13.02.2004

Gleichheit als Fährnis

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Gleichheit als Fährnis

Von DOMINIQUE VIDAL

WIE ist das möglich? Wie kann Frankreich, das Land der Menschenrechte und der modernen Demokratie, einen so schwer wiegenden Akt der Diskriminierung begehen?“, fragen sich laut Gazeta Wyborcza viele Polen angesichts der französischen Kopftuchdebatte. Man könnte die Frage leicht zurückweisen, indem man die Polen daran erinnert, wie mächtig die katholische Kirche in ihrem Land ist. Trotzdem: In fast allen europäischen Nachbarstaaten wundert man sich, wie heftig in Frankreich über das Kopftuch gestritten wird. Denn vielen erscheint der Ruf nach einem gesetzlichen Verbot des Kopftuchs völlig unangemessen.

Im Grunde ist das Unverständnis nicht weiter verwunderlich, denn das französische Modell des Laizismus hat praktisch keine Nachahmer gefunden. Viele Staaten in Europa haben es nicht geschafft, sich dem Einfluss der Religion völlig zu entziehen. Zudem spielt in einigen Staaten die stark religiöse Prägung durch die Königshäuser immer noch eine Rolle. Außerdem stellt sich in den meisten Ländern die Frage der islamischen Einwanderung nicht so wie in Frankreich, weil entweder die Muslime nur eine Randgruppe sind, oder weil man das Recht auf Staatsbürgerschaft nach dem Geburtsortprinzip (ius soli) nicht kennt, das in Frankreich alle im Lande geborenen Migrantenkinder automatisch zu Franzosen macht. In den meisten Ländern behält das Prinzip der ethnischen Identität die Oberhand über das Modell der Integration (ius sanguinis).

Die Einzigen, die in der Kopftuchfrage auch eine rechtliche Regelung anstreben, sind einige deutsche Bundesländer. In ganz Deutschland leben 3,2 Millionen Muslime (3,8 Prozent der Bevölkerung), die meisten sind Türken (oder Kurden)1 . Fereshda Ludin, eine aus Afghanistan stammende Deutsche, die in Baden-Württemberg Lehrerin werden wollte, hat letztes Jahr das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe angerufen, das am 24. September 2003 beschloss, die Schulbehörde des Landes könne ihr das Tragen des Kopftuchs im Unterricht nicht einfach verbieten. Nach Auffassung der Richter müsse das Land Baden-Württemberg zuvor eine gesetzliche Grundlage schaffen, die „einen für alle zumutbaren Kompromiss“ finden müsse zwischen der Glaubensfreiheit der Lehrer wie der betroffenen Schüler, dem Erziehungsrecht der Eltern wie der Pflicht des Staates zu weltanschaulich-religiöser Neutralität.2 Vier Monate später will man in zehn Bundesländern von einem solchen Gesetz nichts wissen. Drei (Saarland, Hessen, Berlin) wollen ein Gesetz verabschieden, wonach das Tragen des Kopftuchs für den gesamten öffentlichen Dienst verboten ist. Drei andere (Baden-Württemberg, Bayern, Niedersachsen) wollen das Verbot nur für staatliche Schulen – allerdings ohne dass es auch für christliche oder jüdische Symbole gelten soll.

Missionarische Textilien

DIESES Vorgehen hat heftigen Streit ausgelöst. In einem Brief an Parteifreunde in der CDU kritisierte Angela Merkel die geplante Verbannung religiöser Symbole aus dem öffentlichen Raum und erklärte, christlich inspirierte Traditionen seien Teil „unserer Kultur“. Dieser Prozess könne in einer übertriebenen Trennung von Kirche und Staat münden, warnte der Justizminister Sachsens, Thomas de Maizière. Und Bundestagspräsident Wolfgang Thierse sprach zwar von der prinzipiellen Neutralitätspflicht des Staates in religiösen Fragen, betonte aber, dass das Kreuz im Unterschied zum Kopftuch kein Unterdrückungssymbol sei. Bundespräsident Johannes Rau hingegen vertrat die Auffassung, „wenn das Kopftuch als Glaubensbekenntnis, als missionarische Textilie, gilt, dann muss das genauso gelten für die Mönchskutte, für den Kruzifixus“.

Diese Äußerung rief die Kirchen auf den Plan. Es könne nicht angehen, dass das Kreuz auf eine Stufe mit dem Kopftuch gestellt werde, widersprach Kardinal Karl Lehmann, der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz. Und Kardinal Ratzinger, Präfekt der Glaubenskongregation im Vatikan und enger Berater von Papst Johannes Paul II., bezog beim Jahresabschlussgottesdienst in Regensburg öffentlich Stellung: „Ich würde keiner muslimischen Frau das Kopftuch verbieten, aber noch weniger lassen wir uns das Kreuz als öffentliches Zeichen einer Kultur der Versöhnung verbieten.“

Hintergrund dieser widersprüchlichen Äußerungen ist der unklare Status der Religion in Deutschland. Das Grundgesetz von 1949 hat einen Artikel der Weimarer Verfassung von 1919 übernommen, der Staat und Kirche nicht deutlich trennt. Es erklärt lediglich: „Es besteht keine Staatskirche“ und garantiert die Gleichbehandlung aller Religionen. Allerdings heißt es in der Präambel: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen hat sich das deutsche Volk dieses Grundgesetz gegeben.“ In der Praxis gibt es staatliche Schulen, an denen Nonnen im Habit unterrichten und wo in den Klassenräumen ein Kruzifix hängt. In mehreren Bundesländern ist Religionsunterricht Teil des festgelegten Stundenplans. Obendrein zieht der Staat von 55 Millionen Christen stellvertretend für die Kirchen die Kirchensteuer ein.

Gerhard Schröder, der als erster Kanzler seinen Amtseid nicht auf Gott geschworen hat, betonte kurz vor Weihnachten, Deutschland sei kein laizistischer, sondern ein säkularisierter, von der christlich-jüdischen Religion geprägter Staat. Er erklärte: „Kopftücher haben unter Staatsbediensteten, also auch bei Lehrerinnen, keinen Platz. Aber einem jungen Mädchen, das mit Kopftuch zur Schule geht, kann ich das nicht verbieten.“3

Radikaler äußern sich die siebzig Frauen einer von Marieluise Beck, der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung, gegründeten Initiative: „Wenn wir ohne Prüfung der individuellen Motive generell Frauen mit Kopftuch vom öffentlichen Schulleben ausschließen, treffen wir gerade die Frauen, die mit ihrem Streben nach Berufstätigkeit einen emanzipatorischen Weg beschreiten wollen.“4

Um zu verstehen, wie unterschiedlich in Frankreich und England das Thema angegangen wird, genügt es, die Erklärungen von Staatssekretär Mike O’Brien zuzuhören: „Aufgrund ihrer Kultur und Geschichte haben die Franzosen eine andere Sicht auf den Laizismus und das Tragen religiöser Symbole als wir. […] In Großbritannien stößt sich niemand daran, wenn jemand seinen Glauben durch das Tragen eines Symbols bezeugen möchte, sei es durch ein Kopftuch, ein Kruzifix oder eine Kippa. […] Integration verlangt keine Assimilation. […] Die britische Identität besteht aus einer Vielfalt an Nationalitäten und religiösen Traditionen. […] Das ist unsere Kraft. […] Wir sind stolz auf unseren Multikulturalismus.“

In Großbritannien (zwei Millionen Muslime, vor allem indisch-pakistanischen Ursprungs, 3,4 Prozent der Bevölkerung) kann jeder Leiter einer öffentlichen Schule die internen Vorschriften selbst festlegen. Die meisten erlauben Kopftuch, Kippa oder Sikh-Turban. In den Krankenhäusern duldet man islamische Kleidung, wenn sie vorab beantragt wurde. Sogar in der Polizei wird das Tragen von Kopftuch oder Turban akzeptiert. John Henley bezeichnet den Laizismus im Guardian als „Konzept, das jedem, der an die britische oder amerikanische Idee der Multikulturalität gewöhnt ist, recht abstrakt, wenn nicht gar absurd vorkommen muss“. Und John Lichfield schrieb im Independent, der französische Kopftuchstreit sei „eine französische Spezialität“.

Belgien (300 000 Muslime, 2,9 Prozent) steht im Hinblick auf das Kopftuch zwischen Deutschland und Großbritannien. Es gibt keine staatlichen Festlegungen, sodass die Schulen eigene Regeln aufstellen und also auch das Kopftuch verbieten können. Bisher wurden die seltenen Konflikte – vor allem unter französischsprachigen Belgiern – außergerichtlich gelöst. Nachdem allerdings in einer Brüsseler Schule unlängst das Kopftuch verboten wurde, kam es zu Protesten der muslimischen Gemeinde; insgesamt nehmen die Konflikte auch hier zu.

Inzwischen haben zwei frankophone Parlamentarier (die Sozialistin Anne-Marie Lizin und der Liberale Alain Destexhe) einen Gesetzentwurf eingebracht, der das Tragen religiöser Kleidung in der Schule und im öffentlichen Dienst verbietet. Aber die Regierung scheint nicht bereit, den Entwurf anzunehmen, schon gar nicht mitten im Wahlkampf. Der Vorsitzende der Sozialistischen Partei, Elio di Rupo, erklärte, man müsse in Ruhe und ohne Voreingenommenheit darüber nachdenken.

Die Niederlande (300 000 Muslime, 1,9 Prozent) sind noch toleranter: Dort verbietet das Gesetz jede religiöse Diskriminierung, sodass es in den Schulen Kopftücher gibt. Ebenso ist es in den skandinavischen Ländern, die im Namen der Religionsfreiheit das Kopftuch in staatlichen wie privaten Schulen dulden. In Göteborg (Schweden: 350 000 Muslime, 4 Prozent) wurde allerdings in einem Gymnasium die Forderung von zwei aus Somalia stammenden Schülerinnen zurückgewiesen, eine Burka zu tragen – die Lehrer müssten schließlich ihre Schüler erkennen können, lautete das Argument. In Dänemark (170 000 Muslime, 3,2 Prozent) hat die rechtsextreme Dänische Volkspartei im Sommer 2003 vergeblich versucht, ein gesetzliches Verbot des Kopftuchs durchzubringen. Die konservativ-liberale Koalition hat zwar den Ton in Sachen Kopftuch verschärft, aber kein entsprechendes Gesetz verabschiedet. „Sagen Sie über das Kopftuch, was Sie wollen, aber ich bin gegen ein nationales Verbot, denn es widerspricht dem Recht auf freie Meinungsäußerung“, erklärte Integrationsminister Bertel Haarder.

Die gleiche Situation finden wir in Spanien (300 000 Muslime, 0,7 Prozent), wo das Kopftuch in privaten und staatlichen Schulen getragen wird. Nur in Madrid gab es vor zwei Jahren einen Konflikt, der aber rasch gelöst war: Die Leitung des Privatgymnasiums Juan de Herrera hatte einer dreizehnjährigen Marokkanerin das Tragen des Kopftuchs verboten. Daraufhin wechselte sie an eine staatliche Schule. Die Bildungsministerin Pilar Castillo erklärte Ende Dezember 2003 in der Tageszeitung El País, das Tragen religiöser Symbole in den Schulen sei zwar nicht „angemessen“, dürfe aber auch nicht „verboten“ werden. Die Aznar-Regierung beobachtet die Lage, so die Madrider Zeitung, zumal die Kreuze aus den meisten öffentlichen Bildungseinrichtungen bereits entfernt wurden und die Schulräte über eine gewisse Autonomie verfügen, um selbst Entscheidungen zu treffen.

Auch in Italien (800 000 Muslime, 1,4 Prozent) steht die Kopftuchfrage nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit. Die Einwanderung ist jüngeren Datums, und da der Nachzug der Familien vielfach noch aussteht, gibt es bislang nur einen geringen Anteil an Frauen und Mädchen. Ausgerechnet ein Kruzifix in einem Klassenraum der Volksschule von Ofena, einem kleinen Abruzzendorf, hat in Italien für Aufsehen gesorgt. Der Vater eines muslimischen Schülers, Adel Smith, Gründer der Muslimischen Union Italiens, der seit zwei Jahren von sich Reden macht, verlangte vor Gericht die Abnahme des Kreuzes, und der Richter Mario Montanaro ordnete diese Ende Oktober 2003 an, weil „die vom Kreuz symbolisierten christlichen Werte in Wirklichkeit nicht mehr das kulturelle Erbe aller Bürger“ darstellten.

Dieses Urteil löste heftige Proteste aus. Selbst Staatspräsident Ciampi betonte, das Kruzifix sei „ein Symbol jener Werte, die Italiens Zusammenhalt begründeten“. Der Papst erklärte, die Anerkennung des religiösen Erbes einer Gesellschaft verlange auch die Anerkennung der Symbole, die es verkörperten, und äußerte die Befürchtung, ihre Abschaffung im Namen einer falschen Auslegung des Gleichheitsprinzips könnte neue Instabilität und neue Konflikte hervorbringen.

Das Kruzifix im Klassenraum in Ofena ist geblieben, zusätzlich schmückt sich die Schule jetzt mit einem anderen, riesigen Kreuz, Geschenk eines benachbarten Klosters. Die Auseinandersetzung ist keineswegs neu: Zwar ist der Katholizismus seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr Staatsreligion, aber ein bis heute gültiges Gesetz von 1923 schreibt Kruzifixe in den Schulen vor.

Sollte in Frankreich der Gesetzentwurf, der das Tragen des Kopftuchs verbietet, im Parlament angenommen werden, wäre dies zuallererst eine Annäherung an türkische Verhältnisse, denn in dem islamischen Land wird streng auf die Trennung von Staat und Kirche gepocht. Dort ist das Tragen des Kopftuchs in Schulen und Universitäten ebenso verboten wie in öffentlichen Gebäuden. Die Behörden sind traditionell besonders wachsam, denn hinter der Forderung nach einer Zulassung des Kopftuchs steckt nicht selten eine Unterstützung des politischen Islam.

Selbst die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) von Ministerpräsident Erdogan, die im November 2002 an die Macht kam und genau diesen politischen Islam vertritt, bleibt dem laizistischen Erbe Kemal Atatürks treu. Allerdings kann die Türkei ihr Kopftuchverbot bislang vor dem Europäischen Gerichtshof nicht rechtfertigen. Leyla Sahin, eine türkische Studentin, die nicht auf ihr Tuch verzichten wollte und deshalb ihr Studium nicht beenden konnte, hat dort geklagt, und nun ist das Verfahren wegen Verstoßes gegen die Meinungsfreiheit vor dem Gerichtshof anhängig. Wird die Türkei für ein Gesetz verurteilt, das bald auch in Frankreich gelten wird?

deutsch von Claudia Steinitz

Fußnoten: 1 Angaben über die Anzahl der Muslime variieren stark je nach Definition des Begriffs. 2 Das BVG-Urteil vom 24. September 2003 ist nachzulesen unter www.bverfg.de/entscheidungen/res20030603_2 bvr 142602.html. 3 Bild am Sonntag, 21. Dezember 2003. 4 „Religiöse Vielfalt statt Zwangsintegration“, Aufruf wider eine Lex Kopftuch.

Le Monde diplomatique vom 13.02.2004, von DOMINIQUE VIDAL