11.04.2003

Die konfiszierte Unabhängigkeit

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Die konfiszierte Unabhängigkeit

IN Yamoussoukro hat am 3. April erstmals die neue Regierung von Ministerpräsident Seydou Diarra getagt. Mit am Tisch saßen die ehemaligen Rebellen des Nordens, denen Präsident Gbagbo und seine Ivorische Volksfront nach langem Zögern zwei Ministerämter einräumten. Wie lange der fragile Ausgleich zwischen den Machthabern des Südens und den Rebellenführern des Nordens halten wird, ist völlig ungewiss. Im Süden sieht man die Kohabitation als Resultat französischen Drucks. Und die Kräfte des Nordens sind noch längst nicht bereit, ihre militärischen Positionen aufzugeben. Doch eine echte Aussöhnung wird erst stattfinden, wenn sich die verschiedenen Ethnien der Elfenbeinküste auf eine offenere Definition von „Ivorité“ verständigen.

Von BERNARD DOZA *

Nach fünf Monaten „Widerstand gegen den Aufstand“ gab Laurent Gbagbo, Präsident der Elfenbeinküste, am 1. März schließlich nach. In seiner letzten Brandrede rief er vor Regierungsanhängern aus: „Die Rebellen haben Angst vor unserer Erfolgsbilanz im Jahr 2005 [dann ginge die jetzige Amtszeit Gbagbos offiziell zu Ende]. Deshalb bekriegen sie uns! Sollen sie mich doch über mein Regierungsprogramm angreifen! Sollen Sie doch bei den Wahlen gegen mich antreten. Ich werde sie besiegen!“1

Ein paar Tage später willigte auch Gbagbos unversöhnliche Ehefrau Simone2 sehr widerstrebend in eine Regierungsbeteiligung der Aufständischen ein: „Das ist nun mal der Preis, den wir zahlen müssen.“3 Charles Blé Goudé, der hitzköpfige Anführer der Gbagbo-treuen Jungen Patrioten, wurde „zur Fortsetzung seiner Studien“ nach London geschickt, nachdem seine Anhänger gegen eine am 24. Januar im französischen Marcoussis unterzeichnete Friedensvereinbarung militant demonstriert hatten.

Vertreter der politischen Parteien und der bewaffneten Kräfte einigten sich bei Verhandlungen in Accra (Ghana) darauf, den Rebellen die Ministerien für Territorialverwaltung und Kommunikation anzubieten. Außerdem verständigte man sich auf die Gründung eines Nationalen Sicherheitsrates.4 Am 10. März gab Präsident Gbagbo schließlich seine Kompetenzen an Seydou Diarra ab5 , den neuen „Ministerpräsidenten der Versöhnung“. Auf ihn hatte man sich zwar schon im Januar nach langem Hin und Her in dem Abkommen von Marcoussis geeinigt. Doch Diarra konnte erst im März seine Regierungsmannschaft vorstellen. Nun ist er das Oberhaupt eines Staates, der nur noch einen Schatten seiner selbst darstellt. Aber immerhin hat Elfenbeinküste jetzt einen Ministerpräsidenten, der sich mit seinen Gegnern an einen Tisch setzen kann.

Die Anführer des bewaffneten Widerstands im Norden haben also Präsident Laurent Gbagbo praktisch aus dem Amt gedrängt. Die Elfenbeinküste ist gespalten und gelähmt. Bleibt die Frage, ob es sich bei den Rebellen um moderne „Freiheitskämpfer“ oder um gefährliche Desperados in ausländischen Diensten handelt.6

Als am 19. September 2002 die aufständische Bewegung gegen die Staatsmacht begann, schien es sich zunächst um eine korporatistische Meuterei zu handeln, die von blutigen Abrechnungen begleitet wurde. Doch Laurent Gbagbo und seine Front populaire ivorien (Ivorische Volksfront, FPI) behaupteten von Anfang an, der Aufstand sei nur die Verschwörung zweier Oppositionspolitiker: Guillaume Soro, der Anführer der Rebellion, war bei den Parlamentswahlen vom Dezember 2000 Spitzenkandidat des Rassemblement des républicains (Republikanische Sammlungsbewegung, RDR); Alassane Ouattara ist Vorsitzender der RDR und wurde wegen „Zweifeln an seiner Staatsangehörigkeit“ bei den Präsidentenwahlen 2000 von der Kandidatur ausgeschlossen. Er hat gute Kontakte zur französischen Wirtschaft und verbringt den Großteil seiner Zeit in Paris.

Die Medien der Elfenbeinküste rätselten über die Finanzquellen der Aufständischen und spekulierten über eine mögliche Beteiligung Libyens. Auch der Nachbarstaat Burkina Faso und sein Präsident Blaise Compaoré wurden bezichtigt, die Rebellion logistisch und bei der Anwerbung und Ausbildung von Kämpfern zu unterstützen. Gbagbos Berater beklagten außerdem die Aktivitäten bestimmter „Netzwerke“, sprich: der französischen Regierung.7 Diese befürchte, so die Vermutung, ein Ende der Monopolstellung, die große französische Konzerne auf den Märkten des Landes bislang innehaben. Auf diese Weise hätten die Franzosen „75 Prozent des seit 1960 in der Elfenbeinküste geschaffenen Reichtums“ erwirtschaftet und dem Land entzogen.8

Tatsächlich laufen die meisten Verträge dieser Unternehmen im Jahr 2004 aus. Sie wurden bisher in Absprache zwischen ehemaligen Kolonialmacht Frankreich und den Konzernen vergeben. Je nach Korruptionsgrad waren die Ministerien der verschiedenen ivorischen Regierungen in dieses Vergabesystem unterschiedlich stark eingebunden. Als jedoch Präsident Gbagbo den Vorschlag machte, für solche Geschäfte in Zukunft international Angebote einzuholen, schlug diese Idee wie eine Bombe ein. Sie bedeutete den Bruch mit der offiziellen Politik institutionalisierter Bestechlichkeit, die seit der Unabhängigkeit des Landes zu Lasten der kleinen Leute geht und die Funktionäre des Regimes bereichert. Nicht zuletzt hat diese Politik sehr wesentlich zu den Auslandsschulden in Höhe von 17 Millarden Dollar beigetragen.

Schon 1994 hatte der damalige Präsident Henri Konan Bédié der allzu engen Umarmung durch Paris den Kampf angesagt. Ohne Rücksprache mit den französischen Institutionen schanzte er den US-amerikanischen Giganten Cargill und Archer Daniel Midlands großzügige Exportverträge für Kaffee und Kakao zu. Außerdem vergab er an das Unternehmen Venco eine Lizenz zur Prospektion von Ölquellen vor der ivorischen Küste. Frankreichs Konzernen drohte aggressive Konkurrenz. Auch deshalb werden sie nun verdächtigt, General Guéï im Dezember 1999 zu seinem „Weihnachtsputsch“ ermutigt zu haben (Guéï war vierzehn Tage zuvor zu Besprechungen in Paris gewesen)9 . In der Tat liegt die Vermutung nahe, dass die französischen Konzerne die Regierungen Konan Bédiés und Gbagbos zu schwächen versuchten, weil diese mit dem Gedanken einer Annäherung an britische und US-amerikanische Interessen spielten.

Seit 1994 hat sich vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise und der Abwertung des CFA-Francs die nationalistische Ideologie der Ivoirité (des „Ivorertums“) herausgebildet, die mehr als ein Viertel der Bevölkerung ausgrenzt. Dies hat zu einer Spaltung entlang der ethnischen, geografischen und religiösen Grenzen geführt, die von anderen Kräften zur Zersetzung des gesamten Staatswesens ausgenutzt wurde.

Da es Laurent Gbagbo nicht gelang, mit den Aufständen in seinem Land fertig zu werden, kam die Wirtschaftstätigkeit für ein halbes Jahr praktisch zum Erliegen. Die Elfenbeinküste wurde quasi unter die Vormundschaft der internationalen Gemeinschaft gestellt. Auch die Verträge von Marcoussis kamen nur auf Drängen Frankreichs zustande, und dies ist einer der Gründe dafür, dass die „Republikaner“ des Landes Ende Januar in den Straßen von Abidjan gegen Frankreich aufmarschierten. Sie beschuldigten die ehemalige Kolonialmacht, die schwere Krise des Landes, wenn nicht verursacht, so doch zumindest gefördert zu haben.

Der Apotheker und die weißen Kolonisten

MAN hat diese gewalttätigen Ausschreitungen im Süden des Landes zuweilen heruntergespielt oder behauptet, sie seien von Leuten aus der unmittelbaren Umgebung des Präsidenten inszeniert worden. Doch solche Gewalttätigkeiten entspringen einem älteren „ivorischen Nationalismus“, der schon in der Kolonialzeit den Kampf des Rassemblement des démocrates africains (Sammlungsbewegung afrikanischer Demokraten, RDA) hervorgebracht hatte. Bereits 1948 protestierte Jean Baptiste Mockey, ein junger Apotheker und Mitglied des Parti democrate de Côte d‘Ivoire (Demokratische Partei der Elfenbeinküste, PDCI-RDA), vor der damals aus kleinbürgerlichen weißen Kolonisten bestehenden Generalversammlung gegen die Ausbeutung von ivorischem Grund und Boden durch Europäer.10 Ein Jahr später rief dieselbe Partei zum Boykott des Handels mit Frankreich auf, um gegen die Vorherrschaft der kolonialen Wirtschaftslobby zu kämpfen.

Nachdem die französischen Behörden den Aufruhr brutal niedergeschlagen hatten, erschien der damalige Überseeminister François Mitterrand bei Félix Houphouët-Boigny mit der Kapitulationsurkunde, die dieser im Namen des RDA unterschrieb. Die Elfenbeinküste wurde danach zu einem Aushängeschild Frankreichs in Afrika. Félix Houphouët-Boigny war besiegt. Das Land entwickelte sich zu einer Art lokalen Subagentur der französischen Interessen in Westafrika. Diese politische Neutralisierung hat sich auf die Ivorer noch lange Zeit ungeheur lähmend ausgewirkt – und zwar umso mehr, als die Elfenbeinküste im Gegensatz zu Indochina, Algerien oder Madagaskar ihre Befreiung vom Kolonialregime nicht erkämpfen musste. Im Jahr 1958 gab es kein „Volk der Ivorer“, das in einem Unabhängigkeitskrieg seine eigenständige Identität herausgebildet hätte.

Und so war es dann auch ein französischer Jurist, der in einem Büro der Pariser Nationalversammlung eine neue Verfassung schrieb und sie Houphouët-Boigny vorlas. Diese Verfassung erklärte Houphouët-Boigny zum Ministerpräsidenten der Elfenbeinküste und schuf später die Rahmenbedingungen der „konfiszierten Unabhängigkeit“. Am 3. August 1960 wurde Houphouët-Boigny als Präsident vereidigt. Anschließend ließ er auf einer Versammlung seiner Einheitspartei das Grundgesetz kolonialen Ursprungs per Akklamation verabschieden.

Seit dieser Zeit ist die Elfenbeinküste de facto ein französisches Überseegebiet. Ihr Regierungssystem ist nominell unabhängig, aber tatsächlich eng an Paris angelehnt. Frankreich kann seine Macht zwar nicht mehr direkt politisch ausüben, kontrolliert aber die Währung und die Wirtschaft des Landes. Wie zu kolonialen Zeiten dürfen in der Elfenbeinküste erzielte Gewinne unversteuert nach Frankreich abfließen. Die französischen Unternehmen bewegen sich wie auf erobertem Territorium, mit allen entsprechenden Privilegien.

Von solchen politischen und wirtschaftlichen Machenschaften wissen die meisten Ivorer nichts. Sie werden seit langem in dem schlichten Glauben gelassen, ihr Land werde von afrikanischen Ausländern ausgebeutet – die mehr als ein Viertel der Bevölkerung ausmachen und sich deshalb zur Rechtfertigung ausländerfeindlicher Reaktionen eignen.

Da die Verträge von Marcoussis der politischen Elite der Elfenbeinküste hinter verschlossenen Türen und außerhalb des Landes unter französischer Kontrolle abgerungen wurden, sieht das einfache „Volk der Ivorer im Kampf gegen Überfremdung“ in ihnen einen Akt der Rekolonisierung. Und dass das Abkommen von der Resolution 1446 des UN-Sicherheitsrates unterstützt wird, kann den Verdacht in ihren Augen nur bestätigen.

Laurent Gbagbos Wahl zum Präsidenten der Elfenbeinküste war von gewalttätigen Ausschreitungen überschattet, denn die vor ihm herrschende Militärjunta hatte versucht, alle Gegenkandidaten auszuschalten und sich selbst zum Wahlsieger auszurufen. Doch auch dem populären Gbagbo wurde schließlich seine Unfähigkeit, die Krise zu bewältigen, zum Verhängnis. Nun ist er zum Statisten geworden und versteckt sich hinter einem allmächtigen Ministerpräsidenten, der das Land mit Verordnungen regiert.

Der „schmutzige Krieg“ hinterlässt ein Land in Trauer, dessen Regierende sich von Frankreich verraten fühlen.11 Die Verträge von Marcoussis haben die Lunte am Pulverfass entzündet, und die Wut entlud sich schließlich in den frankreichfeindlichen Tumulten von Abidjan. Paris hat bei den Verhandlungen in Marcoussis vor allem die Aversion der Ivorer gegen Alassane Ouattara unterschätzt. Denn der ehemalige Premierminister wird ethnisch den überwiegend in Burkina Faso lebenden Mossi zugerechnet. Die Ideologie der „Ivoirité“ wurde im Dezember 1994 hauptsächlich deshalb in die Verfassung hineingeschrieben, weil man Ouattaras politische Ambitionen stoppen wollte. Seit mehr als zehn Jahren attackiert die gesamte politische Elite mit Unterstützung der Medien einen Mann, der in ihren Augen die „ausländische Invasion“ nachgerade verkörpert.

Schon die Vorstellung einer Kandidatur Ouattaras stößt bei einem großen Teil der öffentlichen Meinung auf Ablehnung – manchmal sogar auch im Norden des Landes, wo der Anteil der Mossi wesentlich höher ist als im Süden. Dieser Fremdenhass geht auf die Dreißigerjahre des letzten Jahrhunderts zurück, als die Mossi aus Burkina Faso einwanderten. Sie arbeiteten auf den Kakao- und Kaffeeplantagen des Südens, wo sie nur einmal im Jahr bezahlt wurden und unter Bedingungen schufteten, die der Sklaverei sehr ähnlich waren. Als die Elfenbeinküste ihre Unabhängigkeit erlangte, machten die Mossi auf der sozialen Leiter einen winzigen Schritt nach oben: Sie wurden Wächter, Chauffeure oder Küchengehilfen.

Alassane Ouattara wurde von Anfang an als ein Sohn dieser ersten Generation eingewanderter Mossi wahrgenommen. Allein schon deshalb kann er niemals Präsident der Elfenbeinküste werden. Sollte er am Ende durch einen Staatsstreich an die Macht gelangen, würde sich im Süden des Landes sofort eine Welle des Fremdenhasses erheben. Das würde einen Bürgerkrieg provozieren, der noch viel erbitterter und blutiger verlaufen würde als die Zusammenstöße der letzten Monate.

deutsch von Herwig Engelmann

* Journalist

Fußnoten: 1 Vgl. Fraternité Matin, Abidjan, 3. März 2003. 2 Siehe Vincent Huguex, „Simone Gbagbo, femme fatale“, L‘Express, 20. Februar 2003. 3 Vgl. Fraternité Matin, 4. März 2003 4 Nach der Unterzeichnung der Verträge von Marcoussis glaubten sich die Rebellen bereits im Besitz der Ministerien für Verteidigung und Inneres. 5 Diese Übertragung gilt offiziell für sechs Monate. Sie umfasst 16 verschiedene Kompetenzbereiche. Dazu gehören unter anderem: die Entwaffnung der Aufständischen, die Neugründung und der Umbau von Landesverteidigung und innerer Sicherheit, die Wiederherstellung der territorialen Integrität und der staatlichen Ordnung im gesamten Land, die Festlegung eines Wahltermins, eine rechtliche Reform des Grundbesitzes, die Sanierung der Wirtschaft und der Aufbau politisch neutraler Medien mit ausgeglichener Berichterstattung. 6 Vgl. Tiemoko Coulibaly, „Bürgerkrieg im Namen der Ivoirité“, Le Monde diplomatique, November 2002. 7 Vgl. „Les réseaux financiers français mis à l‘index à Boston“, AbidjanNat, 23. November 2000. 8 Vgl. Ahmed Konadio, „Le nerf de la guerre“, Jeune Afrique Economie, 4. November 2002; außerdem Yves Ekoué Amaïzo, „Frankreich und die Krise der Elfenbeinküste“, Le Monde diplomatique, Januar 2003. 9 Vgl. „Les Coulisses du coup d‘État“, Le Figaro, 27. Dezember 2002. 10 Bernard Doza, „Le Martyr Mockey“, Biblioeurope, Paris 1991. 11 Die Elfenbeinküste und Frankreich sind seit 1961 durch ein Verteidigungsabkommen verbunden. Paris hat gezögert, seine Verpflichtungen zu erfüllen, und weigerte sich zunächst, die Rebellion in der Elfenbeinküste als eine vom Ausland gesteuerte Aggression zu bewerten. Danach beschränkte sich Frankreich auf eine logistische Unterstützung der ivorischen Truppen. Zugleich ging die französische Armee entlang einer Waffenstillstandslinie in Stellung. Damit schützte sie den „nützlichen“ Süden mit seinen Kaffee- und Kakaoplantagen vor Überfällen der Aufständischen.

Le Monde diplomatique vom 11.04.2003, von BERNARD DOZA