Erdbeeren, Salat und Bauernlegen
IN den Ländern der Europäischen Union regeln neue, verschärfte Gesetze die Zuwanderung unqualifizierter Arbeitskräfte. Auf sie ist vor allem die moderne, intensive Landwirtschaft angewiesen, die sich unter dem Druck des Obst- und Gemüsegroßhandels und seiner immensen Marktmacht genötigt sieht, möglichst billig und bedarfsgerecht zu produzieren. Alljährlich zur Erntezeit sind neue Generationen von Landarbeitern bereit, noch schlechtere Arbeitsbedingungen und noch niedrigere Löhne zu akzeptieren. In jüngster Zeit kommen sie hauptsächlich aus Osteuropa und machen den nordafrikanischen Arbeitsmigranten in Spanien und Südfrankreich Konkurrenz – zum Nutzen der Produzenten.
Von NICHOLAS BELL *
NICHOLAS BELLInnerhalb der Intensivlandwirtschaft der Europäischen Union gehört der Obst- und Gemüseanbau zu den am wenigsten regulierten Sektoren der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP). Jean-Pierre Berlan, Wissenschaftler am französischen Institut National de la Recherche Agronomique (Inra) kennzeichnet die ungehemmt liberale Produktionsweise in diesem Sektor wie folgt: „Der Arbeitgeber muss ständig eine bestimmte Menge an Arbeitskräften zur Verfügung haben, um die Ernte unabhängig von den klimatischen oder ökonomischen Bedingungen einbringen zu können. Er braucht eine Reservearmee von Landarbeitern, gestellt von illegal eingewanderten Arbeitsmigranten. Es gibt eine ausgeprägte Arbeitsteilung, bei der sich illegale und offizielle Zuwanderung gegenseitig ergänzen.“1 Diese Beschreibung bezieht sich auf das „kalifornische Modell“ aus dem 19. Jahrhundert, trifft aber genauso gut auf die Verhältnisse im heutigen Europa zu. Mit einem kleinen Unterschied: Heute sind von der Situation nicht nur Immigranten, sondern auch Einheimische betroffen, sodass man allgemeiner von „nicht angemeldeten Arbeitskräften“ sprechen müsste.
Eine der wenigen empirischen Untersuchungen europäischer Gewerkschafter bestätigt diesen Befund: „Aus unseren Informationen geht klar hervor, dass Schwarzarbeit und halblegale Praktiken tendenziell zunehmen und immer weitere Verbreitung finden. Dies reicht von nicht gemeldeten Überstunden fester Mitarbeiter über atypische und flexible Formen der Gelegenheitsarbeit bis hin zur illegalen, mitunter an Sklaverei grenzenden Rekrutierung von Landarbeitern.“2
Eine entscheidende Rolle spielen hierbei die großen Handelsketten, die ungeheuren Druck auf die Erzeuger ausüben. Letztere haben sich zu regelrechten Subunternehmern entwickelt und versuchen dadurch auf ihre Kosten zu kommen, dass sie an der Stelle sparen, wo es ihnen möglich ist: beim Lohn. Denis Brutsaert schildert die Verhältnisse bei der Salatproduktion: „Die Bestellungen kommen inzwischen nicht mehr nur morgens herein. Die Abnehmer richten sich nach dem Bedarf der Supermärkte und rufen zu jeder Tageszeit an. Sie ordern für einen bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit eine ganze Lastwagenlieferung oder zumindest ein, zwei, drei Paletten. Es ist also unmöglich, eine feste Zahl von Arbeitskräften zu beschäftigen, weil man plötzlich für zwei Stunden fünfzehn Leute braucht. Man braucht eine Reservearmee, Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger, Schwarzarbeiter.“3
Die Erzeuger befinden sich in einer absurden, unhaltbaren Situation. Im Departement Bouches-du-Rhône mussten innerhalb von zwölf Jahren 43 Prozent der landwirtschaftlichen Betriebe schließen. Manche französischen und spanischen Landwirtschaftsunternehmen investieren schon in Marokko, um ihre Lohnkosten noch weiter zu senken. Gleichzeitig schießen die Gewinne der Supermärkte in die Höhe. Fünf der zehn größten Vermögen in Frankreich sind im Großhandel gemacht worden.4
Für die Beschäftigten hat diese Entwicklung verheerende Folgen. Die rassistischen Ausschreitungen gegen marokkanische Landarbeiter in Andalusien im Februar 2000 brachten deren elende Arbeitsbedingungen schlagartig ans Licht der Öffentlichkeit.5 Dass in der spanischen Landwirtschaft massiv illegale Zuwanderer beschäftigt sind, offenbarte im Januar 2001 auch ein tragischer Autounfall im Südosten Spaniens. Dabei kamen in der Nähe von Murcia zwölf illegale Landarbeiter aus Ecuador ums Leben, die für einen Stundenlohn von 2,41 Euro gearbeitet hatten. Erst dadurch erfuhr die Öffentlichkeit, dass in der Region von El Ejido 20 000 und in ganz Spanien 150 000 Ecuadorianer beschäftigt sind. Die Situation in El Ejido mag besonders dramatisch erscheinen, doch ähnliche Missstände gibt es überall in Europa.
In Großbritannien bestimmen so genannte gangmasters die Löhne und Arbeitsbedingungen der illegalen Arbeitsmigranten, die immer häufiger aus Osteuropa stammen. In der bereits zitierten Untersuchung europäischer Gewerkschafter heißt es: „Ideal für die landwirtschaftlichen Betriebe wäre es, wenn sie die Arbeit aus einem fixen Produktions-, das heißt Kostenfaktor in eine je nach Produktionsniveau variierenden Größe umwandeln könnten. […] Um dies zu erreichen, ist es am einfachsten, die Rekrutierung der tage- oder stundenweise benötigten Arbeitskräfte legalen oder illegalen Vermittlungsagenturen zu überlassen.“6
In den Niederlanden, die als eines der ersten Länder zur Intensivlandwirtschaft übergingen, ist ein Drittel der schätzungsweise 100 000 illegal Beschäftigten in der Blumen- und Gemüseerzeugung tätig. Fast alle Betriebe greifen auf eine breit gefächertes Angebot „menschlicher Ressourcen“ zurück, die sich in vier Gruppen einteilen lassen: legal beschäftigte Einheimische, die sehr viele gering oder nicht bezahlte Überstunden leisten, nicht angemeldete Einheimische (Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger), legale Immigranten mit oder ohne Arbeitsvertrag, deren Arbeitszeiten die vorgeschriebenen Höchstgrenzen ebenfalls überschreiten, und schließlich die illegalen Zuwanderer.
Die französischen Rechtsbestimmungen zum Status des Saisonarbeiters – die so genannten IMO-Verträge (siehe Kasten) – gehören zu den ältesten in Europa. Ähnliche Regelungen finden sich auch in anderen europäischen Ländern. Österreich führte im Mai 2000 die Figur des „Erntehelfers“ ins Arbeitsrecht ein: „Diese Personen, deren Zahl auf 7 000 beschränkt bleibt, dürfen nicht mehr als sechs Wochen im Land bleiben. Sie sind nicht sozialversichert, erhalten sehr geringe Löhne und sind gewerkschaftlich nicht organisiert. Der Arbeitgeber zahlt weder in die Arbeitslosen- noch in die Rentenversicherung ein. So spart er 15,5 Prozent des Bruttolohns.“7
Deutschland kennt den Status des Saisonarbeiters in der Land- und Forstwirtschaft sowie im Gaststättengewerbe seit 1991. Die Arbeitsverträge laufen über maximal drei Monate. Im Jahr 2000 erhielten 220 000 Saisonarbeiter erstmalig eine derartige Arbeitserlaubnis. Eigentlich liegt das gesetzlich erlaubte Höchstkontingent seit 1998 bei 180 000 Arbeitskräften. Doch die Bundesregierung hat eine Fülle von Ausnahmeregelungen vorgesehen, zum Beispiel „drohender Bankrott infolge zu kostspieliger Arbeitskräfte“. Deshalb kommen zu den legalen Saisonarbeitern schätzungsweise noch einmal so viele nicht angemeldete Arbeitkräfte. Rund 90 Prozent der Arbeitsmigranten in der deutschen Landwirtschaft stammen aus Polen. Da die Löhne in Osteuropa nur einen Bruchteil dessen betragen, was in Westeuropa verdient wird, sind die polnischen Saisonarbeiter bereit, lange Arbeitstage bei geringer Bezahlung in Kauf zu nehmen.
Für die Beschäftigten hat der rechtliche Status als Saisonarbeiter eine Reihe negativer Aspekte. Da sie nach Ablauf ihres Vertrags sofort in ihr Herkunftsland zurückkehren müssen, bleibt ihnen der Rechtsweg bei eventuellen Vertragsverstößen seitens des Arbeitgebers praktisch verwehrt. Außerdem wird ihnen die Zeit, die sie als Saisonarbeiter in Westeuropa verbringen, nicht angerechnet, wenn sie sich eines Tages entschließen sollten, eine reguläre Aufenthaltserlaubnis zu beantragen. In Frankreich zum Beispiel hat ein illegaler Zuwanderer, der sich seit mehreren Jahren im Land aufhält, unter bestimmten Bedingungen die Möglichkeit, eine einjährige Aufenthaltsgenehmigung zu erlangen. Ein Saisonarbeiter mit IMO-Vertrag hingegen besitzt keinerlei Rechtsansprüche, auch wenn er 25 Jahre lang jährlich acht Monate im Land gearbeit hat.
Mit solchen Zeitarbeitsverträgen zementieren die europäischen Behörden eine völlig unakzeptable Segregation auf dem Arbeitsmarkt. Alain Morice, Wissenschaftler in der Abteilung „Migration und Gesellschaft“ am Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS), hält es für durchaus vorstellbar, „dass wir nach und nach, durch immer neue Ausnahmeregelungen und die Abschaffung arbeitsrechtlicher Bestimmungen, schließlich ganz ohne illegale Beschäftigung auskommen, und zwar einfach deshalb, weil der Begriff des legalen Arbeitsverhältnisses als solcher substanziell ausgehöhlt worden ist. So zeigen zum Beispiel die Beschäftigungsverhältnisse in der Landwirtschaft, dass der Code Rural nichts als eine Riesenmenge von Ausnahmeregelungen vom positiven Arbeitsrecht darstellt.“8
Europa schafft derzeit eine Unterschicht von Zeitarbeitern, die ständig ausgewechselt werden. Diese Arbeitsmigranten haben nicht das Recht, ein normales Familienleben zu führen. Die Osterweiterung der EU wird diese Tendenz weiter verschärfen. Das Bauernlegen in Polen zum Beispiel wird mehrere Millionen Menschen zwingen, sich eine neue Einkommensquelle zu suchen. So werden die neuen Arbeitsmigranten aus dem Osten zum Vorteil der Arbeitgeber mit den alten Arbeitsmigranten aus den südlichen Ländern um Arbeitsmöglichkeiten mit geringen Qualifikationsanforderungen konkurrieren. Die „unsichtbare“ Zuwanderung ist – ob legal ober illegal – ein Pfund, mit dem sich wuchern lässt. „Unsichtbarkeit ist im Westen gleichbedeutend mit weißer Haut und der Zugehörigkeit zu einer möglichst christlichen Kultur. Diese Tendenz zum ‚Weißwaschen‘ ist hier und da schon im Gange. Die Arbeitskräfte in El Ejido wurden nach den rassistischen Ausschreitungen teilweise ausgewechselt.“9
Ein weiterer spektakulärer Fall von Immigrantensubstitution ereignete sich im Frühjahr 2002 in der andalusischen Provinz Huelva, die für ihre Erdbeerproduktion bekannt ist. Jahr für Jahr finden hier von März bis Juni 55 000 Saisonarbeiter Beschäftigung, herkömmlicherweise spanische Tagelöhner. Seit einigen Jahren jedoch arbeiten in diesem Bereich an die 10 000 Migranten, fast ausschließlich nicht angemeldete Nordafrikaner.
Im Anschluss an die breite Mobilisierung der Sans-Papiers in Spanien vor zwei Jahren erhielten 5 000 illegale Arbeiter eine beschränkte Arbeitserlaubnis, speziell für die Erdbeerernte in Huelva. Sie warteten zu Beginn der Saison voll Zuversicht auf eine Anstellung, denn ihre Papiere waren ja jetzt in Ordnung. Zu ihrer großen Überraschung mussten sie mit ansehen, wie tausende junger Frauen aus Polen und Rumänien anreisten und mit der Ernte begannen. Die spanische Regierung hatte beschlossen, 6 500 Polen und 1 000 Rumänen, vornehmlich Frauen, eine Arbeitserlaubnis zu erteilen.10 Die Neuankömmlinge begnügten sich mit noch geringeren Löhnen als die bisherigen Erntehelfer aus dem Maghreb.
Tausende von Nordafrikanern fanden sich mittellos auf der Straße wieder, ohne Arbeit, ohne Bleibe, ohne Hoffnung. Die Situation wurde immer angespannter, eine Welle des Rassismus gegen die als schmutzig, unrasiert und faul verschrienen „Moros“ setzte ein. 4 000 Menschen demonstrierten in Huelva gegen die „Unsicherheit in der Öffentlichkeit“, und die rechtsradikale „Partei für nationale Demokratie“ klebte ihre ersten Pakate.
Schließlich fanden die Nordafrikaner doch noch eine Beschäftigung bei der Erdbeerernte. Verzweifelt nach Arbeit suchend, waren sie in der Region geblieben. Sie „bildeten eine umfangreiche Reservearmee, die im Unterschied zu den Arbeiterinnen aus dem Osten auch an Feiertagen und zu Stoßzeiten zur Verfügung stand“11. Die einzigen Nutznießer dieser Situation waren die Arbeitgeber. Für sie war die Erntesaison 2002 einer der profitabelsten der letzten Jahre.
deutsch von Bodo Schulze
* Koautor von „Le goût amer de nos fruits et légumes“; Herausgeber: Forum Civique Européen, Limans 2001.