Die europäische Verantwortung
ALLEIN von Mitte Februar bis Mitte März 2003 sind nach Angaben der palästinensischen Menschenrechtsorganisation „Palestinian Center for Human Rights“ 109 Palästinenser in den besetzten Gebieten getötet worden. In den ersten drei Monaten dieses Jahres hat die Armee 232 Häuser zerstört, 2 500 Menschen verloren ihre Bleibe. Seit Beginn des Irakkriegs hat sich die Lage verschärft. Europa solle nicht tatenlos zusehen, heißt es, denn die EU unterhalte besonders enge wirtschaftliche, kulturelle und wissenschaftliche Beziehungen zu Israel. Doch der Boykott israelischer Produkte ist nicht das Mittel der Wahl.
Von DOMINIQUE VIDAL *
Bis Ende Februar 2003 sind im Zuge der zweiten Intifada in Israel mehr als 3 000 Menschen umgekommen – eine Zahl, die angesichts der aktuellen Ereignisse im Irak leicht in den Hintergrund tritt. Drei Viertel der Toten sind Palästinenser – doppelt so viele wie während der drei Jahre der ersten Intifada. Die makabren Vergleiche ließen sich fortsetzen: mit Zahlen über Verwundete, zerstörte Häuser, konfiszierte Ländereien, vertriebene Bauern und – nicht zu vergessen – mit Angaben zur steigenden Unterernährung und Arbeitslosigkeit. Seit der Rückeroberung des Westjordanlands im Frühjahr 2002 hat sich die Repression in einen wahrhaftigen Krieg verwandelt – nicht nur gegen die bewaffneten Gruppen, sondern auch gegen die Bevölkerung und gegen die (über)lebensnotwendige Infrastruktur.
Wer heute glaubt, Israelis und Palästinenser könnten die Eskalation des Schreckens aus eigener Kraft beenden, leugnet die zentrale Lektion des 50-jährigen Konflikts: Die politische, diplomatische und – zum Schutz der Bevölkerung auch – territoriale Intervention der internationalen Gemeinschaft ist die Conditio sine qua non für einen Ausweg.
Nur mit der Behauptung, der Zweck heilige die Mittel, könnte man die Selbstmordattentate rechtfertigen. Doch politisch wie moralisch ist diese Position unhaltbar. Kann man aber Gruppen, die die Verzweiflung der Palästinenser ausnutzen, und die Palästinensische Autonomiebehörde, der jede Möglichkeit, gegen diese Organisationen vorzugehen, längst genommen wurde, auf die gleiche Ebene stellen mit einem waffenstrotzenden Staat und dessen zerstörerischer Armee?
Um jede Hoffnung auf einen Staat Palästina im Keim zu ersticken, verletzt die israelische Regierung die 4. Genfer Konvention sowie diverse UN-Resolutionen – vor allem aber Text und Geist des Oslo-Abkommens. Es ist somit sowohl legitim als auch notwendig, größtmöglichen Druck auf die Regierung auszuüben. Nur welchen?
Einige Palästina-Solidaritätskomitees rufen auf zum Boykott israelischer Produkte „besonders der bekannten Marken wie Jaffa und Carmel (viele Früchte, Gemüse und vor allem Fruchtsäfte)“1 . Ein solcher Schritt mag gut gemeint sein, ist aber nicht unproblematisch: Es heißt, israelische Pazifisten würden den Boykott unterstützen. Doch tatsächlich lehnen die wichtigsten Organisationen ihn ab, auch Tayusch (Zusammenleben) und Gusch Schalom (Friedensblock). Uri Avnery, einer der Gründer von Gusch Schalom, sagt dazu: „Mein Ziel ist es, die öffentliche Meinung in Israel für die Sache des Friedens zu gewinnen, ich fürchte, ein Boykott israelischer Produkte unterscheidet nicht zwischen dem guten und dem schlechten Israel, zwischen denen, die Frieden, und denen, die Krieg wollen. Alle Menschen in einen Sack zu stecken ist kontraproduktiv und treibt möglicherweise die Leute, die man beeinflussen will, in die Arme der Extremisten.“2
In Frankreich zumindest haben Boykottaufrufe in der Vergangenheit meist nur die ohnehin Überzeugten mobilisiert, ob beim Coca-Cola-Boykott während des Vietnamkriegs oder beim Danone-Boykott während der Sozialplan-Auseinandersetzungen im Frühjahr 2001. Selbst der Bannspruch gegen Outspan-Orangen hatte damals nur begrenzten Erfolg. Und es war nicht der Boykott, sonern es waren die vom Weltsicherheitsrat 1977 beschlossenen Sanktionen, die das Ende des Apartheidregimes in Südafrika einläuteten.
Selbst ein massiver Boykott von israelischem Obst und Gemüse dürfte Tel Aviv kaum erschüttern. Agrarprodukte machen nur 2,2 Prozent des israelischen Exportvolumens aus und nur 6,4 Prozent der Verkäufe in die EU.3 Auf die übrigen Exportprodukte hat der Endverbraucher kaum Einfluss. Entscheidend aber ist, dass jeder derartige Boykott Gefahren birgt: Die Palästina-Solidaritätskomitees, die zum Boykott aufrufen, sind sich dessen bewusst. Deshalb bedürfe, wie sie betonen, eine solche Kampagne besonderer Sorgfalt und viel politischer Aufklärung.4 Nicht von ungefähr haben sich im Übrigen die bedingungslosen Verteidiger Israels auf den Boykott eingeschossen. Sie, denen jede Kritik an der israelischen Regierung als Antisemitismus gilt, hätten die Boykottkampagne erfinden müssen, wenn es sie nicht gäbe.
Der antisemitische Faktor
BITTE keinen Boykott, nicht diese Schande!“, rief Bernard-Henry Lévy am 6. Januar 2003, bevor er einen Text des Filmregisseurs Claude Lanzmann („Shoah“, „Tsahal“) verlas, der an die „finsteren Konnotationen“5 des Wortes „Boykott“ („Kauft nicht bei Juden“) erinnerte. Was die über hundert Studenten, die an jenem Tag vor der geisteswissenschaftlichen Fakultät von Jussieu protestierten, nicht wussten oder nicht wissen wollten, war, dass der Verwaltungsrat der Universität Paris-VI nicht zum Boykott israelischer Universitäten, sondern zur Aussetzung des EU-Assoziationsvertrags mit Israel aufgerufen hatte. In dem Appell wurden die israelischen Wissenschaftler des Weiteren aufgefordert, sich schnell und eindeutig zur Lage der palästinensischen Professoren und Studenten zu äußern und alles in ihrer Macht Stehende zu tun, damit zukünftig Forschung und Lehre in den besetzten Gebieten gewährleistet sind.
Darüber hinaus beauftragten sie den Präsidenten der Universität, zur „aktiven Unterstützung des Friedensprozesses“ selbst mit israelischen wie palästinensischen Universitätsverwaltungen Kontakt aufzunehmen.6 Mittlerweile haben sich weitere französische Universitäten dieser Initiative angeschlossen.
Angesichts der „heftigen Gefühle, die unser Schritt hervorgerufen hat“, und um „jedes Missverständnis zu vermeiden“, verfasste Paris-VI am 27. Januar 2003 eine zweite Resolution. Darin hieß es, die Universität lehne „jedwedes Moratorium oder den Boykott der Beziehungen zwischen den Universitäten oder den Wissenschaftlern ab“; vielmehr fordere sie, dass „der EU-Assoziationsvertrag mit Israel im Zuge von Neuverhandlungen auf die palästinensischen Städte erweitert“ werde, dass die EU die „Einhaltung aller Klauseln des Abkommens“ überwachen möge und eine „gemeinsame Kooperation mit israelischen und palästinensischen Universitäten“ geschaffen werden solle. Im Mittelpunkt der Debatte an der Pariser Universität steht also der EU-Assoziationsvertrag7 , der am 20. November 1995 unterzeichnet wurde, seit dem 1. Juni 2000 in Kraft ist und zollfreien Handel garantiert. Außerdem ist Israel durch diesen Vertrag das einzige Nicht-EU-Mitglied innerhalb des EU-Forschungsrahmenprogramms.
Die EU finanziert insgesamt 498 wissenschaftliche Projekte, bei denen Universitäten, Forschungszentren, Unternehmen und Individuen international kooperieren. In Artikel 2 des Assoziationsvertrags heißt es: „Die Beziehungen zwischen den Vertragsparteien und auch alle Bestimmungen des Vertrags selbst sind gegründet auf der Einhaltung von Menschenrechten und demokratischen Prinzipien, die ihre Innenpolitik und ihre internationale Politik leiten sollen und Grundbestandteil dieses Vertrags sind.“ Deshalb hatte sich die Versammlung der französischen Nichtregierungsorganisationen für Palästina bereits 1996 gegen die Ratifizierung des Vertrags durch das französische Parlament ausgesprochen. Als 1999 Barak an die Regierung kam, war auch der Vertrag wieder auf der Tagesordnung, und die Organisationen forderten, dass seine Ratifizierung an die strikte Einhaltung von Artikel 2 geknüpft werde. Seit der Wiedereroberung des Westjordanlandes im letzten Jahr hat erneut eine Auseinandersetzung – um das Einfrieren des Abkommens – begonnen. Mit großer Mehrheit forderte das EU-Parlament am 10. April 2002 (während der „Operation Schutzwall“), die Kommission und der Europarat mögen den „euro-mediterranen Vertrag zwischen der Europäischen Union und Israel aussetzen“.
Dies ist ein erster Erfolg, doch ist die Forderung berechtigt? Die Lage in den besetzten Gebieten ist ernst, und so geht es zunächst darum, das schreckliche Leid zu stoppen, das die Besatzungsarmee der palästinensischen Bevölkerung unter Berufung auf den Antiterrorkampf tagtäglich zufügt. Doch die israelische Regierung setzt ihren Kurs der Gewalt fort – statt die Verhandlung zu suchen, wie es dem „Quartett“ (EU, USA, UNO und Russland) vorschwebt. Die Bedingungen, die Ariel Scharon und vor allem seine Koalitionspartner erst jüngst an die Anerkennung einer roadmap knüpften – ein solcher Friedensfahrplan sollte bis zum Jahr 2005 zu einem palästinensischen Staat führen –, kommen einer Ablehnung gleich. Dass die EU, nachdem es ihr nicht gelungen ist, Scharon umzustimmen, zum Mittel des Drucks greift, ist logisch – im Übrigen setzt sie auch die Autonomiebehörde unter Druck.
Doch angenommen, die Aussetzung des Vertrags ist gerechtfertigt, wird sie denn auch wirksam sein? Konkret bedeutet sie nicht den Abbruch der Handelsbeziehungen, sondern die zeitweise Aufhebung der Israel gewährten Zollerleichterungen. Auch das Aussetzen des wissenschaftlichen Kooperationsvertrages würde für eine Zeit die Finanzierung laufender Projekte stoppen. In beiden Fällen handelte es sich somit um ein erhebliches Druckmittel, denn Israel hat in den letzten 5 Jahren mit der EU 44 Prozent seiner Importe und 28 Prozent seiner Exporte getätigt.
Hinzu kommt, dass Israel sich in einer schweren Wirtschaftskrise befindet. Das Wachstum ist von plus 6 Prozent im Jahr 2000 auf minus 0,9 Prozent im Jahr 2001 und minus 1 Prozent im Jahr 2002 gefallen. Das Land hat fast die Hälfte seiner ausländischen Direktinvestitionen eingebüßt: Sie sind von 11 Milliarden Dollar im Jahr 2000 auf 6 Milliarden Dollar im Jahr 2002 gesunken. Die Auslandsschulden sind von 35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) im Jahr 2000 auf 40 Prozent angestiegen, und die Staatsverschuldung nahm von 93 Prozent des BIP (2000) auf 105 Prozent Ende 2002 zu. Mit der Folge: Die Arbeitslosenrate liegt bei über 11 Prozent, die Inflation steigt. Mehr als 20 Prozent der Israelis (30 Prozent der Kinder) leben unterhalb der Armutsgrenze.8 Angesichts dieser Tatsachen ist nicht anzunehmen, dass Israels Regierung sich der Umsetzung von Artikel 2 des Assoziationsvertrags lange wird verweigern können.
So gerechtfertigt und wirksam ein solcher Druck auch sein mag, er könnte, so ein weiterer Einwand, die Israelis vor den Kopf stoßen. Die Erfahrung der Zeit unmittelbar nach dem Ende des Golfkriegs 1991 zeigt, dass das Gegenteil der Fall ist. Die rechte bzw. rechtsextreme Regierung von Jitzhak Schamir hatte damals angesichts der massiven Einwanderung russischer Juden eine Anleihe von 10 Milliarden Dollar gefordert. Hierfür benötigte sie eine Garantie der amerikanischen Administration, die Präsident Bush sen. damals unter der Bedingung gewährte, dass der israelische Staatspräsident bereit wäre, sich mit den arabischen Nachbarstaaten (inklusive der Palästinenser) in Madrid an einen Tisch zu setzen und die Siedlungstätigkeiten in den besetzten Gebieten zu stoppen. Nach Meinung des damaligen Außenministers James Baker hat diese Bedingung keineswegs den israelischen Nationalismus befördert, sondern letztlich 1992 Jitzhak Rabin zum Sieg verholfen.
Was die EU anbetrifft, sollte man sich zwei Vorläufer ins Gedächtnis rufen. Von Januar bis Dezember 1988 weigerte sich das Europaparlament, drei neue Finanzprotokolle zwischen der Gemeinschaft und Israel zu bestätigen, aus Protest dagegen, dass die palästinensischen Bauern ihre Produkte nur unter der Flagge Israels nach Europa exportieren durften. Am Ende genehmigte Israel den Transit dieser Produkte, die Protokolle wurden bestätigt. Am 18. Januar 1990 forderte das Parlament, die wissenschaftliche Kooperation so lange teilweise einzufrieren, bis die palästinensischen Schulen und Universitäten wieder geöffnet wären: Auch an diesem Punkt gab Israel nach einer Weile nach.
Kurz gesagt: Während der Boykott die Israelis nur weiter in ihre kollektive Isolation treiben würde, könnte sich zeigen, dass internationaler Druck auf die Regierung die Einhaltung der Menschenrechte und des internationalen Rechts voranbringt. Denn da hat Ariel Scharon seine Achillesferse.
deutsch von Marie Luise Knott