11.04.2003

Nach dem Einkauf ins Gefängnis

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Nach dem Einkauf ins Gefängnis

DIE Empörung über die US-Intervention im Irak hat auch in Tunesien zu Protestdemonstrationen geführt. Nach einer Phase ökonomischen Wachstums seit Anfang der 1990er-Jahre hatte die Regierung die Bevölkerung mit einem Sozialpakt einigermaßen zufrieden gestellt. Doch 2002 erlitt die tunesische Landwirtschaft nach einer Dürreperiode hohe Ernteeinbußen, und seit April brachen wegen des Attentats in Djerba die Umsätze in der Tourismusbranche ein. Überdies bedroht der Handelsvertrag mit der Europäischen Union die kleinen Unternehmen. Das autoritäre Regime und der Clan um Staatsoberhaupt Ben Ali meinen aber nach wie vor, dass sich die Situation wie üblich durch die Verbreitung von unbeirrbarem Optimismus unter Kontrolle halten lässt.

Von SOPHIE BESSIS und KAMEL JENDOUBI *

Für die Wirtschaft in Tunesien war das Jahr 2002 ein Desaster. Das mussten sogar die staatlichen Behörden eingestehen, die gewöhnlich nur bombastische Erfolgsmeldungen von sich geben. Noch sind die Folgen kaum abzusehen. Seit 1995 war die Wachstumsrate nie unter 4 Prozent gesunken, 1999 lag sie über 6 Prozent – und nun erreichte sie nur magere 1,9 Prozent.

Im 9. Entwicklungsplan war für 2002 ein Wachstum von 6,5 Prozent vorgesehen, aber diesen Traum machte schon die allgemeine Konjunkturentwicklung zunichte. Nicht genug damit, dass nach vier Jahren Trockenheit die Ernte wieder katastrophal schlecht ausfiel, im selben Jahr brach auch der Tourismus ein. Das war eine Folge der weltweiten Branchenflaute nach dem 11. September 2001 im Allgemeinen und des Anschlags auf die Synagoge in Djerba im April 2002 im Besonderen. Nach offiziellen Angaben musste der wichtigste Wirtschaftssektor, der normalerweise 8 Prozent des Bruttosozialprodukts erwirtschaftet und Arbeit für einige hunderttausend Menschen bietet, Mindereinnahmen von 13 Prozent verkraften. Die schwache Konjunktur in den Industriestaaten und die schlechte Ertragslage in der tunesischen Landwirtschaft ließen die Exportquote zurückgehen. Zugleich konnten die heimischen Märkte nicht versorgt werden – die Getreideernte 2002 war die schlechteste seit zehn Jahren. Infolgedessen musste man auch mehr importieren.

Auf all diese widrigen Umstände verwiesen die staatlichen Stellen, wenn sie die schlechten Wirtschaftsdaten zu erklären. Sie versicherten außerdem, dass es alsbald wieder aufwärts gehen werde. Anlass für ihre Zuversicht gaben immerhin die leichte Erholung im Tourismussektor seit Ende 2002 und vor allem die ergiebigen Regenfälle Anfang 2003, die auf landwirtschaftliche Erträge in der gewohnten Höhe hoffen ließen.

Ob der offizielle Optimismus gerechtfertigt ist, bleibt allerdings abzuwarten: Möglicherweise sind die schwachen Wirtschaftsdaten nicht nur Ausdruck konjunktureller Schwankungen, sondern verweisen auf grundlegende Probleme der tunesischen Gesellschaft. Sollte sich der Abwärtstrend auch 2003 fortsetzen, dürfte irgendwann auch der Sozialpakt in Frage stehen, aus dem das Regime von Staatspräsident Ben Ali seine Legitimität bezieht.1 Seit Anfang der 1990er-Jahre, nachdem die Folgen der so genannten Mzali-Ära2 und der Strukturanpassung, der Tunesien sich unterziehen musste, nicht mehr so hart zu spüren waren, trat Ben Ali in die Fußstapfen seines Vorgängers Bourguiba, den er am 7. November 1987 beerbt hatte: Er bemühte sich, die Erträge einer hoch spezialisierten und exportorientierten Wirtschaft mit stabilen Wachstumsraten etwas gerechter zu verteilen.

Ein solches Programm des sozialen Ausgleichs war für den Maghreb einzigartig. Der daraus folgende soziale Fortschritt und die allgemeine Steigerung des Lebensstandards verliehen dem Regime eine Dominanz, die keine politische Opposition aufkommen ließ. Die Bevölkerung, insbesondere die tonangebende Mittelschicht, war vollauf damit beschäftigt, ihre Konsumbedürfnisse zu befriedigen.

Die Machthaber sahen sich bereits als Führer eines Schwellenlandes, eilfertige Kommentatoren verbreiteten den Begriff des „tunesischen Modells“. Doch am Beginn des neuen Jahrhunderts geriet der Aufwärtstrend ins Stocken, und dem Regime drohte sein populistischer Kurs zum Verhängnis zu werden. Mit der Verschlechterung der Wirtschaftslage war die Befriedung der Bevölkerung durch materielle Vorteile nicht mehr gesichert. Jetzt konnten allgemeine politische Forderungen lauter werden, die bislang nur von den schwachen Oppositionsparteien gekommen waren.

Die außenwirtschaftlichen Probleme hatten ihre Ursache in der Konjunkturflaute bei den europäischen Handelspartnern, waren aber auch hausgemacht: Dass die Einnahmen in traditionellen Exportbranchen zurückgingen, lag unter anderem daran, dass das Regime nicht angemessen auf die Konsequenzen der wirtschaftlichen Öffnung reagierte. Auch in der Binnenwirtschaft zeigte sich, wie verheerend der politische Nepotismus und die allgemeine Korruption mit der dazugehörigen Undurchsichtigkeit sämtlicher Entscheidungen gewirkt hatten. Tunesien ist deswegen von den internationalen Finanzinstitutionen bereits ernstlich verwarnt worden. Das Land kann eigentlich nicht mehr als unterentwickelt gelten, hat aber die Voraussetzungen für stabilen Wohlstand noch nicht geschaffen. Und das Regime, das sich seit dem 11. September 2001 fast alles erlauben kann, ohne mit Kritik seiner westlichen Partner rechnen zu müssen, scheint außerstande, Tunesien sicher durch diese problematische Übergangsphase zu führen.

Da ein engerer Zusammenschluss der Staaten des Maghreb nicht in Aussicht stand, wollte sich die tunesische Führung als Musterschüler des Westens hervortun: Bereits 1995 schloss Tunesien als erstes Land an der Südküste des Mittelmeers ein – in vielen Punkten ungünstiges – Freihandelsabkommen mit der Europäischen Union. Auf den ersten Blick scheint es vernünftig, dass ein kleines Land mit begrenzten Ressourcen, das ohnehin fast zwei Drittel seines Außenhandels mit der EU abwickelt, einen solchen Vertrag schließt.

Die Konkurrenz aus Asien

DOCH dieser Schritt hatte weit reichende Folgen – vor allem weil er zu einem Zeitpunkt erfolgte, als die Welthandelsorganisation (WTO) gerade neue multilaterale Richtlinien zum Abbau der Zollschranken erlassen hatte. Überdies dürfte nach dem für 2005 geplanten Auslaufen des alten Welttextilabkommens (Multifiber Agreement/MFA) der europäische Markt mit Produkten asiatischer Billiganbieter überschwemmt werden. Der Anteil der Zolleinnahmen an den Staatseinkünften ist bereits deutlich zurückgegangen – von 9,8 Prozent (1996) auf 5,4 Prozent (2000).3 Rechnet man die Kosten für die vielfältigen Steuergeschenke an die Günstlinge des Regimes hinzu, dann steht außer Frage, dass sich mit der Zunahme des Haushaltsdefizits der finanzielle Spielraum des Staats weiter verengen wird. Nicht zu vergessen die wachsenden Auslandsschulden: Sie sind von 7,69 Milliarden Dollar (1990) auf 11 Milliarden (1998) gestiegen – das entspricht 56 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.4

Noch schwerer wiegt, dass die wirtschaftliche Öffnung vor allem den Importen aus Europa zugute kommt und am Ende zum Verschwinden ganzer Branchen führen wird, weil sie der direkten Konkurrenz mit den stärksten Volkswirtschaften der Welt weder im Binnenmarkt noch auf den Weltmärkten gewachsen sind. Zuerst dürfte es den Textilsektor treffen: Die über 2 000 eng verflochtenen (und zumeist unterkapitalisierten) kleinen und mittleren Unternehmen erleben bereits seit 1999 einen Rückgang des Geschäfts mit Europa – sie tragen bisher mehr als 6 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt bei, fast die Hälfte des Güterexports und der Beschäftigung in der verarbeitenden Industrie entfällt auf die Textilbetriebe. Nicht weniger gefährdet ist die Landwirtschaft, ein weiterer entscheidender Sektor der Ökonomie. Getreu dem Grundsatz, dass der Freihandel immer nur den anderen nützt, sind bei der Neuverhandlung der Agrarverträge mit der Europäischen Union im Dezember 2000 für die tunesischen Exporteure nur Brosamen abgefallen – eine Erhöhung der abgabenfreien Ausfuhrquoten für Olivenöl und Zitrusfrüchte.

Im Gegenzug hat die EU für ihre Exportwirtschaft erhebliche Vorteile herausgeschlagen: Bis zu 500 000 Tonnen Getreide dürfen bis 2005 zollfrei nach Tunesien importiert werden, außerdem 8 000 Tonnen Fleisch und 9 700 Tonnen Milch zu sehr geringen Zolltarifen. Tatsächlich liegen die durchschnittlichen Kosten für die Einfuhr von Getreide deutlich unter den tunesischen Erzeugerpreisen, eine Folge der Exportsubventionen durch die Europäische Gemeinschaft.

Als Hauptargument für eine wirtschaftliche Öffnung hatte die tunesische Führung die Notwendigkeit angeführt, mehr ausländisches Kapital ins Land zu holen. Aber trotz verstärkter Privatisierungsaktivitäten seit 2001 blieben die Auslandsinvestitionen hinter den Erwartungen zurück. Sie wurden im Wesentlichen im Energiesektor getätigt und nur durch den Verkauf einiger Filetstücke aus Staatsbesitz noch etwas angeheizt: So kamen die staatlichen Zementwerke unter den Hammer und jüngst auch 52 Prozent des Kapitals der Internationalen Banken-Union (UIB). Zweifellos trägt auch die Korruption, Folge der unersättlichen Gier der „Familie“, wie der Clan um den Präsidenten in Tunesien genannt wird, nicht gerade dazu bei, Investoren anzulocken.

Das alles sieht nach einer negativen Trendwende in der Wirtschaftsentwicklung aus. Sozial wirkt sie sich bereits aus, vor allem bei der Arbeitslosigkeit, die nach offiziellen Angaben 16 Prozent erreicht hat. Hinzu kommt eine weit verbreitete Unterbeschäftigung. Zwischen 1995 und 2000 stiegen die Stellengesuche jährlich um maximal 71 000, seit 2000 werden es jedes Jahr 79 000 mehr. Vor allem der Anteil der Arbeitslosen mit höherer Schulbildung und mit Studienabschluss nimmt zu: 2005 werden sie fast ein Drittel ausmachen. Nach den Prognosen kann Tunesien erst 2010 mit einem Rückgang auf 54 000 Erwerbsfähige rechnen, die jährlich neu in den Arbeitsmarkt drängen – dann wird auch in Tunesien ein deutlicher Knick in der Bevölkerungsentwicklung eintreten.5

In den 1990er-Jahren reagierte das Regime auf die dramatisch steigenden Arbeitslosenzahlen mit der systematischen Förderung von Verbraucherkrediten. Das brachte politische Entlastung, aber auch neue wirtschaftliche Risiken, denn die Kreditnehmer nutzten diese Möglichkeit oft nur, um irgendwie über die Runden zu kommen – etwa indem sie private Investitionsgüter auf Kredit erwarben, um sie dann auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen. Auch wenn der Erlös letztlich die Gesamtkosten des Kredits nicht abdeckte, konnte man sich auf diese Weise kurzfristig Geld für andere dringende Bedürfnisse verschaffen. Diese Entwicklung ließ sich auch an der Zunahme von Gerichtsverhandlungen wegen ungedeckter Schecks ablesen. In Tunesien liegt die Verschuldung der Haushalte über dem Durchschnitt in den westlichen Ländern.

Es gibt im Zivilgefängnis von Tunis sogar eine Abteilung mit dem Spitznamen „Batam-Haus“ – nach der Kaufhauskette, die durch ihre Kreditkaufangebote zum Symbol der neuen Konsumgesellschaft wurde. Dort sitzen nun die Kunden ein, die ihre Raten nicht zahlen konnten. Steht also angesichts der stagnierenden Wirtschaftsentwicklung und des Konsumrückgangs die allgemeine Überschuldung der privaten Haushalte zu befürchten? Das spektakuläre Konkursverfahren des Batam-Konzerns, das im Oktober 2002 mit einem dubiosen Vergleich endete, könnte das erste Anzeichen für eine ernste Liquiditätskrise der Banken gewesen sein. Immerhin schätzt man den Anteil fauler Kredite am gesamten Kreditgeschäft auf bis zu 30 Prozent.6 Ein erheblicher Teil dieser ungewissen Bilanzposten dürfte zwar mit den Machenschaften der führenden „Familien“ bei der Ausplünderung des Landes zusammenhängen, aber die Experten fragen sich schon lange, wie wohl die tunesischen Banken (die noch immer nicht die internationalen Kreditsicherungsnormen erfüllen) mit der europäischen Konkurrenz zurecht kommen werden, die ihnen im Rahmen der geplanten Freihandelszone ins Haus steht.

Sinkende Einnahmen aus Tourismus und Export, den Vorzeigedisziplinen des tunesischen „Wirtschaftswunders“, Zurückhaltung der Investoren und weitere Zunahme der Arbeitslosigkeit – mit dieser trostlosen Lage scheinen die Tunesier bislang nicht so gut zurechtzukommen wie ihre Regierung, die sich in Selbstgerechtigkeit übt. Doch die Bevölkerung wird sich auf Dauer nicht mit Durchhalteparolen zufrieden geben. Das zeigt nicht nur der dramatische Anstieg der illegalen Auswanderung junger Tunesier nach Europa, sondern auch das deutlich vernehmbare Grollen in der Einheitsgewerkschaft UGTT, die lange Zeit nichts zu melden hatte.

Um seine ungewisse Zukunft zu meistern, wird Tunesien nicht nur in neue Verhandlungen mit der EU über eine gerechtere Gestaltung des Freihandelsabkommen eintreten müssen – das Land braucht vor allem neue Formen der politischen Übereinkunft, einen neuen Sozialpakt. Es sieht nicht so aus, als sei das Regime von Staatspräsident Ben Ali zu einer solchen Öffnung fähig: Die Machthaber sind autistisch geworden und verlassen sich immer mehr auf eine autokratische Einschüchterungspolitik.

Noch steht die Wirtschaft nicht am Rand des Abgrunds, noch gibt es Chancen für einen neuen Aufschwung. Wenn allerdings weiterhin nichts geschieht, wird es die Bevölkerung irgendwann leid sein, ein autoritäres Regime zu ertragen, das keine Vorteile mehr bieten kann. Und dann könnte sich die allgemeine Unzufriedenheit auch außerhalb der gewohnten politischen Formen Luft machen.

deutsch von Edgar Peinelt

* Sophie Bessis ist Wissenschaftlerin und Autorin des Buches L‘Occident et les autrres, Paris (La Découverte) 2001; Kamel Jendoubi ist Präsident des Komitees für die Respektierung der Freiheiten und Menschenrechte in Tunesien.

Fußnoten: 1 Siehe Kamel Jendoubi, „Course de vitesse en Tunisie“, Le Monde diplomatique, Oktober 2001. 2 Mohammed Mzali war Ministerpräsident in der Ära von Staatschef Habib Bourguiba. Seine katastrophale Regierungsführung führte zu den Aufständen vom Dezember 1983 und zwang Tunesien, das erste Strukturanpassungsprogramm zu akzeptieren. 3 Economia, Nr. 14/15, Dezember 2001/Januar 2002. 4 Weltbank, Weltentwicklungsbericht 2000/2001. 5 Mahmoud Ben Rhomdhane, „Alternatives citoyennes“, Juni 2001. 6 Siehe Béatrice Hibou, „Tunisie: le coût d‘un ‘miracle‘“, Critique internationale (Paris), Nr. 46.

Le Monde diplomatique vom 11.04.2003, von SOPHIE BESSISKAMEL JENDOUBI