem Klerus verdankt, konnte sich durch die seit 1990 von Präsident Rafsandschani betriebene Politik der Privatisierung wirtschaftlich gesundstoßen. Diese Schicht hat mit den Basarhändlern, der traditionellen wirtschaftlichen Führungsmacht mit ihren Verbindungen weit in den Staatsapparat hinein, nicht mehr viel zu tun.

Um die Interessenvertretung der neuen Elite – die politisch und sozial überwiegend konservativ, in Bezug auf ihre Geschäfte und internationalen Kontakte aber durchaus liberal eingestellt ist – bemüht sich die Hezbe Kargosaran-e Sazandegi, die Aufbau-Partei. In ihr organisieren sich die Technokraten, und sie siegte bei den Kommunalwahlen 2003 in allen großen Städten – bei allerdings niedriger Wahlbeteiligung. Für die Parlamentswahlen am 20. Februar 2004 und die Präsidentschaftswahlen im Mai 2005 rechnet sie sich gute Chancen aus.

Präsident Chatami hat keine gute Presse. Allgemein wirft man ihm vor, seine Anhänger enttäuscht zu haben. Doch unter dem Strich fällt die Bilanz seiner bisher sieben Amtsjahre gar nicht so schlecht aus. Chatami und seine Gefolgsleute haben einer Generation junger Iraner, die in der Islamischen Republik aufgewachsen sind, die Teilhabe am politischen System ermöglicht. Es war ein schwieriger Kampf, vor allem für die Frauen, aber er blieb am Ende erfolgreich, weil die Regierung die Repression eindämmte und Schritte in Richtung Rechtsstaat unternahm.

Es bleibt noch viel zu tun, doch zweifellos haben die Jahre unter Chatami dazu beigetragen, in der politischen und sozialen Realität – vor allem in den ländlichen Provinzen des Iran – neue Vorstellungen von Demokratie, Meinungsfreiheit und Ansprüchen an die staatliche Verwaltung durchzusetzen. Diese neuen Bedingungen erst machen es denkbar, dass dem politischen Islam eine neue Bedeutung zuwächst.

Was die Altersstruktur angeht, unterscheidet sich der Iran nicht von den anderen Staaten in der Region: Die Hälfte der Bevölkerung ist jünger als zwanzig Jahre. Aber die jungen Iraner haben ein besonderes Selbstbewusstsein entwickelt. Wer in der Zeit nach der Islamischen Revolution aufgewachsen ist, hat die großen Auseinandersetzungen um den innenpolitischen Kurs und die Sittengesetze, die das eigene Leben maßgeblich bestimmten, mitvollzogen.3 Selbst in den entlegensten Provinzen entstand eine zuvor unbekannte Kultur der Diskussion und Einmischung. Bewirkt wurde dies auch durch die Bildungsoffensive der Regierung, denn heute gibt es kaum noch Analphabeten. Und inzwischen lebt die Mehrheit der Bevölkerung in den Städten.4

Die Iraner lassen sich nicht den Mund verbieten. Es wird öffentlich debattiert, gestritten und protestiert. Polizei und Justiz sind in der Hand der religiösen Machthaber, doch sie schaffen es nicht mehr, die Verbreitung von Informationen und politischen Forderungen zu unterdrücken. Um so härter fallen ihre gezielten, „exemplarischen“ Strafaktionen aus. Sie richten sich vor allem gegen Journalisten. Doch diese gezielte Repression wird heftig und in manchen Fällen auch erfolgreich kritisiert – selbst in den Reihen der Regierung selbst.

Wie ihre Altersgenossen in aller Welt wünschen sich auch viele junge Iraner Zugang zur internationalen Kultur und den Segnungen der Konsumgesellschaft. Wählen dürfen sie schon mit 15, weshalb sie genau wissen, welches politische Gewicht ihnen in der Gesellschaft zukommt. Noch sind diese „Kinder Chomeinis“ zu jung, um bald die Macht zu übernehmen. Doch haben sie in der Ära Chatami eine Menge gelernt, und sie könnten die kommenden fünf Jahre nutzen, um ihre Vorstellungen zu präzisieren und als politische Forderungen zu formulieren. Am Ende werden sie die islamischen und technokratischen Führungszirkel ablösen, die sich heute noch an die Macht klammern. Ein solcher Wechsel in der Führung bedeutet keine Revolution, aber er wird auch nicht reibungslos über die Bühne gehen. Wie gewaltsam dieser Prozess verlaufen wird, dürfte auch davon abhängen, wie beharrlich sich Institutionen wie der Wächterrat gegen diese Entwicklung stemmen.

Vielleicht noch ausgeprägter als die Jugendlichen spielen die Frauen eine neue, dynamische Rolle in Politik und Gesellschaft.5 Die Statistik lässt erkennen, dass sich ein unumkehrbarer Wandel vollzogen hat, dessen Folgen noch kaum absehbar sind. 62 Prozent der Erstsemester an den Universitäten sind Frauen. In den ländlichen Gebieten können 62 Prozent der Frauen lesen und schreiben; 1976 waren es nur 17 Prozent. Die durchschnittliche Kinderzahl liegt heute unter 2,0 – im Jahr 1980 lag sie noch bei 6,8. Ähnliche Entwicklungen gibt es auch in Ländern wie Syrien oder Algerien.

Das selbstbewusste Verlangen vieler Frauen nach Teilhabe am öffentlichen Leben wird von fortschrittlichen Religionsgelehrten gestützt, die zwischen dem Islam als Religion und als Träger sozialer Werte unterscheiden, also die Glaubensangelegenheiten von Herrschaftstraditionen und patriarchaler Unterdrückung trennen. Gegen allen Anschein – der etwa durch den offiziellen Verschleierungszwang erzeugt wird – herrschen im Iran durchaus günstige Bedingungen für eine umwälzende Veränderung der Stellung der Frau in einem islamisch geprägten Land (siehe dazu den Beitrag auf Seite 14).

Außenpolitisch ließ die Islamische Republik von Anfang an keinen Zweifel an ihrer Ablehnung der internationalen „Ordnung“. Sie unterstützte die Palästinenser, was sich auch daran zeigte, dass Jassir Arafat als erster ausländischer Führer nach dem Machtwechsel 1980 nach Teheran eingeladen wurde. Das neue Regime machte nach der Revolution auch unverzüglich Front gegen die Vereinigten Staaten; die 444 Tage dauernde Geiselhaft der US-Botschaftsangehörigen sorgte für weltweite Öffentlichkeit.

Dafür musste die iranische Führung Embargos und internationale Isolierung hinnehmen. Und sie musste einen acht Jahre dauernden Krieg überstehen, der zu einem Wettrüsten und zu Konflikten führte, deren Folgen wir bis heute im Irak erleben. Während des Kriegs gegen den Irak gehörte es zu den Zielen der iranischen Außenpolitik, die islamische Revolution und den Kampf gegen die Vereinigten Staaten zu exportieren, auch mit den Mitteln des Terrors und, etwa im Libanon, durch Bündnisse mit Untergrundbewegungen.

Da den iranischen Truppen an der irakischen Front der Nachschub an Material ausging, versuchte die Regierung mit Guerillaoperationen und Programmen zur Herstellung von Raketen, chemischen wie atomaren Massenvernichtungswaffen die Schwäche ihrer konventionellen Truppen zu kompensieren. Kurzfristig erwiesen sich die Anstrengungen der waffentechnischen Aufrüstung als wenig bedrohlich. Aber der Iran gilt seither als potenzielle Gefahr. Mit ihren Hasstiraden gegen Israel, den „Großen Satan“ Amerika und letztlich gegen alle Welt trug die Führung in Teheran dazu bei, dass der Iran als „Schurkenstaat“ eingestuft werden konnte. Diesen Ruf konnte er bis heute noch nicht ganz loswerden.

Im Rückblick auf die vergangenen Jahrzehnte fällt nicht so sehr die Rolle des Iran als internationaler Übeltäter ins Auge, der auf der „Achse des Bösen“ verortet wird, als vielmehr das Ausmaß politischer Unabhängigkeit, die das Land erlangt hat. Sie artikuliert sich in der Parole „Weder Ost noch West“ und in den nicht nachlassenden Bemühungen der iranischen Diplomatie, Beziehungen zu internationalen Organisationen und möglichst vielen Ländern vor allem der Dritten Welt zu knüpfen. Zweifellos ist aus dem Iran in der Ära der Islamischen Republik eine unabhängige Nation geworden. Stark ist sie nicht; mit ihrem veralteten Militärapparat stellt sie für keine ihrer insgesamt fünfzehn Nachbarn eine Bedrohung dar. Die Führung fürchtet eher die Einflüsse von außen auf die eigenen Grenzvölker, also auf Kurden, Aserbaidschaner und Araber im Westen und Balutschen im Osten.

Die Konservativen für die Modernisierung gewinnen

SEIT ihren Offensiven im Nahen Osten im Gefolge des 11. September 2001 gehören auch die Vereinigten Staaten, jedenfalls vorübergehend, zu den Anrainern des Iran. Zwar steht ein von Bagdad ausgehender US-Militärschlag nicht zur Debatte, doch das islamische Regime ist unter Druck geraten. In der Verteidigung der nationalen Unabhängigkeit sind sich alle Fraktionen einig. Aber jetzt sind weitreichende Entscheidungen fällig. Denn nicht nur jenseits der Grenze, sondern auch im eigenen Land haben sich die Kräfteverhältnisse verschoben: Immer lauter werden die Stimmen, die mehr Offenheit für die internationalen Entwicklungen in Wirtschaft und Politik, in Wissenschaft und Kultur fordern.

Die Regierung in Teheran will und muss also ihre Rückkehr in die internationale Gemeinschaft betreiben. Und tatsächlich gibt es Partner – Europa, Russland, China, Japan, sogar die USA –, die nur zu gern vorteilhafte Sonderbeziehungen zu diesem großen und reichen Land eingehen würden, das seine islamische Revolution schon hinter sich hat und sich stabiler zeigt als jeder andere Staat der Region. Der Iran hat die Chance, in den sicherheits- und entwicklungspolitischen Konzepten für die Region eine Hauptrolle zu spielen. Aber es wird wohl eine Weile dauern, bis das Vertrauen wieder hergestellt ist. Der entscheidende Punkt bleibt dabei die Normalisierung der Beziehungen zu den USA.

In dieser Hinsicht kann es noch zu schweren Betriebsunfällen kommen. Die Vorstellungen der US-amerikanischen Neokonservativen und der iranischen Revolutionsnostalgiker sind ganz sicher unvereinbar. Doch seit dem letzten Jahr läuft alles auf eine Anpassung an die neuen Kräfteverhältnisse zu. Die Verleihung des Friedensnobelpreises an Schirin Ebadi ist dabei doppelt wichtig. Sie betont die Bedeutung der Menschenrechte und stärkt die Position der Kräfte, die – wie die Preisträgerin – die islamische Kultur nicht verleugnen, sie aber weiterentwickeln wollen. Und dabei geht es nicht allein um Rechte, sondern um ein verändertes Denken.

Nach wie vor ist der Islam im Iran eine lebendige und bestimmende Kraft. Daher müssen vor allem die vielen konservativen, aber keineswegs fanatischen Muslime für das Projekt einer Modernisierung gewonnen werden. Im Unterschied zu Staatspräsident Chatami, der im Milieu der Korangelehrten befangen bleibt, haben die Vorkämpfer der Bürgerrechte keine Scheu, sich internationaler Unterstützung zu versichern.

Eine politische Wende bedeutet es aber auch, dass Hassan Ruhani, der Chef des Nationalen Sicherheitsrats, die gemeinsame Erklärung mit den Außenministern Frankreichs, Großbritanniens und Deutschlands unterzeichnete, in der sich der Iran zur Einhaltung der internationalen Abkommen über Nuklearmaterial verpflichtete. Denn hier haben die religiösen Führer erstmals nicht ihrem traditionellen Misstrauen gegen die internationale Staatengemeinschaft nachgegeben.

Die islamische Führung verzichtet inzwischen auf die antiisraelischen und antiamerikanischen Kampfparolen. Sie scheint nicht länger auf Umsturz und Untergrundaktivitäten zu setzen, sondern auf verlässliche Zusammenarbeit. Neue Bündnisse brauchen Vertrauen, und die Transparenz, die der Iran für den hochsensiblen Bereich seiner Atomanlagen zugesichert hat, muss sich erst noch in der Praxis beweisen. Doch im politischen Denken ist der Kurswechsel vollzogen.

Das Nuklearabkommen bedeutet auch für die Europäer einen Durchbruch. Erstmals seit fünfzig Jahren waren sie den USA in der Iranfrage voraus und konnten zeigen, dass ihr Ansatz erfolgreich sein kann. Sie hatten Druck auf Teheran ausgeübt, aber zugleich Technologietransfer und eine angemessene Rolle des Iran in der regionalen Sicherheitspolitik in Aussicht gestellten. Nach fünfundzwanzig Jahren erfolgloser Embargopolitik der USA bedeutet die europäische Initiative den großen Schritt nach vorn: Sicherheitsgarantien für die internationale Gemeinschaft ohne Verzicht auf die Kritik an den Verfehlungen der iranischen Revolution.

Dass der Iran weder politisch noch wirtschaftlich als instabil gilt, belegt die Entscheidung des Renault-Konzerns, 700 Millionen Euro in die Errichtung einer Autofabrik zu investieren. Die dort produzierten Fahrzeuge sollen den legendären Peykan ersetzen, der im Iran seit über vierzig Jahren gebaut wird. Eine Investition in dieser Höhe macht deutlich, dass in Frankreich keine neue iranische Revolution befürchtet wird. Nach dem Vorbild des Ölkonzerns Total, der sich schon 1995 nicht an das US-Ölembargo hielt, hat Renault die Veränderungen im Iran richtig eingeschätzt. Andere Unternehmen verfolgen nun ähnliche Pläne.

Dabei verlaufen die Konflikte im Iran derzeit dramatisch. Die machthabenden Religionsgelehrten benutzen den Wächterrat, das oberste Verfassungsorgan, für ihre Pläne. Doch seit den 1990er-Jahren hat sich einiges geändert: Heute wehren sich Reformer und Gegner des Systems. Manche iranischen Konservativen und Technokraten haben die Hoffnung auf ein System nach dem Vorbild Chinas oder Saudi-Arabiens nicht aufgegeben: offen für neue Technologien, aber nicht für neue Ideen. Und die Neokonservativen in den USA fordern weiterhin die völlige Entmachtung des alten Regimes. Doch diese Pläne werden nicht aufgehen, weil sie außer Acht lassen, wie sehr sich die Basis der Gesellschaft in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren geändert hat und weiter ändert. Die Iraner haben ihre Unabhängigkeit schätzen gelernt.

deutsch von Edgar Peinelt

* Leiter der Abteilung für Iranstudien am Nationalen Forschungszentrum CNRS (Paris).

Fußnoten: 1 Olivier Roy hat dies u. a. in „L’Echec de l’Islam politique“ (Paris, Seuil 1992) dargelegt. 2 Dafür stehen u. a. Mohsen Kadiwar, Moschtahed Schabestari, Ajatollah Amoli und Abdolkarim Surusch. Siehe: Fahrad Khosrokhavar und Olivier Roy, „Comment sortir d’une révolution religieuse“, Paris (Seuil) 1999. 3 Marie Ladier-Fouladi, „Population et politique en Iran“, Paris (Institut national d’études démographiques/INED) 2003. 4 Zahlreiche Veröffentlichungen befassen sich mit der Herausbildung neuer Identitäten innerhalb der iranischen Gesellschaft. Siehe etwa Jean-Pierre Digard, Bernard Hourcade und Yann Richard, „L’Iran au XXe siècle“, Paris (Fayard) 1998; Fahrad Khosrokhavar, „Anthropologie de la révolution iranienne“, Paris (L’Harmattan) 1997; Bernard Hourcade, „Iran, Nouvelles identités d’une République“, Paris (Belin) 2002. 5 Azadeh Kian-Thiébaut, „Les femmes iraniennes entre Islam. Etat et famille“, Paris (Maisonneuve et Larose) 2002.

Le Monde diplomatique vom 13.02.2004, von BERNARD HOURCADE