13.02.2004

Heidenangst im Abendland

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Heidenangst im Abendland

Von ALAIN RUSCIO *

WOHER kommt nur das Ressentiment gegen die in Frankreich lebenden Nordafrikaner, das sich so hartnäckig in der französischen Bevölkerung hält? Oder, noch allgemeiner: das Ressentiment gegenüber Muslimen? Franzosen, die im Geschichtsunterricht aufgepasst haben, werden sagen: Es stammt aus der Zeit der ersten kolonialen Eroberungen um 1830. Franzosen, die „Mit zwanzig im Algerienkrieg“1 waren, werden das Phänomen auf die Zeit zwischen 1954 und 1961 datieren. Und die jungen „Beurs“ – die in Frankreich geborene Kinder nordafrikanischer Einwanderer – aus den Vorstädten glauben: Schuld hat Le Pen! Jede Generation hat spontan das Empfinden, die geistige Auseinandersetzung habe erst zu ihrer Zeit angefangen. Aber das ist falsch. Wir müssen in die Vergangenheit zurückgehen, um die historischen Wurzeln der gegenwärtigen Phänomene aufzuspüren.

Die meisten Franzosen von heute wären höchst erstaunt zu hören, dass der antiarabische Rassismus auf das Mittelalter zurückgeht, genauer: auf die Kreuzzüge und die Anfänge der Reconquista2 . Und womöglich sogar noch weiter zurück in die Geschichte. Poitiers, Roncevaux, König Ludwig der Heilige und die Kreuzzüge – es ist auffällig, dass einige Eckdaten der französischen Kulturgeschichte sich unmittelbar auf Konfrontationen mit der arabisch-muslimischen Welt beziehen.

Da wäre zunächst die Schlacht von Poitiers 732 (die wahrscheinlich 733 stattgefunden hat). Welch wundersames Schicksal! Eines der gängigsten, tief verwurzelten Vorurteile besagt, in der Formulierung von Chateaubriand: „Hätten die Sarazenen gesiegt, wäre die Welt heute mohammedanisch.“ Will heißen: In Poitiers triumphierte die Zivilisation über die Barbarei.

Generationen von französischen Schülern haben gelernt, die Schlacht von Poitiers sei ein Grundstein der französischen Nation. In der berühmten Buchreihe bei Gallimard figuriert das Datum als einer der „Dreißig Tage, die Frankreich begründeten“3 . Der Karolinger Karl Martell (ca. 686–741 n. Chr.) wurde im kollektiven Gedächtnis zum Inbegriff des Bollwerks der Christenheit, auch wenn er hin und wieder eine Kirche plünderte.

Das Bild von entfesselten „mohammedanischen“ Horden, deren Angriffe am soliden fränkischen Verteidigungswall abprallen, ist in den Köpfen vieler Menschen verankert. Fragt man sie nach Geschichtsdaten aus der Schulzeit, dann werden die meisten Franzosen zuallererst das Jahr 732 mit der Schlacht von Poitiers nennen, gefolgt von der Krönung Karls des Großen im Jahre 800, der Schlacht von Marignan 1515 und dem Sturm auf die Bastille 1789. Diese Abfolge der historischen Konditionierung ist gewiss kein Zufall.

Während des Algerienkriegs benannten sich einige der besonders unerbittlichen Einheiten der OAS (Organisation de l’armée secrète) nach Karl Martell. Erst unlängst, kurz nach dem 11. September 2001, erklärte der Journalist Stéphane Denis im Figaro, dass sich der Westen für die Kreuzzüge nicht zu schämen brauche. Sein Hauptargument: „Ich habe nie gehört, dass sich ein Araber je für das Vordringen bis nach Poitiers entschuldigt hätte.“4 Und vor der letzten Präsidentschaftswahl konnte man in vielen Städten Graffiti lesen: „Martell 732, Le Pen 2002“.

Dabei wird die Bedeutung der Schlacht von Poitiers in neueren historischen Studien deutlich relativiert. Tatsächlich gab es damals einen arabischen Eroberungsfeldzug, doch bei dem Vorstoß bis Poitiers ging es vor allem darum, Tours und die reiche Abtei Saint-Martin zu plündern. Das Ziel war also weder territoriale Eroberung noch dauerhafte politische Herrschaft. Der Historiker Henri Pirenne schreibt dazu: „Diese Schlacht hat nicht die Bedeutung, die man ihr beimisst. Sie ist nicht zu vergleichen mit dem Sieg über Attila. Sie bedeutete das Ende eines Vorstoßes, aber in Wirklichkeit gab es da nichts aufzuhalten. Wäre Karl Martell in Poitiers besiegt worden, wäre es lediglich zu mehr Plünderungen gekommen.“5 Dass die Araber sich zurückzogen, lag mehr an den internen Problemen des sehr jungen, doch bereits riesigen Imperiums – an einer Art Wachstumskrise – als an Karls sprichwörtlichen Hammerschlägen.

Gehen wir einige Jahrzehnte und einige hundert Kilometer weiter nach Roncevaux im Sommer 778. Für mehrere französische Schülergenerationen gehörte zur Pflichtlektüre in der Mittelstufe der Gymnasien auch das Rolandslied: die Abenteuer der beiden kühnen karolingischen Ritter Roland und Olivier gegen die einfallenden Sarazenen. Nun ist zwar unbestreitbar, dass die Schlacht von Roncevaux (oder Roncevalles) tatsächlich stattgefunden hat, doch weiß man schon seit langem, dass die Krieger (heute würde man wohl Guerilleros sagen), die Roland töteten, in Wirklichkeit Basken waren.

Das Rolandslied ist das in Frankreich wohl bekannteste mittelalterliche Versepos. In einer bemerkenswerten Dissertation über das Bild der Muslime in der Literatur jener Zeit hat Paul Bancourt die verteufelte Aktualität der damaligen Beschreibungen herausgearbeitet.6 In diesen im 11. und 12. Jahrhundert verfassten Texten wimmelt es von Klischees: Die Sarazenen (eine höchst vage und undifferenzierte Bezeichnung der Muslime) sind „Agenten des Bösen, im Pakt mit dem Teufel“, sind hinterhältige Schurken. Vergewaltigungen gehören für sie zur täglichen Routine. In dem Epos „Die Zerstörung Roms“ heißt es: „Die Bestialität der Sarazenen übersteigt alle Maße. Ihre Horden lassen Schlösser, Städte, Festungen in Flammen aufgehen, verbrennen und schänden die Kirchen, setzen die gesamte Campagna von Rom in Brand, hinterlassen links und rechts ihres Weges nur rauchende Trümmer. Sie plündern alles Hab und Gut […]. Der Emir lässt sämtliche Gefangene, Laien, Mönche und Nonnen, Frauen und junge Mädchen umbringen. Die Sarazenen verüben die abscheulichsten Grausamkeiten, schneiden ihren unschuldigen Opfern Nasen und Lippen, Hände und Ohren ab, vergewaltigen die Nonnen […]. Bei ihrem Einzug in Rom schlagen sie jedem, den sie antreffen, den Kopf ab. Auch der Papst selbst wird im Petersdom geköpft.“7

In Wirklichkeit ist der Papst, wie Bancourt nüchtern klarstellt, auf denkbar natürliche Weise gestorben; auch Gewalt gegen Personen hat es kaum gegeben; allenfalls Plünderungen. Natürlich waren die Sarazenen, wie alle Soldaten dieser äußerst brutalen Epoche, keine Engel. Im Übrigen vermutet Bancourt, etliche der den Sarazenen angelasteten Gewalttaten könnten in Wahrheit auf das Konto von Normannen oder Ungarn gegangen sein.8

Die Lüge aus dem Rolandslied ist folglich kein Einzelfall. Doch woher rührt diese voreingenommene Sicht der Dinge? Es muss an den Zeiten gelegen haben. Das Rolandslied wurde zu Beginn des 12. Jahrhunderts verfasst, doch es handelt von Geschehnissen am Ende des 8. Jahrhunderts. „Die Zerstörung Roms“ wurde im 13. Jahrhundert verfasst und schildert Ereignisse aus dem Jahr 846. Das ist so, als würden wir heute in der Tageszeitung eine Beschreibung der Schlacht von Marignan (1515) lesen. Was aber beschäftigte die Schriftsteller und Leser im 12. und 13. Jahrhundert? Die Epoche stand im Zeichen von zwei Ereignissen: der Kreuzzüge im Orient und der ersten Siege der Reconquista im Okzident – sprich im Zeichen der Konflikte mit dem Islam.

Vordem waren alle heidnischen Völker, die schon immer in Europa lebten oder aus Asien vorgedrungen waren, der Reihe nach christianisiert worden. Gegen diesen Trend behaupteten sich nur im Südwesten und im Osten des christlichen Europa zwei große Reiche: das muslimische Südspanien und das Osmanische Reich, wobei Letztere eine Bedrohung für Konstantinopel, das „zweite Rom“ darstellten. Diese Muslime waren, im Unterschied zu anderen Völkern, nicht zu assimilieren, wie Henri Pirenne vor siebzig Jahren warnte: „Der Germane romanisiert sich, sowie er in die Romania vordringt. Der Römer hingegen arabisiert sich, sowie er vom Islam erobert wird.“ Das sei eine tödliche Gefahr für die Christenheit: „Mit dem Islam dringt eine neue Welt bis zu den mediterranen Gestaden vor […]. Es entsteht ein Riss, der bis heute klafft. An den Gestaden des Mare Nostrum liegen sich fortan zwei unterschiedliche, einander feindliche Zivilisationen gegenüber.“9

Es ist genau die Epoche, in der die Idee des heiligen Krieges, des Kreuzzugs auftaucht: dieser Moment des Zusammenstoßes zwischen den beiden Welten, als den Königen und Päpsten des christlichen Abendlandes endgültig aufging, dass sich dieser Feind nicht assimilieren lässt. Ist es unter solchen Umständen nicht natürlich, dass die zeitgenössischen Chronisten sämtliche Feinde ihres Abendlandes in einen Topf werfen? Mittels einer Art geistiger Selbstvergiftung, die uns in der Geschichte der Menschheit häufig begegnet, werden Basken, Normannen wie Ungarn unterschiedslos zu „Sarazenen“.

Hinfort ist das Denken von der Kreuzzugsidee durchdrungen. Muslime sind automatisch „Ungläubige“ – eine in diesen tiefreligiösen Zeiten höchst ehrenrührige Bezeichnung. Und sie gilt keineswegs nur für kurze Zeit. Noch Chateaubriand bezeichnete in seinem „Génie du Christianisme“ (1802) den Kreuzzug als einen der wenigen epischen Stoffe von bleibendem Wert. Delacroix malte 1841 einen begeisterten „Einzug der Kreuzritter in Konstantinopel“. Victor Hugo schilderte in seinem 1858 erschienenen Werk „La Légende du siècle“, wie die Türken vor Konstantinopel einen riesenhaften Ritter mit einem grün-goldenen Schild erblickten, dem ein zahmer Löwe folgte. „Mohammed der Zweite rief ihm zu: Wer bist du? Darauf der Riese: Ich heiße Begräbnis, und du heißt Nichts! Mein Name unter der Sonne ist Frankreich, ich kehre zurück im Lichte, ich werde Erlösung bringen und in ihrem Gefolge die Freiheit.“10

Als die Franzosen 1830 Algerien eroberten, waren sie zu einem neuen heiligen Krieg bereit. Damit ist nicht gesagt, dass die Eroberung primär religiöse Motive hatte. Aber die Feindseligkeit gegenüber der „falschen Religion“ durchdrang die französische Gesellschaft und wurde durch die Eroberung und anschließende „Befriedung“ der nordafrikanischen Kolonie nicht gedämpft. Diese Konfrontation hat seit damals nie wirklich aufgehört, ihre Folgen bekamen alle späteren Generationen zu spüren: Krieg gegen Abd al-Kader (1835–1847); Aufstand in der Kabylei (1871), Errichtung des Protektorats über Tunesien (1881), Eroberung Marokkos und Errichtung eines Protektorats (1907–1912), Aufstand in Algerien (1916–1917), Krieg gegen die Rif-Kabylen (1924–1926), Niederschlagung des Aufstands in Algerien (1945), Konflikte mit der Istiklal-Partei und dem Sultan von Marokko bzw. mit der Néo-Destour (Neue Verfassungs-Partei) in Tunesien (1952–1956). Der Algerienkrieg war nur der letzte – und immer unlösbarere – Konflikt zwischen den Völkern der Region und der Kolonialmacht.

Sind also „Islamophobie“11 und antiarabischer Rassismus integraler Bestandteil der französischen Kultur? Ja und nein! Es hat immer wieder Franzosen gegeben, die der großartigen muslimischen Zivilisation und ihren wunderbaren Hervorbringungen Bewunderung entgegenbrachten, die den arabischen oder Berbervölkern ganz unvoreingenommen entgegentraten. Man denke an die Reisebeschreibungen „Un été dans le Sahara“ (1857) oder „Une année dans le Sahel“ (1859) von Eugène Fromentin. Oder an die Worte Lamartines von 1833: „Man muss der Religion Mohammeds Gerechtigkeit widerfahren lassen, denn sie hat dem Menschen nur zwei große Pflichten auferlegt: Beten und Mildtätigkeit […] Die beiden höchsten Wahrheiten jeder Religion.“ Lamartine lobt den Islam als „moralisch, geduldig, gottergeben, mildtätig und tolerant“.

Viele Franzosen – und mehr als die meisten glauben –, wehrten sich auf dem Höhepunkt der Kolonialzeit gegen den Rassismus ihrer Umgebung.

Parallel zum moralischen Widerstand gegen den Rassismus gab es immer auch den politischen Widerstand gegen die Kolonialisierung oder wenigstens gegen deren „Auswüchse“. Man erinnere sich nur an die bedeutende Stimme von Jean Jaurès, der gegen die Eroberung Marokkos protestierte, an den von der Kommunistischen Partei Frankreichs und dem Gewerkschaftsbund CGTU 1925 initiierten Streik gegen den Rif-Krieg, an die Proteste von Charles-André Julien gegen Machtmissbrauch und Ungerechtigkeiten in ganz Nordafrika, oder an den französischen Widerstand gegen den Algerienkrieg.

Die jungen Muslime in Frankreich, die sich von den Sirenengesängen des Fundamentalismus betören lassen, weil sie glauben, dass der Rassismus die gesamte Gesellschaft erfassen wird, führen den falschen Kampf. Wie schon in der Mitte des 19. und des 20. Jahrhunderts haben wir es zu Beginn des 21. Jahrhunderts mit zwei Frankreich zu tun: Das eine setzt auf Konfrontation und Rassismus, das andere auf gegenseitiges Verständnis und Brüderlichkeit. Für mich besteht kein Zweifel, dass im allgemeinen Gang der Geschichte die Kräfte der Konfrontation und des Rassismus schwächer, die Kräfte der Brüderlichkeit hingegen immer stärker werden.

deutsch von Brigitte Burmeister

* Alain Ruscio ist Historiker. Zu seinen wichtigsten Werken zählen „Crédo de l’homme blanc“ (mit einem Vorwort von Albert Memmi), Bruxelles (Ed. Complexe) 2002 und „Nous et moi, grandeurs et servitudes communistes“, Paris (Ed. Tirésias) 2003.

Fußnoten: 1 Es handelt sich um René Vautiers Spielfilm „Avoir vingt ans dans les Aurès“ (dt. Titel „Mit 20 im Algerienkrieg“) über die Gräuel des Algerienkrieges. Der 1972 gedrehte Film war in Frankreich lange Zeit verboten. 2 Im 10./11. Jahrhundert begann der Feldzug kleiner christlicher Staaten auf der iberischen Halbinsel zur Rückeroberung (reconquista) ihres 711 von den Mauren besetzten Territoriums. 3 Jean-Henri Roy, Jean Deviosse, „La bataille de Poitiers“, Paris (Gallimard) 1966. Die Autoren beziehen klare Distanz zum Mythos „Poitiers, Bollwerk der Christenheit“. 4 Le Figaro, 24. September 2001. 5 Henri Pirenne, „Mahomet et Charlemagne“, Brüssel (Alcan) 1936, S. 136. 6 „Les Musulmans dans les chansons de geste du Cycle du Roi“, 2 Bde, Aix-en- Provence (Publications de l’Université de Provence) 1982. 7 Henri Pirenne, „Mahomet et Charlemagne“, a. a. O., S. 136. 8 „Les Musulmans dans les chansons de geste“, a. a. O., S. 132. 9 „Mahomet et Charlemagne“, a. a. O. 10 Victor Hugo, Die Weltlegende“ (erstmals erschienen 1860/61). Aus „1453“. 11 Der umstrittene Ausdruck wird hier im Sinne von: Ablehnung der Anhänger des Islam in ihrer Gesamtheit (und nicht als Religionskritik) gebraucht.

Le Monde diplomatique vom 13.02.2004, von ALAIN RUSCIO