Chirac, der Afrikaner
DER französische Präsident Chirac sieht sich in mancher Hinsicht als Erbe de Gaulles. Zum Beispiel sonnt er sich gern in der Rolle des Mittlers zwischen Europa und Afrika, organisiert diplomatisch hoch diffizile afrikanische Gipfeltreffen und lässt sich bei einem „historischen“ Staatsbesuch in Algerien feiern. Die wiederentdeckte französisch-afrikanische Partnerschaft, in deren Rahmen auch so problematische Aktionen fallen wie das französische Eingreifen in der Elfenbeinküste, vermochte Chirac zu einem symbolisch bedeutsamen Erfolg zu nutzen. Über fünfzig Staaten, die auf der Linie der französischen UN-Politik liegen, unterzeichneten eine Erklärung zum Irak. In Afrika bestehen jedoch Zweifel an der Aufrichtigkeit der einstigen Kolonialmacht.
Von CLAUDE WAUTHIER *
Im Februar 2002 fand in Paris eine Konferenz zum Thema „Neue Partnerschaft für die Entwicklung Afrikas“ (Nepad) statt, an der eine ganze Reihe afrikanischer Staatschefs teilnahmen.1 Im September 2002 entschloss sich Frankreich zu einer „robusten“ Militärintervention in der Elfenbeinküste. Im Januar 2003 folgte eine Versöhnungskonferenz der ivorischen Führer im Pariser Vorort Marcoussis, im Februar ein Afrika-Frankreich-Gipfel in Paris und Anfang März eine Reise des französischen Präsidenten nach Algerien. Damit hat Jacques Chirac deutlich gemacht, dass er an die „afrikanische Politik“ der gaullistischen Tradition anknüpfen will, als deren Erbe er sich versteht.
Am erfolgreichsten war in dieser Hinsicht der 22. Frankreich-Afrika-Gipfel im Februar 2003, schon weil dabei mehr Delegationen als je zuvor vertreten waren, nämlich 52 von den 53 Staaten des Kontinents, darunter rund vierzig mit dem Staatschef an der Spitze. Nur das zerrissene Somalia war nicht eingeladen. So entsprach die Versammlung in ihrer Zusammensetzung einem Gipfel der Afrikanischen Union.2 Für Frankreich war dies der Beweis, dass es immerhin noch als „Mittelmacht“ wahrgenommen wird.
Paris hat diesen Gipfel aber auch geschickt genutzt, um sich auf der internationalen Bühne Rückhalt in einer entscheidenden Frage zu verschaffen, im Konflikt zwischen den USA und dem Irak. Chirac bekam von der Konferenz eine Erklärung verabschiedet, die den französischen Standpunkt widerspiegelt, dass nämlich alle Möglichkeiten der friedlichen Entwaffnung auf dem Weg der Inspektionen erschöpft sein müssten, ehe man an einen Militärschlag gegen das Regime von Saddam Hussein denken könne. In der diplomatischen Kraftprobe mit der Achse Washington–London–Madrid konnte Frankreich damit für die Achse Paris–Berlin–Moskau die Unterstützung von über fünfzig Staaten sichern – das sind mehr als ein Viertel der Mitgliedsländer der Vereinten Nationen. Das war auch deshalb wichtig, weil drei dieser Länder – Kamerun, Angola und Guinea – zugleich nichtständige Mitglieder des Sicherheitsrats waren und Guinea im entscheidenden Monat März den Vorsitz führte.3
Allerdings hört man auch Kritik an den Bedingungen, unter denen Frankreich die Zustimmung der afrikanischen Staaten erwirkt hatte. Offenbar wurde die Erklärung unter den Teilnehmerstaaten nicht diskutiert. Sie wurde hinter verschlossenen Türen zwischen Paris und den drei afrikanischen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrats ausgekungelt und den anderen Teilnehmern einfach vorgesetzt. Die Aufforderung zur sofortigen Unterzeichnung ohne weitere Diskussionen führte zu einigen Protesten, unter anderem von Seiten des ruandischen Präsidenten Paul Kagame.4
Verstimmt zeigten sich einige Gipfelteilnehmer auch über die Anwesenheit eines „schwarzen Schafs“: Jacques Chirac hatte den Staatspräsidenten von Simbabwe, Robert Mugabe, eingeladen. Und dies trotz der Vorbehalte Großbritanniens und der Sanktionen, die kurz zuvor die Europäische Union gegen Harare beschlossen hatte. In Wirklichkeit hatte der französische Präsident gar keine andere Wahl: Viele afrikanische Länder unterstützen Mugabes Regime; zwei „Schwergewichte“, Nigeria und Südafrika, verlangen seine Wiederzulassung zum Commonwealth. Hätte Chirac Mugabe nicht eingeladen, wären die Präsidenten Olusegun Obasanjo (Nigeria) und Thabo Mbeki (Südafrika) ferngeblieben. Der Franzose musste sich damit begnügen, seine Missbilligung der Politik des Staatschefs von Simbabwe – dem die Beschlagnahmung der Ländereien weißer Grundbesitzer vorgeworfen wird5 – symbolisch auszudrücken. Er versagte Mugabe die Umarmung, mit der er die afrikanischen Präsidenten gewöhnlich begrüßt, und empfing ihn zu einem Sondergespräch, bei dem die Frage der Menschenrechte in Simbabwe zur Sprache gekommen sein soll.
Ganz andere Töne schlug Chirac gegenüber Laurent Gbagbo, dem Präsidenten der Elfenbeinküste, an. Den griff erschon in seiner Eröffnungsrede frontal an. Er proklamierte das „Ende der Straflosigkeit“ für Staatsoberhäupter, die die Menschenrechte missachten, und wies darauf hin, dass ihnen künftig die Verfolgung durch den Internationalen Strafgerichtshof drohe. Und mit der Formulierung, die „Todesschwadronen“ in der Elfenbeinküste seien „eine Realität“, stieß er in das gleiche Horn wie Ende Januar der Präsident von Burkina Faso, Blaise Compaoré, der erklärt hatte, Gbagbo würde noch „enden wie Milošević“6 . Nach einem UN-Report sollen die Todeskommandos, die nachts in den Straßen von Abidjan die Gegner von Präsident Gbagbo überfallen, „aus regierungsnahen Elementen bestehen“. Gerüchte besagen sogar, sie folgten den Befehlen der Ehefrau des ivorischen Präsidenten.
Abidjan seinerseits beschuldigt die Regierung von Burkina Faso, hinter der Rebellion zu stehen, die am 19. September 2002 in Bouaké im Norden der Elfenbeinküste ausbrach. Vor dem Aufstand hatte Ouagadougou die Rebellen tatsächlich mehrere Monate auf Kosten der burkinischen Regierung beherbergt, bei denen es sich um Militärs handelt, die Gbagbos Vorgänger Robert Guéï rekrutiert hatte. Dieser war im Dezember 1999 durch den Staatsstreich gegen Henri Konan-Bédié, den Nachfolger von Félix Houphouët- Boigny, an die Macht gekommen. Der neue Präsident Laurent Gbagbo wollte diese militärischen Kader aus der ivorischen Armee entfernen.
Durch die Unterstützung, die Burkina Faso den Rebellen gewährte, wollte sich Compaoré dafür rächen, dass viele seiner in Elfenbeinküste lebenden Landsleute Opfer einer nationalistischen Politik wurden, die sie im Namen der „Ivoirité“ ausbeutete und ihnen die ivorischen Nationalität sowie das Recht auf Grundbesitz absprach. Im Rahmen dieser Politik war der Expremierminister von Houphouët-Boigny, Alassane Ouattara, dem eine burkinische Herkunft nachgesagt wurde, von den Präsidentschaftswahlen am 22. Oktober 2000 ausgeschlossen worden, was zweifellos Gbagbos Sieg über Robert Guéï begünstigt hat. Im Übrigen war der Staatschef der Elfenbeinküste nie bereit, auf das Prinzip der „Ivoirité“ zu verzichten. Das wurde ihm übrigens auch von dem ehemaligen französischen Ministerpräsidenten Michel Rocard7 vorgeworfen, obwohl dieser Vertreter der französischen Sozialisten ansonsten immer hinter Gbagbo und dessen Front Populaire Ivorien (FPI) gestanden hatte, der Mitglied der Sozialistischen Internationale ist.8
Als deutlich wurde, dass die Rebellen rasch nach Süden vorrückten und die schlecht ausgerüstete ivorische Armee zu überrennen drohten, beschloss Frankreich zu intervenieren und schickte eine Streitmacht von 3 000 Mann, die eine Waffenstillstandslinie zwischen den kämpfenden Parteien errichtete. Die so genannte Operation Einhorn – von Christiane Taubira, einer Abgeordneten und ehemaligen Präsidentschaftskandidatin Guyanas, als „ewiger Kolonialreflex“ bezeichnet9 – hat die Elfenbeinküste gespalten und die Trennung zwischen dem animistisch-christlichen Süden, wo die Baule (die Ethnie von Félix Houphouët-Boigny und Henri Konan-Bédié) und die Bete (die Ethnie von Laurent Gbagbo) vorherrschen, und dem von den Dioula bevölkerten muslimischen Norden erst wirklich besiegelt. Die Rebellen aus Bouaké haben ihre eigene politische Partei gegründet, die „Patriotische Bewegung für die Elfenbeinküste“ (MPCI), geführt von Guillaume Soro, einem ehemaligen Studentenführer.
Ende November 2002 wurde die Situation noch komplizierter, als im Westen zwei weitere Rebellengruppen auftauchten, die Ivorische Volksbewegung des Westens (MPIGO) und die Bewegung für Gerechtigkeit und Frieden (MJP). Beide bestehen aus Milizionären der Yacouba und berufen sich auf General Guéï, der in Abidjan ermordet wurde, als die Revolte in Bouaké ausbrach. Diesen Gruppen schloss sich auch eine undurchsichtige Allianz liberianischer Partisanen an, während andere Gruppen liberianischer Soldaten die ivorischen Regierungstruppen unterstützen.
In dieser Situation hatte der französische Staatspräsident es für gut befunden, alle ivorischen Parteien ins französische Marcoussis einzuladen, um eine Lösung für die Krise zu finden. Dabei wurde Gbagbo offenbar von Chirac und seinem Außenminister, Dominique de Villepin, hart in die Mangel genommen. Zurück in Abidjan, spielte der ivorische Präsident die Bedeutung des Abkommens von Marcoussis – das immerhin von UN-Generalsekretär Kofi Annan bestätigt worden war – wieder herunter und versprach, es „dem Geiste nach“, aber nicht buchstäblich einzuhalten. Doch damit konnte er den Zorn seiner „patriotischen“ Anhänger nicht besänftigen. Ende Januar attackierten sie die Symbole der französischen Präsenz, legten die Botschaft in Schutt und Asche, zerstörten das französische Kulturzentrum. Auf Plakaten konnte man sogar die Parole lesen: „Franzosen raus, Amerikaner rein!“
Die Elfenbeinküste, einst Zierde des französischen Kolonialreichs und lange Zeit ein Modell für Wohlstand und Stabilität im frankophonen Westafrika, steht am Abgrund. Einen Monat nach Marcoussis, als in Paris der französisch-afrikanische Gipfel tagte (bei dem Präsident Gbagbo sich vertreten ließ), machte die Bildung einer „Regierung der nationalen Versöhnung“, mit der dem Abkommen gemäß der neue Premierminister Seydou Diarra, ein Muslim aus dem Norden, beauftragt worden war, in dem nunmehr dreigeteilten Land immer noch Schwierigkeiten. Zudem hatte ein am 27. Februar veröffentlichter Bericht von amnesty international ein grelles Licht auf die Gräueltaten der MPCI-Rebellen in Bouaké geworfen. Sie sollen an die sechzig regierungstreue Gendarmen mitsamt ihren Familien auf grausame Weise exekutiert haben.
Nach diesen Enthüllungen schien Gbagbo erst recht nicht gewillt, der Forderung nachzugeben, Schlüsselpositionen wie das Verteidigungs- oder das Innenministerium mit Leuten zu besetzen, die mit der Rebellion zu tun hatten. Aber vielleicht haben diese Enthüllungen die Rebellen zu dem Kompromiss veranlasst, der am 6. März in Accra (Ghana) unter der Schirmherrschaft der Wirtschaftsgemeinschaft Westafrikanischer Staaten (Ecowas) zustande kam, deren Friedenstruppen die Soldaten der „Operation Einhorn“ ablösen sollen. Das in Accra erarbeitete Zusatzabkommen unterstellt die künftige Regierung einem Sicherheitsrat, in dem alle Konfliktparteien vertreten sind.
Ein anderes Thema, das im „franko-afrikanischen Dorf“ für Unruhe sorgt, ist die Situation in der Zentralafrikanischen Republik (ZAR), wo die Macht von Präsident Ange-Félix Patassé, dem Expremier von Kaiser Jean-Bedel Bokassa, durch einen Aufstand unter Führung des ehemaligen Armeechefs François Bozizé erschüttert wird. Letzterer wird offenbar vom Tschad unterstützt und hatte bis vor kurzem noch in Frankreich Asyl genossen. Das legt natürlich die Frage nahe, welches Spiel Paris gegenüber dem zentralafrikanischen Präsidenten treibt.
Patassé vermag sich nur dank einer Prätorianer-Garde im Amt zu halten, die der libysche Staatschef Muammar al-Gaddafi aushält. Im Übrigen stützt er sich auf eine Rebellengruppe aus der Demokratischen Republik Kongo, die Kongolesische Befreiungsbewegung (MLC) unter Führung von Jean-Pierre Bemba. Diese MLC wird abscheulicher Gewalttaten bezichtigt, bis hin zu kannibalischen Exzessen unter den Pygmäen im früheren Zaire.10 Auch der Söldnerveteran Paul Barril wurde rekrutiert, um das in Bangui herrschende Regime zu verteidigen.
Auf dem französisch-afrikanischen Gipfel gab es ein scharfes Wortgefecht zwischen Präsident Patassé und dem Staatsoberhaupt des Tschad, Idriss Déby. Mehr noch als die Vorgänge in der Elfenbeinküste beschwört der zentralafrikanische Konflikt die Bilder einer überwunden geglaubten Vergangenheit herauf: von Foccart-Seilschaften und von Bürgerkriegen, die an die Kämpfe zwischen machtgierigen Sumpfkrokodilen erinnern, aber auch von zwei undurchsichtigen französisch-afrikanische Skandalen der jüngeren Vergangenheit: der Elf-Affäre und der „Angolagate“-Affäre.11
Auf dem Pariser Gipfel gab es aber auch ermutigende Signale. So regte Chirac für die 22 reichsten Länder der Welt ein Moratorium bei den agrarischen Exportsubventionen an, die der afrikanischen Landwirtschaft einen Schaden von über 350 Millionen Euro zufügen, das Siebenfache der staatlichen Entwicklungshilfe. Dieser Vorschlag, der im Juni auf dem G-8-Gipfel in Evian zur Sprache kommen wird, wäre freilich glaubwürdiger, würde Frankreich nicht im Rahmen der Gemeinsamen Europäischen Agrarpolitik (GAP) so vehement für die Subventionen für seine eigenen Bauern kämpfen.
Im Kielwasser des Frankreich-Afrika-Gipfels absolvierte Jacques Chirac schließlich einen „historischen“ Staatsbesuch in Algerien, bei dem ihm in Algier und Oran riesige Menschenmengen einen begeisterten Empfang bereiteten. Der galt zweifellos dem „Widerstandskämpfer“ gegen die Unternehmungen des US-Präsidenten George W. Bush. Aber er drückte auch die Hoffnung aus, dass sich Frankreich in seiner Visapolitik großzügiger zeigen könnte. Der französische Staatschef zog es vor, die algerische Jugend aufzufordern, im Land zu bleiben und zum Wiederaufbau beizutragen. Im Übrigen ließ er die Opposition gegen das Regime von Abdelaziz Bouteflika links liegen und vermied es sorgsam, die Kabylei in seine Rundreise einzubeziehen.12
Nicht nur in Algerien bewegt sich die Afrikapolitik des französischen Präsidenten auf schwierigem Gelände. Chirac wird große Umsicht und Klugheit zeigen müssen, wenn endlich „Schluss sein soll mit den Gewaltstreichen in Afrika“, wie er es 1996 in einer Rede in Brazzaville in aller Unschuld gefordert hatte.
deutsch von Grete Osterwald
* Autor und Übersetzer.