13.02.2004

Eine Antidiskriminierungsrichtlinie für ganz Europa

zurück

Eine Antidiskriminierungsrichtlinie für ganz Europa

Von NASSER NEGROUCHE *

ERINNERT sich noch jemand in Frankreich an die Eins Eins Vier? Knapp vier Jahre, nachdem die kostenfreie Sonderrufnummer für Opfer rassistischer Diskriminierung eingerichtet wurde, erreicht man heute keine konkrete Person mehr unter dieser Nummer. Anstelle menschlicher Mitarbeiter, die noch vor kurzem die gemeldeten Vorfälle zu Protokoll nahmen und den Opfern mit Rat und Tat zur Seite standen, nimmt nun ein „interaktiver Anrufbeantworter“ die Anrufe entgegen und spult theoretische Informationen über „rassistisch geprägte Situationen“ ab. Supermarktmusik, Hotline-Stimme, Sternchentaste, Menüs und Optionen – man hat den Eindruck, beim Kundentelefon eines Kaufhauses gelandet zu sein. Es folgt der Hinweis auf bestimmte Büro-Öffnungszeiten.

Der Misserfolg der 114 lässt sich auch in Zahlen bemessen. Zwar nahm der Dienst in den ersten zwei Jahren seines Bestehens 86 000 Anrufe entgegen – knapp 120 am Tag – doch 82 Prozent der Vorfälle blieben ohne behördliches Nachspiel: Die zuständigen Stellen wurden nicht informiert, eine Konfliktvermittlung nicht in die Wege geleitet. Für die Masse der Anrufenden blieb es bei einem informellen Gespräch und der Empfehlung, sich an eine örtliche Initiative zu wenden. Lediglich 10 000 Fälle wurden an die von der Regierung Jospin eingerichteten Departements-Ausschüsse für Bürgerschaftsfragen (Commissions départementales d’accès à la citoyenneté, Codac) weitergeleitet.

Die Codac-Ausschüsse bekommen die Einzelfälle – nach Vorauswahl durch das Antirassismus-Telefon – zur Bearbeitung vorgelegt. Sie wurden im Januar 1999 vom damaligen Innenminister Jean-Pierre Chevènement gegründet, um „Jugendlichen aus Einwandererfamilien die Eingliederung ins Arbeitsleben und in die Gesellschaft zu erleichtern“. Eine Dienstanweisung vom 2. Mai 2000 wies den Ausschüssen die Aufgabe zu, ethnischer Diskriminierung in den Departements vorzubeugen, Gegenmaßnahmen zu ergreifen und die Ursachen zu ermitteln. Auch die Bearbeitung der vom Antirassismus-Telefon überstellten Akten fiel in die Zuständigkeit dieser Ausschüsse, die dem Präfekten unterstanden und dem auch Vertreter von Behörden, Gewerkschaften und Antidiskriminierungsinitiativen angehörten.

Theoretisch hatten sich die Codac-Ausschüsse „mit sämtlichen Diskriminierungen zu beschäftigen, die sie beobachten oder von denen sie über das Antirassismus-Telefon erfahren“. Die Codac sollte die Staatsanwaltschaft „von allen derartigen Vorfällen unterrichten, die ihr zu Gehör kommen und mutmaßlich eine Straftat darstellen. Die Staatsanwaltschaft befindet darüber, ob Ermittlungen eingeleitet werden oder nicht.“ In der Praxis verliefen diese löblichen Absichten nur allzu oft im Sande.

Antirassistische Gruppen oder Organisationen hatten bei der praktischen Arbeit der Codac-Ausschüsse wenig Einfluss oder Mitspracherecht und sahen sich auf die Rolle bloßer Beobachter reduziert. Bei der Menschenrechtsliga erinnert man sich, dass „manche Präfekten sich sogar weigerten, die mit dem Problem befassten Bürgerinitiativen zu den Codac-Sitzungen einzuladen“.

Samuel Thomas, Vizepräsident von „SOS Rassisme“, wundert das nicht. Er wirft den Codac-Ausschüssen vor, dass sie sich durch einzelne Mitglieder instrumentalisieren lassen: „In manchen Bereichen haben diese Einrichtungen sogar dazu beigetragen, den Rassismus zu verharmlosen, denn für einige der in den Codac-Ausschüssen vertretenen Organisationen und Institutionen waren sie nichts weiter als ein Alibi. Dies gilt insbesondere für bestimmte soziale Wohnungsbaugesellschaften, die sich allein aufgrund ihrer Beteiligung an den Codac-Sitzungen über jeglichen Vorwurf der Diskriminierung bei Wohnungszuweisungen erhaben glauben.“

Die „Gruppe zur Untersuchung und Bekämpfung von Diskriminierung“ (GELD) hat eine „Kritische Bilanz über die zweijährige Arbeit des Antirassismus-Telefons und der Codac“ gezogen, die im Tätigkeitsbericht 2002 des „Beratenden Ausschusses für Menschenrechtsfragen“ veröffentlicht ist. Die GELD, die das Antirassismus-Telefon am 1. Januar 2001 übernommen hat, beschreibt darin gravierende Fehlentwicklungen der Institution, insbesondere wenn die Behörden selbst der Diskriminierung bezichtigt werden: Nur in Ausnahmefällen seien die innerbehördlichen Ermittlungsorgane mit der Angelegenheit betraut worden, nur selten entsprechende Schritte nahe gelegt worden. Oft sei gleichzeitig mit der Beschwerde – oder noch vor ihr – eine Klage des betreffenden Polizeibeamten wegen Beleidigung eingegangen. Mitunter wendet sich die Codac sogar gegen die Beschwerdeführer, anstatt ihnen zu ihrem Recht zu verhelfen. „Die Erfahrung zeigt, dass viele Codac-Mitarbeiter dem Anrufer zunächst einmal üble Absichten unterstellen. Schlimmer noch ist, […] dass sich manche Beschwerde schließlich gegen den Betreffenden selbst wendet, dass die Informationen, die die Akte über ihn enthält, gegen ihn verwendet werden.“

Auch die wichtigsten antirassistischen Organisationen stellen die Legitimität der überholten und ineffektiven Institution in Frage. Trotz großer Unterschiede von Departement zu Departement fällt die Gesamtbilanz der Codac-Ausschüsse negativ aus. Da es sich um weisungsgebundene Organe handelt, die den nichtbehördlichen Referenten aus Gewerkschaften und Bürgerinitiativen oft mit Misstrauen begegnen und sich in manchen Fällen sogar gegen die Opfer verbünden, ist ihre Glaubwürdigkeit nach nur wenigen Jahren auf den Nullpunkt gesunken.

Dabei bietet die Gesetzeslage neuerdings durchaus eine Handhabe gegen rassistische Diskriminierung. Wie wenig die Fortschritte in diesem Bereich jedoch praktisch wirksam werden, zeigt ein Blick ins Strafregister. Demnach wurde im ganzen Jahr 2001 niemand wegen „rassistisch motivierter Ablehnung eines Arbeitssuchenden“ verurteilt, obwohl antirassistische Organisationen und Gewerkschaften der Justiz im gleichen Zeitraum mindestens zwanzig Fälle dieser Art meldeten und dabei vielfach handfeste Indizien oder Beweise beibringen konnten.

Moulard Aounit, Generalsekretär der „Bewegung gegen Rassismus und für Völkerfreundschaft“ (MRAP), empört sich: „Diese Untätigkeit der Justiz schafft ein Klima der Straffreiheit, das die Täter zu weiteren Verstößen ermuntert und andere zur Nachahmung verleitet, weil sie ja nichts riskieren. Aus unerfindlichen Gründen finden die Gesetze unserer Republik keine Anwendung, wenn es um die Verteidigung der Persönlichkeitsrechte von Menschen mit Einwanderungshintergrund geht. Man kann nicht auf der einen Seite so tun, als wollte man die Abkapselung bestimmter Gemeinschaften bekämpfen, und auf der anderen Seite genau dieser Entwicklung Vorschub leisten, indem man einem Teil der Bevölkerung den Schutz durch den Rechtsstaat vorenthält.“

Kommt es ausnahmsweise doch zu einer Verurteilung, bleibt es bei einfachen Geldstrafen. Als im Jahr 2001 ganze zwei Angeklagte wegen „Diskriminierung bei der Einstellung aus Gründen der Herkunft oder der nationalen oder ethnischen Zugehörigkeit des Bewerbers“ verurteilt wurden, bekamen sie eine Geldstrafe von gut 300 Euro. Das ist für die französische Justiz also der Preis für rassistische Vorurteile, die einen Menschen vom Arbeitsmarkt ausschließen – der Preis der Demütigung1 .

„Die Leute riskieren doch mehr, wenn sie in Paris ihr Auto falsch parken, als wenn sie jemanden bei der Arbeits- oder Wohnungssuche aus rassistischen Motiven diskriminieren“, meint ein Pariser Rechtsanwalt, der sich auf Arbeitsrecht spezialisiert hat und ehrenamtlich Opfer solcher Praktiken verteidigt. „Ich habe mehrere solche Fälle bearbeitet und dabei die Erfahrung gemacht, dass es in diesem Bereich praktisch unmöglich ist, geltendes Recht auch durchzusetzen. Die Staatsanwaltschaft findet immer einen Grund, um die Täter zu entschuldigen oder mildernde Umstände geltend zu machen.“

Die für Ende 2004 angekündigte Schaffung einer unabhängigen Behörde zur Bekämpfung von Diskriminierung ließ bei antirassistischen Organisationen Hoffnungen wie Zweifel aufkommen. Eine rechtspolitische Wende oder ein politisches Ablenkungsmanöver? Frankreich muss wie alle anderen EU-Mitgliedstaaten natürlich die Antidiskriminierungsrichtlinie der Europäischen Union umsetzen, die die Schaffung unabhängiger Gleichstellungsämter vorschreibt. In ihr ist festgelegt, dass alle EU-Länder unabhängige Institutionen einrichten müssen, die die Gleichbehandlung aller Bürger fördern und die Opfer von Diskriminierung bei rechtlichen Schritten unterstützen sollen.

Der Vizepräsident von SOS Rassisme, Samuel Thomas, vertritt die Auffassung, dass die „Behörde weit reichende Ermittlungsbefugnisse braucht und der feste Wille bestehen muss, die für Diskriminierung Verantwortlichen zu überführen. Die Behörde sollte sich nicht so sehr um Konfliktvermittlung, sondern um die strikte Anwendung geltender Gesetze und die Bestrafung der Täter bemühen. Deshalb sollte man für die Bekämpfung von Diskriminierung eigene Brigaden aus Polizeibeamten, Staatsanwälten, Arbeitsinspektoren und Wohnungsbeauftragten aufstellen.“

Ob die geplante Behörde, wie sich der Berater von Präsident Chirac, Bernard Stasi, das wünscht, tatsächlich unabhängig genug sein wird, um glaubwürdig und effektiv zu arbeiten, wird sich zeigen.

deutsch von Bodo Schulze

* Journalist

Le Monde diplomatique vom 13.02.2004, von NASSER NEGROUCHE