Fatima und ihr Mann
Von PATRICK HERMAN *
DIE Hügel um Porto wird Guilhermino Armonado dos Santos Sousa nie mehr wiedersehen. An jenem Sonntagabend, am 24. September 2000, befand er sich bei Dabisse, einer Gemeinde im Kreis Mées, Département Alpes de Haute-Provence, auf der Landstraße Nr. 4. Wie jedes Jahr war er mit hunderten anderen Portugiesen zur Apfelernte angereist und war nun auf dem Heimweg zum landwirtschaftlichen Gut, auf dem er arbeitete. Er schob ein Fahrrad, das er auf dem Flohmarkt des Dorfs erstanden hatte, ein Geschenk für eine seiner Töchter, die zu Hause in Portugal geblieben waren. Hörte er, wie hinter seinem Rücken der Motor aufheulte? Kein Mensch wird es je wissen. Seine Kumpel sprangen in den Straßengraben, Guilhermino schaffte es nicht mehr. Er wurde auf die Böschung geschleudert, kurz darauf starb er im Krankenhaus von Manosque.
In dem Auto saßen zwei Männer. Sie und noch zwei andere hatten die Portugiesen nur kurz zuvor bei einem Glas Wein in der Dorfkneipe angepöbelt: „Die Portugiesen nehmen uns die Luft zum Atmen. Ich würde am liebsten einen von denen umlegen.“1 Nach kurzer handgreiflicher Auseinandersetzung wurden die Männer von der herbeigerufenen Gendarmerie zu ihrem Auto zurückbegleitet. Das war schon eine merkwürdige Art, die öffentliche Ordnung wiederherzustellen, zumal die „Ordnungshüter“ hinreichend Gründe gehabt hätten, die Störenfriede einzubuchten: Aufstachelung zum Rassenhass, Morddrohung, Trunkenheit am Steuer. Aber einer der Angreifer war nun einmal der Sohn eines pensionierten Gendarmen. Kurz darauf wurde der flüchtige Fahrer Thierry Hameau mit seinen Komplizen in Gewahrsam genommen.
Die portugiesische Gemeinde war erschüttert. Einige Saisonarbeiter reisten tags darauf ab. Schockierte Dorfbewohner sammelten Geld für die Hinterbliebenen und gründeten mit Unterstützung von Radio Zinzine2 ein Hilfskomitee, das alle Hände voll zu tun bekam.3
Denn nachdem sich die Empörung gelegt hatte, herrschte im Dorf die Omertà. Einige Zeugen weigerten sich sogar, ihre anfänglichen Aussagen zu bestätigen. Es hatte den Anschein, als werde man die Angelegenheit vor dem Landgericht als einfachen Autounfall verhandeln. Der Fahrer wurde Anfang 2001 wieder auf freien Fuß gesetzt, dann aber doch erneut in Haft genommen, weil die Staatsanwaltschaft gegen seine Freilassung Einspruch eingelegt hatte und eine Welle der Empörung durch die Öffentlichkeit ging. Jetzt fragt sich, ob das Gesetz des Schweigens die Wahrheit unterdrücken kann, dass es sich um ein rassistisch motiviertes Verbrechen gehandelt hat.
September 2002. Die Durance hat unter dem unablässig vom Mistral gefegten Himmel nichts von ihrem Glanz verloren. Vor dreißig Jahren ist Raschid4 aus Marokko gekommen, die großen Pflanzungen, wahre Apfelfabriken, kennt er wie seine Hosentasche. Das Auto fährt im Schritttempo an den Plantagen entlang, deren Hagelschutznetze in der Abendsonne blinken, so weit das Auge reicht. Als uns ein Wagen entgegenkommt, geht Raschid in Deckung, aus Angst, erkannt zu werden. Raschid erzählt uns vom Alltag auf den Apfelplantagen: endlose Wochen, Überstunden, oft unbezahlt, Pauschallöhne, auf dem Lohnzettel in Stundenlöhne umgerechtet, die den Mindestlohn SMIC als unerreichbaren Reichtum erscheinen lassen, keine offizielle Anerkennung dafür, dass er hier schon seit Jahrzehnten ordentliche Arbeit leistet, keine Fortbildung, Unterbringung neben den Gerätehallen, in Schuppen, zu denen niemand sonst Zutritt hat. Nur wenige gehen das Risiko ein, gegen solche Wohnverhältnisse zu protestieren. In einem 1996 veröffentlichten Bericht heißt es: „Die Arbeitsimmigranten in der Landwirtschaft lassen sich beliebig ausnutzen und ausbeuten.“5 Nichts Neues also unter der Sonne der Provence: „Ein Immigrant ist im Wesentlichen eine zeitweilige Arbeitskraft, die jeden Moment wieder zurückgeschickt werden kann.“6
Ein anderer Familienvater erzählt, wie er 1974 als Forstarbeiter rekrutiert wurde: „Die Franzosen kamen nach Kenifra in Marokko. Sie testeten unsere Kräfte mit einer Kette, die mit einem Zähler verbunden war. Wenn du weniger als 140 schaffst, bist du draußen. Wenn du mehr schaffst, ist alles okay. Ich habe 185 geschafft. 1 000 oder 2 000 Männer hatten sich beworben, um nach Frankreich zu kommen. Zuerst haben sich die Franzosen unsere Hände angesehen und daraufhin 186 ausgewählt. Nach der Kettenprobe waren nur noch 32 übrig.“7
Im Durance-Tal haben die Portugiesen die Spanier abgelöst, und während die Arbeitsmigranten aus den osteuropäischen Ländern in Portugal Arbeit suchen,8 machen hier die Marokkaner den Portugiesen allmählich Konkurrenz. Eine Konkurrenz der Armut, die es manch einem Arbeitgeber erlaubt, das Arbeitsrecht einfach zu ignorieren.
Die großflächigen Apfelmonokulturen zwischen Forcalquier und Gap entstanden nach dem Bau der Talsperre von Serre-Ponçon. Die künstlich bewässerte Intensivlandwirtschaft in dieser Region setzt einen Überfluss an unterbezahlten Arbeitskräften voraus, die jederzeit für ein paar Stunden, ein paar Tage abrufbar sind. Nur durch vielfältige Finanzierungsbeihilfen lässt sich dieses System aufrechterhalten. Subventioniert werden Investitionen, subventioniert wird die Bewässerung, subventioniert wird das Ausroden, subventioniert werden die neu angelegten Pflanzungen.
Zwei Autostunden entfernt, am Fuß der Alpilles, erstreckt sich die Crau-Ebene. Die hier so lange betriebene Rinderzucht ging nach Umstrukturierungsmaßnahmen in den sattsam bekannten Krisenzyklen unter, während die Gemüseanbauer ihren Vorteil, besonders früh im Jahr liefern zu können, an die spanischen Erzeuger verlor. Ende der 1980er-Jahre hatte die Mischwirtschaft ihre längste Zeit hinter sich, an ihre Stelle traten intensiver Obstanbau und Gewächshauszucht. In den Bouches-du-Rhône erfuhr die Beschäftigungsstruktur einen nachhaltigen Umbruch durch den Einsatz von Arbeitsmigranten, die im Rahmen von Verträgen des „International Migration Office“ (IMO) als Saisonarbeiter angeworben werden. Die so genannten IMO-Verträge betreffen ausschließlich Marokko, Tunesien und Polen9 und werden für allerhand betrügerische Machenschaften ausgenutzt (siehe Kasten).
Innerhalb kürzester Zeit waren die meisten Saisonarbeiter Marokkaner. An harte Lebensbedingungen gewöhnt, führten sie eine gespensterhafte Existenz, verschwanden im Bermudadreieck zwischen Berre, Châteaurenard und Saint Martin de Crau, wo an keiner Wegkreuzung ein Straßenschild steht. Wie es Jean-Pierre Berlan vom Institut National de la Recherche Agronomique beschreibt: „Der Landarbeiter führt, soweit er als illegaler Zuwanderer nicht ohnehin gute Gründe hat, möglichst unbemerkt zu bleiben, ein unauffälliges Leben, in den Obstplantagen versteckt, in Gewächshäusern eingeschlossen, hinter den als Windschutz gepflanzten Baumreihen verborgen, in die Weinberge geduckt.“10
Fatima hat diese Unsichtbarkeit zehn Jahre lang erfahren. Die Unsichtbarkeit und die Gefangenschaft des Schweigens. „Meinen ersten Vertrag bekam ich 1990. Bis 2000 arbeitete ich jedes Jahr acht Monate bei einem Pfirsich-Großproduzenten. Mein Vater arbeitete schon seit langem dort, auch mein Bruder. Ich wurde von einem Mittelsmann in Marokko angeworben, der Geld dafür nahm, und ich wusste nicht einmal, welche Arbeit ich machen sollte.“ Fast lebte sie wie eine Eremitin auf dem Hof ihrer Arbeitgeber. Mit den Nachbarn durfte sie nicht reden. „Sie schärften mir ein: Wenn du etwas sagst, schicken wir euch alle zurück nach Marokko.“ Als sie heiraten wollte, passte das ihren Arbeitgebern zunächst nicht – sie stünde dann ja nicht mehr jederzeit zur Verfügung –, schließlich akzeptieren sie aber, unter der Bedingung, dass sie keine Kinder bekommen würde.
Die Jahre vergingen. Jede Vertragserneuerung kostete Fatima und ihren Mann 5 000 Franc, heute 762 Euro. Die Arbeitstage auf dem Hof waren lang, Marokkaner hatten hier kein Recht auf eine Pause. Bis Fatima einen Arbeitsunfall hatte. Als ihr Chef sich weigerte, den Vorfall zu melden, bemerkte Fatima den Schwindel: Die IMO-Verträge gelten nur für Landarbeiter, während sie seit zehn Jahren als Haushaltshilfe beschäftigt war. Von sechs Uhr morgens bis Mitternacht hatte sie gearbeit und war gelegentlich auch mal an Angehörige des Chefs oder an Nachbarn „ausgeliehen“ worden. Das Maß war voll. Mit Unterstützung der CGT und der „Bewegung gegen Rassismus und für Völkerfreundschaft“ (MRAP) klagte Fatima vor dem Arbeitsgericht und verlor dadurch Arbeit, Wohnung und Lebensunterhalt. Unterdessen hatte auch ihr Mann einen Arbeitsunfall. Nun lebt sie unter der Bedrohung, dass ihre befristete Aufenthaltserlaubnis nicht erneuert wird.
Es ist Nacht geworden. Schwarze Schatten von Zypressen, menschenleere Dörfer, ein in weißes Neonlicht getauchter Raum, in dem vier marokkanische Arbeiter warten. Auf ihren Lippen immer wieder dieselbe Frage: Warum haben wir kein Anrecht auf eine Aufenthaltsgenehmigung, obwohl wir schon so lange Saisonarbeitsverträge besitzen? Dann erzählen sie von ihrem Chef, der einen Teil ihres Lohns einbehält, von ihrer Arbeit im Gewächshaus bei 50 Grad Hitze, Pestizidstaub in der Luft, ohne Schutzmaßnahmen. „Durch mein Zimmer“, sagt einer von ihnen, „läuft das Abwasser aus der Toilette und der Dusche wie ein Bach. Wenn ich eine Aufenthaltserlaubnis hätte, würde ich keinen Tag länger bleiben. Hier heißt es nur arbeiten und gehorchen.“
Nicht alle Landwirte pressen ihre Beschäftigten derart aus, für manche gehört es zu ihrer Ehre, ihre Mitarbeiter menschenwürdig zu behandeln und anständig unterzubringen. Doch zu häufig sind Gewalt und Diskriminierung die Regel, was andere immer wieder zu Ausschreitungen in der Öffentlichkeit ermuntert: In Dabisse kam es zu dem erwähnten rassistischen Verbrechen, in Oraisan und der Region von Aix wurden Nordafrikaner tot im Straßengraben aufgefunden, in Châteaurenard und Umgebung schlugen betrunkene junge Leute Ausländer zusammen.
Auf der einen Seite Gewalt, auf der anderen Seite Angst – ideale Voraussetzungen für den Bestand der regionalen Intensivlandwirtschaft. Jean-Pierre Berlan erklärt: „In diesem System spielt der Rassismus eine klar strukturierende Rolle. Der Arbeitsmarkt wird mit verschiedenen Methoden gespalten, Rassismus ist eine von ihnen.“11 So gibt es neben den Inhabern einer Aufenthaltserlaubnis die Saisonarbeiter mit IMO-Vertrag und die illegalen Zuwanderer. Ihre rechtliche Stellung ist unterschiedlich, doch sie alle haben Angst: die einen vor Entlassung, die anderen vor der Nichterneuerung ihres Vertrags, die Illegalen vor der Ausweisung.
Seit einigen Monaten jedoch treten die unsichtbaren Zwangsarbeiter aus dem Schatten heraus. In den Bouches-du-Rhône haben sie mit Unterstützung eines „Kollektivs zur Verteidigung der Landarbeiter mit IMO-Vertrag“12 beschlossen, die illegalen Praktiken anzuzeigen. Vor verschiedenen Arbeitsgerichten laufen Verfahren wegen vorzeitiger Vertragsauflösung, Falschangaben bei den Meldebehörden und nicht ausgezahlten Löhnen. In Saint Martin de Crau haben mehrere Arbeiter bereits erfolgreich auf Schadenersatz geklagt. Auch beim Generalstaatsanwalt wurden mittlerweile Klagen eingereicht.
Eine zerbrechliche, bedrohte Stimme verschafft sich unter widrigen Bedingungen Gehör. Und legt Zeugnis ab von Jahrzehnten des Unrechts, der Demütigung und der Angst.
deutsch von Bodo Schulze
* Journalist