Der Nahe Osten à la carte
ZWISCHEN 1916 und 1922 gab es unzählige Verhandlungen zwischen Briten und Franzosen um die Aufteilung des ehemaligen Osmanischen Reiches. Auch die Amerikaner waren nach 1918 mit von der Partie. Sie propagierten zwar das Selbstbestimmungsrecht der Völker, doch die Völker selbst wurden nicht gefragt und nur spärlich informiert. Nach wie vor ist die Region Objekt zahlreicher geopolitischer Rivalitäten.
Von HENRY LAURENS *
1914 standen die arabischen Provinzen des Osmanischen Reiches unter dem Einfluss der europäischen Mächte sowie der Vereinigten Staaten. Die 1908 an die Macht gelangten „Jungtürken“ versuchten, sich die ständigen Einmischungen vom Halse zu schaffen, allerdings um den Preis eines autoritären Zentralismus. Dagegen lehnte sich die arabische Autonomiebewegung auf, die bei den Europäern bereitwillige Unterstützung fand. Frankreich war durch sein wirtschaftliches Engagement und seine Bildungs- und Kulturpolitik die vorherrschende Macht im „natürlichen Syrien“. Zuweilen sprach man sogar von einem levantinischen „Frankreich des Ostens“. Die Briten, die seit 1882 Ägypten besetzt hielten, erkannten diesen Vorrang zuletzt widerwillig an.
Durch den Kriegseintritt im November 1914 wollten die Osmanen sich von der Dominanz fremder Mächte befreien und die Ansätze regionaler Autonomie zunichte machen. Ab Anfang 1915 traf die arabischen politischen Eliten eine Welle der Repression (Hinrichtungen durch den Strang; Verbannungen nach Anatolien), von der auch ganze Bevölkerungsgruppen betroffen waren: Die Christen des Libanongebirges wurden durch Hunger dezimiert, Armenier und andere anatolische Christen wurden deportiert und massakriert.
Um die beiden großen „muselmanischen Mächte“ – das französische und britische Kolonialreich – zu destabilisieren, riefen die Osmanen zum heiligen Krieg, zum Dschihad, auf. Die Briten beschränkten sich zunächst auf einen defensiven Kampf in der Nähe des Suezkanals, während die britisch-indische Armee mit der schwierigen Eroberung des Irak von Basra aus begann.1 Doch der Dschihad bedrohte auch das französische Nordafrika (sowie einen Teil Schwarzafrikas) und Britisch-Indien. Franzosen und Engländer gerieten in die Defensive und suchten nach einer neuen juristischen Formel, um ihre frühere Vorherrschaft wiederherzustellen. Zunächst erwogen sie, das Osmanische Reich dezentralisiert zu erhalten, was faktisch einem Protektorat gleichgekommen wäre. Nach der gescheiterten Dardanellen-Offensive 1915 sahen sie sich jedoch gezwungen, den russischen Anspruch auf Konstantinopel zu akzeptieren und eine Teilung der Region ins Auge zu fassen.
Die blutige Niederlage an den Dardanellen stellte den Plan nicht prinzipiell in Frage. In der Hoffnung, der Bedrohung durch den heiligen Krieg ein Ende setzen und eine neue Front gegen das Osmanische Reich errichten zu können, stifteten die Engländer den Emir von Mekka, Scherif Hussein, zur Rebellion an. Der britische Hochkommissar in Ägypten, McMahon, korrespondierte mit Scherif Hussein, um ihn zum Aufstand zu drängen. Doch Übersetzungsfehler und Missverständnisse hinsichtlich der Bedeutung der verwendeten Worte komplizierten die ohnehin zweideutig gehaltene Korrespondenz, und niemand bemühte sich, die Verwirrung aufzulösen.
Ein paar romantisch gesinnte Engländer in Kairo, darunter der legendäre T. E. Lawrence, setzten auf eine arabische Wiedergeburt, die – auf der Grundlage der Beduinenkultur – an die Stelle der osmanischen Korruption und des frankophonen Levantinismus treten sollte. Diese Beduinen, die von den Söhnen Husseins, den Prinzen der Haschemiten-Dynastie, angeführt wurden, waren bereit, eine „wohlgesinnte“ britische Einflussnahme hinzunehmen, zumal London ihnen ein „unabhängiges“ Arabien versprach – unabhängig vor allem von den Osmanen, wie sich zeigen sollte. Die Franzosen hingegen wollten ihr „Frankreich des Ostens“ ins Landesinnere hinein ausdehnen und so ein Französisch sprechendes und frankreichfreundliches „Großsyrien“ aufbauen.
Zur Klärung der schwierigen Frage des Grenzverlaufes zwischen dem britischen Arabien und dem französischen Syrien, wurden der Franzose François Georges-Picot und der Engländer Mark Sykes zu Unterhändlern bestimmt. Deren Verhandlungen zogen sich über Monate hin (zumal die Machtverhältnisse sich immer wieder verschoben) und mündeten im Mai 1916 in einen Briefwechsel zwischen dem französischen Botschafter in London, Paul Cambon, und dem britischen Außenminister Edward Grey.2 Das Gebiet zwischen der syrischen Küste und Anatolien sollte der direkten Verwaltung der Franzosen unterstellt werden. Palästina sollte internationales Protektorat (de facto ein französisch-britisches Kondominium), die irakische Provinz Basra und eine palästinische Enklave um Haifa sollten der direkten Verwaltung der Briten unterstellt werden. Die den Haschemiten überlassenen unabhängigen arabischen Staaten wurden in zwei Einfluss- und Schutzzonen geteilt, die nördliche wurde den Franzosen, die südliche den Briten zugewiesen. Die so genannte Sykes-Picot-Linie sollte zudem den Bau einer englischen Eisenbahnlinie von Bagdad nach Haifa ermöglichen. Russen und Italiener hatten vorab ihre Zustimmung zu dieser Vereinbarung geäußert, während die Haschemiten nur sehr verschlüsselt und spärlich über die Verhandlungen informiert wurden.
Anfang 1917 begannen die Engländer mit der schwierigen Eroberung Palästinas. Im April traten die USA als „Assoziierte“ – nicht „Alliierte“ – Frankreichs und Großbritanniens in den Krieg gegen Deutschland ein. Je stärker die Kriegführung auf Motoreneinsatz angewiesen war, desto klarer erkannte man in Frankreich und Großbritannien die künftige Abhängigkeit vom Erdöl (1918 gewannen die Alliierten den Krieg letztlich dank ihrer unbegrenzten Erdölreserven). US-Präsident Woodrow Wilson fühlte sich an die „Geheim“-Abkommen seiner Partner nicht im mindesten gebunden. Er gab sich als Verteidiger des Selbstbestimmungsrechts der Völker, ohne dass je klar wurde, ob dieses Recht auch für nichtweiße Völker wie die „Braunen“ (die Araber) und die „Gelben“ gelten solle – von den „Schwarzen“ war ohnehin nirgends die Rede.3
Die englischen Statthalter in Kairo stellten das mit Frankreich geschlossene Abkommen in Frage, zumindest bezüglich Palästina, wenn nicht gar für das übrige Syrien. Mit Unterstützung aus London und mit treuherziger Miene griffen sie auf die Wilson‘schen Rhetorik zurück: Unter der „wohlgesinnten“ britischen Oberherrschaft sollten Araber, Kurden, Armenier und Juden künftig auf den Ruinen des Osmanischen Reiches zusammenarbeiten.
Die „wohlgesinnte“ britische Oberherrschaft
SYKES setzte in diesem Zusammenhang auf die zionistische Bewegung. So kam es am 2. November 1917 zur Balfour-Deklaration, die den Zionisten Unterstützung für eine nationale jüdische Heimstätte „in Palästina“ zusicherte. Die Strategie der Briten beruhte auf der militärischen Einnahme des Gebiets, begleitet von ermutigenden Signalen an die Araber, ihren Aufstand auf Syrien (aber nicht auf Palästina) auszudehnen. Zudem beschwor London in mehreren offiziellen Erklärungen das besagte Selbstbestimmungsrecht. Wobei dieser Begriff bedeutete, dass die Völker das Recht haben, die Briten zur Schutzmacht auszuersehen. Als radikale arabische Nationalisten diese Vorherrschaft ablehnten, wurden sie, wie die profranzösischen Elemente, als „Levantiner“ verunglimpft.
1918 rückte die Erdölfrage in den Vordergrund. Nach dem Sykes-Picot-Abkommen sollte Frankreich die Region von Mossul kontrollieren, wo bedeutende Erdölvorkommen vermutet wurden. Allerdings sollten die Briten in dieser Region die Bohrkonzessionen erhalten. Georges Clemenceau wollte einerseits die koloniale Lobby zufrieden stellen, andererseits wollte er sich auf ein „nützliches Syrien“ beschränken – das heißt ohne das Heilige Land, aber dafür mit Zugang zu den Erdölreserven. Wenn das Territorium zu groß war, riskierte man einen übermäßig hohen Verwaltungsaufwand bei einem womöglich allzu geringen Ertrag. Daher ließ Clemenceau den Gedanken an ein „integrales Syrien“ (heute würde man sagen: „Großsyrien“) fallen und verhandelte unmittelbar nach dem Waffenstillstand direkt und ohne Zeugen mit Lloyd George über die Aufteilung des Nahen Ostens.
Unter dem Datum des 11. Dezember 1920 notierte der britische Regierungssekretär Maurice Hankey in seinem Tagebuch: „Am Ende des Waffenstillstandes setzen Clemenceau und Foch über [nach England]; sie werden begeistert und mit allen militärischen Ehrenbezeugungen öffentlich empfangen. Man geleitet Lloyd George und Clemenceau zur französischen Botschaft. […] Als sie allein sind […], sagt Clemenceau: ‚Gut. Worüber müssen wir noch reden?‘ – ‚Über Mesopotamien und Palästina‘, antwortet Lloyd George. ‚Und welches wollen Sie‘, fragt Clemenceau. ‚Ich will Mossul‘, sagt Lloyd George. ‚Können Sie haben‘, sagt Clemenceau. ‚Sonst nichts?‘ – ‚Doch, ich will auch Jerusalem‘, fährt Lloyd George fort. ‚Können Sie auch haben‘, antwortet Clemenceau, „aber Pichon4 wird Schwierigkeiten machen, wegen Mossul.‘ Es gibt weder eine schriftliche Aufzeichnung noch ein Memorandum über diesen Moment. […] Aber obwohl seine Kollegen und alle möglichen betroffenen Parteien ihn später stark bedrängten, hat Clemenceau, unbeugsam, wie er war, niemals ein Wort zurückgenommen. Und ich darf mit gutem Grund sagen, dass Lloyd George ihm auch nie die Gelegenheit dazu gegeben hat. So ist es gewesen.“5
Da die Franzosen aber jede territoriale Einigung davon abhängig machten, dass beide Seiten Zugang zum Erdöl erhielten, liefen die beiden Verhandlungen parallel. Von Anfang an hatte Wilson sich gegen eine Annexion der ehemaligen deutschen Kolonien in Afrika und im Pazifik durch das französische bzw. britische Kolonialreich ausgesprochen: Er wollte sie dem künftigen Völkerbund unterstellen. Mit großem Geschick schlug Lloyd George vor, „Mandatsgebiete“ des Völkerbunds zu kreieren, die für einen festgelegten Zeitraum einer „zivilisierten“ Macht überlassen werden sollten, die diese Gebiete dann in die Unabhängigkeit führten sollte. Beiläufig nannte er in diesem Zusammenhang auch die arabischen Provinzen des Osmanischen Reiches (die so genannten A-Mandate). Wilson stimmte zu (Januar 1919).
Die Hauptbetroffenen wussten von nichts, als sie nach Paris vor den Obersten Rat der Alliierten geladen wurden. Arabische Nationalisten, profranzösische Kräfte aus Syrien wie auch Zionisten (eine libanesische Delegation wurde von den Engländern an der Reise nach Frankreich gehindert) trugen im Februar 1919 ihre Forderungen vor, ohne zu wissen, was in Wirklichkeit gespielt wurde. Lloyd George ließ es auf eine Kraftprobe zwischen seinen Vertretern und den Franzosen ankommen. Die Frage lautete, ob es ein einziges Mandat über den gesamten Nahen Osten (das dann zweifellos den Briten zugefallen wäre) oder ob es zwei Mandate geben sollte: ein französisches und ein britisches. Die Franzosen gaben nicht nach.
Erbost schlug Wilson daraufhin vor, die Bevölkerung zu konsultieren. Die Engländer befürchteten eine Ablehnung durch die palästinensischen und irakischen Araber; die Franzosen ihrerseits befürchteten, dass sie nach einer Ablehnung durch die Syrer am Ende gezwungen sein könnten, der Forderung nach einem libanesischen Staat mit christlicher Mehrheit zuzustimmen. Die beiden europäischen Mächte zogen sich aus der Kommission zurück, die daraufhin nur noch von Amerikanern geleitet wurde.
Nachdem die Kommission herausgefunden hatte, dass die palästinensischen Araber den Zionismus ablehnten, die christlichen Libanesen Frankreich als Schutzmacht akzeptierten und die syrischen Araber die Unabhängigkeit forderten, bestimmte sie am 28. August 1919 niemanden anders als die Amerikaner zur Mandatsmacht! Aber es war zu spät: Der amerikanische Senat hatte den Versailler Vertrag nicht ratifiziert; damit zogen sich die Amerikaner aus sämtlichen interalliierten Konferenzen zurück.
Entsprechend standen sich Franzosen und Briten wieder Auge in Auge gegenüber. Nunmehr hatte sich das Kräfteverhältnis allerdings zugunsten der Franzosen verschoben, da diese ihre militärische Präsenz verstärkten, während London seine Armee demobilisierte. Die Aufteilung in Mandatsgebiete wurde gebilligt, und zwischen September 1919 (Konferenz von Deauville) und April 1920 (Konferenz von San Remo) wurde in zähen Verhandlungen die Sykes-Picot-Linie eingerichtet. Die palästinensische Grenze verschob sich um einige Kilometer nach Norden. Transjordanien sollte zukünftig Palästina mit dem Irak verbinden, sodass ein Korridor entstand – kurzfristig, um die Flugstrecke nach Indien zu sichern, mittelfristig, um eine Pipeline zu bauen, die das Eröl vom Irak zum Mittelmeer transportieren sollte (die Idee einer Eisenbahn war von der Zeit überholt worden). An dem mit der Erdölförderung betrauten Konsortium sollten die Franzosen mit einem Viertel der Anteile (später 23,75 Prozent) beteiligt sein.
Am Ende bedurfte es doch noch einer Gewaltaktion, um die Mandatsherrschaft tatsächlich durchzusetzen: Die Operationen der Franzosen und Briten in Palästina, Syrien und im Irak mündeten letztlich in einen Krieg, der die einheimische Bevölkerung dem Willen der Mandatsmäche unterwarf.
Das Verwerfliche daran war nicht etwa die Teilung als solche: Auch die Haschemiten hatten zugunsten der älteren Söhne Husseins eine Teilung in mehrere Staaten erwogen. Verwerflich war vielmehr, dass sie gegen den Willen der Bevölkerungen erfolgte, und zwar begleitet von einer liberalen Rhetorik, die sich durch den Einsatz von Gewalt als hohl und sinnlos entlarvte. Gemessen an der politischen Entwicklung des letzten osmanischen Jahrzehnts, in dem die Kooptation der Notabeln und die Einführung eines – wenngleich sehr unvollkommenen – Wahlsystems den Weg zu einer echten politischen Repräsentation gebahnt hatte, stellte das autoritäre Vorgehen der Franzosen und Engländer einen nachhaltigen Rückschritt dar.
Als territoriale Aufspaltung hat sich die Teilung vor allem deshalb erhalten, weil die neuen Länder unter die Herrschaft der neuen Hauptstädte und ihrer Führungsschichten gerieten. Doch die Ereignisse von 1919/20 sind als Verrat an den selbst formulierten Verpflichtungen in die Geschichte eingegangen und in erster Linie als Verrat am Selbstbestimmungsrecht der Völker. Die lokalen Eliten büßten ihre eigentliche Rolle ein. Der später erwachende arabische Nationalismus bestritt die Legitimität der Grenzen und propagierte den Einheitsstaat als Allheilmittel gegen alle Übel der Region. So wurden die realen Staaten entlegitimiert und nachhaltig geschwächt. Die Errichtung der nationalen jüdischen Heimstätte schließlich hat die Konflikte in der Region weiter angeheizt. Ein Ende ist auch heute nicht absehbar.
Doch in regelmäßigen Abständen taucht es immer wieder auf – das Gespenst eines neuen „Sykes-Picot-Abkommens“ oder einer neuerlichen, von außen aufgezwungenen Teilung der Region. Der westliche Anspruch auf eine moralische Überlegenheit, die auf der Praxis von Demokratie und Liberalismus gründet, nimmt sich angesichts dessen als elender Schwindel aus. Dies ist vielleicht die verhängnisvollste Konsequenz der damaligen Entscheidungen, die bis heute fortwirkt.
deutsch von Horst Brühmann
* Professor am Institut national des langues et civilisations orientales (Inalco) in Paris. Autor von „La question Palestine“, Bd. 1 und 2, Paris (Fayard) 2000 und 2002.