11.04.2003

Der Bauer ist kein Spielzeug

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Der Bauer ist kein Spielzeug

IN den 1970er- und 1980er-Jahren hat die europäische Landwirtschaft einen Prozess durchgemacht, der inzwischen praktisch alle weiteren Wirtschaftsbranchen in der ganzen Welt ereilt hat: Modernisierung, technische Innovation und Effektivitätsdruck haben die traditionellen bäuerlichen Familienbetriebe und dörflichen Gemeinschaften aufgelöst und das über Generationen angehäufte Wissen obsolet gemacht. Dass die Entwicklung hin zu Massentierhaltung, Monokultur und globalisierten Märkten für den Argrarsektor einen hohen sozialen und ökologischen Preis fordert, geht vielen erst allmählich auf. Dabei müsste doch gerade die landwirtschaftliche Produktion, indem sie in der Region für den Bedarf der Region arbeitet, gefeit sein gegen die Globalisierung ihrer Märkte.

Von PATRICK CHAMPAGNE *

In den Untersuchungen über die französischen Bauern zu Anfang der 1970er-Jahre ging es häufig um die so genannte Modernisierung der Landwirtschaft und die „Verbreitung technischer Innovationen“. Um die wiederholten Lebensmittelkrisen ein für alle Mal hinter sich zu lassen und die Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln sicherzustellen, schickte man nach dem Zweiten Weltkrieg junge Agronomen und Ökonomen auf „Produktivitätsmission“ in die USA, wo sie moderne Agrartechniken erlernen und dann mit zurück nach Frankreich nehmen sollten.

Ein Produktivitätswettlauf begann, der die landwirtschaftlichen Produktionstechniken ebenso nachhaltig verändert hat wie das französische Landschaftsbild. Fortan wurde massiv Kunstdünger eingesetzt, der Boden immer tiefer umgepflügt, zahllose Hecken wurden herausgerissen, und in der Viehzucht wurde die Batteriehaltung mit hunderten von Schweinen und tausenden von Hühnern eingeführt. Die hochgradige regionale Spezialisierung bedeutete für die angeblich veraltete Mischviehzucht das Aus. Die neuen Landmaschinen waren für die Bedürfnisse vieler Familienbetriebe völlig überdimensioniert. Die landwirtschaftliche Erwerbsbevölkerung schrumpfte, viele Betrieben gaben auf, es entstand eine mächtige Agroindustrie.

Der Wandel ging so tief, dass einige Beobachter von einer „stillen Revolution“ sprachen. Zwar äußerten sich neben heftigen Befürwortern auch Dissidenten, aber ihre Ansichten fanden damals wenig Gehör, denn die Effizienz der produktivistischen Landwirtschaft ließ jedes Gegenargument von vornherein als unbegründet erscheinen. Manche Bauern waren beunruhigt über den massiven Einsatz von Düngemitteln, den die Agrartechniker und die Agroindustrie empfahlen. Sie kannten die Beschaffenheit ihres Bodens – ein über Generationen angesammeltes Erfahrungswissen – und warnten, der Boden werde sich für die Behandlung, die man ihm angedeihen ließ, eines Tages „rächen“.

Einzelne Landwirtschaftsingenieure hielten bestimmte Agrarinnovationen sogar für gefährlich und wandten sich vor allem dagegen, sie unvorsichtig und in großem Maßstab einzuführen. Mit Blick auf den Wasserkreislauf und das natürliche Gleichgewicht kritisierten sie die Beseitigung der Hecken, mit der auch die Vögel als die natürlichen Feinde vieler schädlicher Insekten und Parasiten verschwinden würden. Sie waren beunruhigt über den übermäßigen Einsatz von Düngemitteln, der den Boden auslaugt und die Neubildung von Humus verhindert, und wandten sich gegen die Überspezialisierung mit ihren absurden Folgen. In manchen auf Intensivtierhaltung spezialisierten Regionen wusste man nicht mehr, wohin mit der Gülle. Die belastete fortan das Grundwasser und verpestete die Landluft, während die Getreideanbauregionen keine Verwendung mehr für das anfallende Stroh hatten.1

Dreißig Jahre später – gemessen an der Gangart der Natur eine kurze Zeitspanne – sehen sich Forschungseinrichtungen genötigt, die so genannten negativen Begleiterscheinungen des Fortschritts wie Umweltprobleme, Gefährdung der Lebensmittelsicherheit und Verschmutzung durch die Landwirtschaft usw. – allesamt Folgen der Sünden von gestern – stärker ins Auge zu fassen. Gleichzeitig leidet das Image der Bauern, was deren Selbstbewusstsein beeinträchtigt und viele junge Leute davon abhält, den elterlichen Hof zu übernehmen. Der Bauer gilt nicht mehr als Ernährer der Menschen und als Hüter der Natur, sondern als Kleinindustrieller, der unser Wasser verschmutzt, die von den vorangegangenen Generationen ererbte Landschaft zerstört und obendrein die Gesundheit seiner Mitbürger gefährdet.

Ohne Frage hat der Wandel in der Landwirtschaft die Lebensmittelknappheit in unseren Ländern beseitigt. Frankreich produziert sogar mehr, als es braucht. Ohne Frage hat sich die Lebensmittelsicherheit stark verbessert, auch wenn es bei den gestiegenen Ansprüchen manchmal nicht so aussieht. Doch die ökologische Gesamtrechnung, die ja nicht die Agroindustrie, sondern die Allgemeinheit zu begleichen hat, ist sehr hoch. Das wird etwa in der Bretagne, die sich bei der Modernisierung der Landwirtschaft an die Spitze setzte, besonders deutlich: Das Leitungswasser ist nitratbelastet und für Säuglinge nicht geeignet, es kommt häufig zu Überschwemmungen, die Gülle aus der intensiven Tierhaltung verschmutzt die Umwelt.

Erst heute, wo „die Milch schon verschüttet ist“, setzt sich die Einsicht durch, dass die Warnungen nicht nur Ausdruck von Fortschrittsfeindlichkeit und irrationaler Vergangenheitsbegeisterung waren. Der übertriebene Produktivismus hat freilich auch zu heftigen und oft überzogenen Reaktionen geführt, zu einer Art Rückkehr des Verdrängten.

Wie konnte es so weit kommen? Wie war es möglich, dass ein ganzer Berufsstand innerhalb weniger Jahre fast völlig verschwand und mit ihm das landwirtschaftliche Wissen, das sich in geduldiger Kleinarbeit über Generationen angesammelt hatte? Wie konnten sich tausende von ländlichen Gemeinden, die eine relativ abgeschlossene Mikrogesellschaft bildeten und ihre eigenen sozialen Regeln besaßen, durch den Einzug städtischer Lebensweisen einfach auflösen? Wie konnte es dazu kommen, dass ältere Landwirte heute vergeblich versuchen, ihre Kinder zur Übernahme des Hofs zu bewegen, während sich die Söhne vor nicht allzu langer Zeit noch darum prügelten, den Familienbetrieb weiterführen zu dürfen? Die gesellschaftlichen Ursachen dieser „Flucht nach vorn“, die ein besseres Leben zu versprechen schien, sind keine Eigenheit der bäuerlichen Lebenswelt. Dieselben Ursachen erklären etwa auch die Migrationsströme aus den Entwicklungsländern in die Industrieländer und die bereitwillige Übernahme des American Way of Live in den Industrieländern.

Die Vereinheitlichung der Märkte

UNTERSUCHUNGEN über die Bauernschaft in den 1970er-Jahren,2 in denen die Landflucht zunahm, vermitteln einen Eindruck von der ursächlichen Dynamik. Der Wandel wurde propagandistisch vorbereitet und durch Existenzgründungsbeihilfen, lebenslange Entschädigungszahlungen bei Hofaufgabe und ähnliche staatliche Maßnahmen befördert. Sie alle waren darauf angelegt, die herkömmlichen Agrarmethoden als überholt und veraltet darzustellen. Gleichzeitig wurden die Bauern durch landwirtschaftliche Berater, Hersteller von Landmaschinen und Vertreter der Agroindustrie in die Zange genommen, wobei der stärkste Bauernverband nützliche Hilfsdienste leistete. Die althergebrachten Märkte, auf denen die Bauern ihre Erzeugnisse verkauften, verschwanden allmählich, zugleich floss ein immer größerer Teil der landwirtschaftlichen Produktion in die Agroindustrie.

Vor allem aber zeigte sich parallel zum wirtschaftlichen Wandel eine Entwicklung, die man als Vereinheitlichung der symbolischen Märkte bezeichnen könnte, sichtbar etwa in der politischen Homogenisierung oder der Durchsetzung städtischer Lebensweisen. Das lag zum einen an der Verlängerung der Schulzeit und der daraus resultierenden Durchmischung der sozialen Schichten, zum anderen an der Ausweitung des lebensweltlichen Erfahrungshorizonts der Bauern vor allem durch das Fernsehen und das Auto. Eine Rolle spielte auch der Kontakt zu Familien, die ihren Hof aufgegeben und zu Lohnabhängigen geworden waren. Die plötzliche Konkurrenz zwischen so grundverschiedenen Lebensweisen zersetzte die sozialen Reproduktionsmechanismen der bäuerlichen Welt. Letztere verschwand gewissermaßen von selbst. Zurück blieben jeweils ein paar hypermoderne Agrarunternehmer, die heute vielfach hoch verschuldet und beim kleinsten Anlass vom Bankrott bedroht sind.

Man mag einwenden, der „Fortschritt“ müsse auch den Bauern zugute kommen, man dürfe sie nicht links liegen lassen. Doch die rein ökonomistische Sichtweise verkennt, dass das Glück der Menschen womöglich weniger von ihrem materiellen Lebensstandard abhängt als von einigermaßen stabilen Sozialstrukturen. Dass José Bové, die Galionsfigur der Confédération Paysanne, zum Katalysator unterschiedlichster sozialer Bewegungen avancieren konnte (deren Thema nicht so sehr die Landwirtschaft als vielmehr die Globalisierungskritik ist), erklärt sich wohl auch daraus, dass der Agrarsektor als Erster durchgemacht hat, was inzwischen in fast allen Wirtschaftszweigen Realität geworden ist.

Vor diesem Hintergrund drängt sich eine ganz andere Deutung der Forschungsarbeiten auf, die in den 1970er-Jahren die Verhältnisse in der Landwirtschaft untersucht haben. Was in Frankreich in den 1960er-Jahren mit positivem Unterton als „Agrarrevolution“ verkauft wurde – wer wollte sich schon gegen Fortschritt, gegen bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen aussprechen? –, markierte in Wirklichkeit den unbemerkten Beginn neoliberaler Wirtschaftslogik. Eine Beschäftigung mit dem Strukturwandel, den die Bauernschaft in den Jahren zwischen 1960 und 1980 durchlief und der letztlich zu ihrem Verschwinden führte, erleichtert das Verständnis der Gegenwart. Für den heutigen „flexiblen Menschen“ (Richard Sennett), der sich auf häufige Berufswechsel, prekäre Beschäftigungsverhältnisse, zerrissene Familien und verallgemeinerte Konkurrenz einstellen muss, könnte das Beispiel der Bauern äußerst lehrreich sein.

Da sie mehr und mehr der Finanzlogik unterworfen waren, legten die Landwirte zuallererst Wert auf kurzfristige Profite, ohne die mittel- und langfristigen Kosten der neuen Anbaumethoden zu sehen oder sehen zu wollen. Die Agrargenossenschaften, von Bauern für Bauern geschaffen, sahen sich zur Übernahme privatwirtschaftlicher Geschäftspraktiken genötigt3 und büßten ihre Eigentümlichkeit teilweise ein. Die Landwirtschaftsbank Crédit Agricole mutierte zu einem riesigen Finanzinstitut, das mit der Landwirtschaft immer weniger zu tun hat, dafür aber um so mehr mit dem Finanzkapitalismus. Die Agrarindustrie machte aus den Bauern landwirtschaftliche Lohnempfänger, zwang Familienbetrieben die Logik der Effektivitätssteigerung auf, unterwarf sie dem Gesetz der Nachfrage und einem ständigen Zwang zur Anpassung ihrer Erzeugermethoden.

Mit dem technischen und wirtschaftlichen Wandel geriet auch das ländliche Sozialgefüge in die Krise. Die örtlichen Solidarbande zerrissen, es dominierte das Prinzip Eigennutz. So wie viele Menschen der Dritten Welt in der Hoffnung auf ein besseres Leben in die Industrieländer auswandern, so machten sich die Kinder aus dem ländlichen Milieu auf den Weg in die Stadt, oft sogar auf Drängen ihrer Eltern. Auch auf dem Lande wurde der Graben zwischen den durch die Werbung geweckten Bedürfnissen und finanziellen Möglichkeiten immer tiefer, auch hier wuchsen die Ansprüche und Erwartungen in den Himmel, auch hier begann man, die eigene Lebensweise mit der der anderen zu vergleichen.

All diese Entwicklungen weisen in dieselbe Richtung. Sie erklären die Reproduktionskrise bei den kleinen und mittleren Landwirtschaftsbetrieben einschließlich der Familienstreitigkeiten, der Drohungen, in die Stadt zu gehen und den Hof aufzugeben, der über Generationen vom Vater auf den Sohn vererbt worden war. Lange vor anderen sozialen Gruppen musste sich die Bauernschaft mit der Frage auseinander setzen, ob sie an der „bäuerlichen Ausnahme“ festhalten und das Existenzrecht der herkömmlichen oder biologischen Landwirtschaft gegen die industrielle Landwirtschaft verteidigen wolle. Lange vor der städtischen Bevölkerung folgten die Landwirte einer rein finanziellen Logik – und hatten oft keine andere Wahl, als sich hoch zu verschulden.

Kein Zweifel – die neoliberale Modernisierung der Landwirtschaft ist inzwischen eine vollendete Tatsache. Und doch ist es angebracht, nach den Folgekosten zu fragen. Neben den Umweltschäden, die erst ansatzweise ins Bewusstsein dringen, erforderte die Modernisierung auch menschlich und sozial erhebliche Kosten. Ein genaueres Verständnis dessen, was eine bestimmte Wirtschaftspolitik dem bäuerlichen Milieu angetan hat und weiterhin antut, lässt uns vielleicht besser begreifen, was dieselbe Ökonomie heute in der ganzen Welt anzurichten droht. Und vielleicht hilft uns dies auch, wirkungsvoller gegen diese Entwicklung anzukämpfen.

deutsch von Bodo Schulze

* Soziologe am Institut National de la Recherche Agriconomique (Inra) und am Centre de Sociologie Européenne der École des Hautes Études en Sciences Sociales (Ehess).

Fußnoten: 1 Auch in Afrika und Osteuropa ist eine Landwirtschaft, die die Subsistenz der örtlichen Bevölkerung einigermaßen gesichert hat, inzwischen weitgehend abgeschafft. Stattdessen dominieren export- und spekulationsorientierte Monokulturen, die innerhalb weniger Jahre den Boden ruiniert und das jahrhundertealte Gleichgewicht zerstört haben. Dazu Claude Reboul, „Monsieur le capital et Madame la terre. Fertilité agronomique et fertilité économique“, Paris (EDI-INRA) 1989. 2 Dazu: „L‘héritage refusé. La crise de la reproduction de la paysannerie française (1950–2000)“, Paris (Le Seuil) 2002. Der Band versammelt Forschungsarbeiten, die zwischen 1975 und 1985 in zwei landwirtschaftlichen Regionen Frankreichs durchgeführt wurden. 3 Dazu: „Les administrateurs de coopératives agricoles sont-ils indispensables?“, Revue des Études coopératives, mutualistes et associatives, Juli 1998, S. 32–45.

Le Monde diplomatique vom 11.04.2003, von PATRICK CHAMPAGNE