11.04.2003

Eine glanzvolle Organisation des Hungers

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Eine glanzvolle Organisation des Hungers

GEGEN Ende des viktorianischen Zeitalters erlebte die koloniale Expansion einen letzten großen Aufschwung. Die zunehmende wirtschaftliche Einbindung der Kolonien Asiens und Afrikas in die internationalen Märkte brachte eine rapide Verarmung der Produzentenländer mit sich. In den Hungersnöten, die bislang durch staatliche Intervention und Prävention hatten gemildert werden können, kamen nun Abermillionen Menschen ums Leben. Die Kolonialmächte lernten schnell, sich schlechte Wetterbedingungen zunutze zu machen. Hungersnöte wurden zum Krieg, der um die nackte Existenz geführt wurde.

Von MIKE DAVIS *

Wie die zeitgenössischen Leser und Leserinnen von Nature und anderen wissenschaftlichen Zeitschriften wussten, handelte es sich bei der großen Dürre der Jahre 1876 bis 1879 um eine Katastrophe von wahrhaft planetarischen Ausmaßen, denn von Dürren und Hungersnöten wurde auch aus Java, den Philippinnen, Neukaledonien, Korea, Brasilien, dem südlichen Afrika und dem Maghreb berichtet. Niemand hatte bis dahin vermutet, dass gleichzeitig im gesamten Monsungürtel, im nördlichen China und in Nordafrika extrem schlechte Wetterbedingungen herrschen könnten.

Auch hatte man bisher in der Geschichte keine Hungerkatastrophe verzeichnet, von der so viele weit voneinander entfernte Gebiete gleichzeitig betroffen gewesen wären. Obwohl man die Todesopfer nur grob schätzen konnte, wurde erschreckend klar, dass ihre Zahl um das Zehn- bis Zwanzigfache höher lag als die eine Million der irischen Hungertoten in den Jahren 1845 bis 1847. Die Gesamtzahl der Opfer in konventionellen Kriegen von Austerlitz bis Antietam und Sedan war nach den Berechnungen eines britischen Journalisten wahrscheinlich geringer als die Zahl der Todesopfer allein in Südindien.1 Nur die chinesische Taiping-Revolution (1851 bis 1865) mit schätzungsweise 20 bis 30 Millionen Toten der blutigste Bürgerkrieg der Weltgeschichte, forderte ähnlich viele Opfer.2

Aber die große Dürre von 1876 bis 1879 war lediglich die erste von drei globalen Subsistenzkrisen während der zweiten Hälfte der Regierungszeit von Königin Viktoria. Von 1889 bis 1891 waren es Dürren, die zu Hungersnöten in Indien, Korea, Brasilien und Russland führten. Am schlimmsten war das Leid in Äthiopien und im Sudan, wo möglicherweise ein Drittel der Bevölkerung ums Leben kam. Dann blieb in den Jahren 1896 bis 1902 in den Tropen und in Nordchina wiederholt der Monsunregen aus. Verheerende Malaria-, Pest-, Ruhr-, Pocken- und Choleraepidemien rafften Millionen von Menschen dahin, die bereits vom Hunger geschwächt waren. Diese Gelegenheit nutzten europäischen Reiche – zusammen mit Japan und den Vereinigten Staaten –, um neue Kolonien an sich zu reißen, Gemeindeland zu enteignen und neue Ressourcen an Arbeitskraft für die Plantagenwirtschaft und den Bergbau zu erschließen. Was aus der Perspektive der Metropolen wie ein Aufleuchten imperialen Ruhms erschien, und zwar letztmals am Ende des 19. Jahrhunderts, war aus asiatischer oder afrikanischer Sicht nur der schreckliche Widerschein eines gigantischen Bestattungsfeuers.

Die Gesamtzahl der menschlichen Opfer dieser drei Wellen von Dürre, Hunger und Krankheit kann nicht weniger als 30 Millionen betragen haben. Die Schätzung von 50 Millionen Tote dürfte nicht unrealistisch sein. Ein herausragender viktorianischer Gelehrter, der Naturkundler Alfred Russel Wallace, der gemeinsam mit Darwin die Theorie von der natürlichen Auslese entwickelte, sah in dem Massensterben am Hunger nicht etwa eine Naturkatastrophe, sondern eine vermeidbare politische Tragödie. In einer berühmten Abrechnung mit dem viktorianischen Zeitalter, die er 1898 publizierte, bezeichnete er die Hungersnöte in Indien und China, zusammen mit der Armut in den Slums der Industriegebiete, als das schlimmste Versagen des Jahrhunderts.

Doch während die Slums – auch dank der Schilderungen von Charles Dickens – im historischen Gedächtnis der Welt haften blieben, ist die Erinnerung an die verhungerten Kinder von 1876 und 1899 verschwunden. Fast ausnahmslos ignorierten moderne Historiker, die über die Geschichte des 19. Jahrhunderts aus der Perspektive der Metropolen schreiben, die gigantischen Dürren und Hungersnöte, die jene Teile der Welt, die man als „Dritte Welt“ bezeichnet, heimsuchten.

Dabei geht es nicht einfach darum, dass Abermillionen arme Bauern auf erbärmliche Weise starben, sondern dass sie aufgrund von Bedingungen und Ursachen starben, die den gängigen Interpretationen der Wirtschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts widersprechen. Wie erklären wir zum Beispiel die Tatsache, dass ausgerechnet in der Jahrhunderthälfte, da die Hungersnöte aus Westeuropa endgültig verschwanden, sie in großen Teilen der kolonialen Welt auf so dramatische Weise zunahmen? Und was ist von den selbstgefälligen Behauptungen über die lebensrettende Nutzung der Dampfenergie im Transportwesen und dem modernen Getreidemarkt zu halten, wenn so viele Millionen Menschen, vor allem im britischen Indien, entlang den Eisenbahnlinien und vor den Getreidespeichern starben? Oder wie erklären wir im Falle Chinas den drastischen Niedergang der staatlichen Interventionsmöglichkeiten und der öffentlichen Wohlfahrt, zumal der Hungerhilfe, der mit der durch England und andere Großmächte aufgezwungenen „Öffnung“ und Modernisierung einherging?

Mit anderen Worten: Unser Thema sind nicht irgendwelche „Hungerländer“ in abgelegenen Randzonen der Weltgeschichte, sondern es ist das Schicksal der Menschheit in den Tropengebieten, und zwar genau zu einer Zeit (1870–1914), da deren Arbeitskraft und Produkte in die Dynamik einer von London gesteuerten Weltwirtschaft einbezogen wurden.3 Millionen starben nicht etwa außerhalb des „modernen Weltsystems“, sondern im Prozess der gewaltsamen Einbindung in seine ökonomischen und politischen Strukturen. Sie starben im goldenen Zeitalter des liberalen Kapitalismus; viele wurden durch die dogmatische Anwendung der geheiligten Prinzipien von Smith, Bentham und Mill ermordet. Doch der einzige Wirtschaftshistoriker des 20. Jahrhunderts, der offenbar klar verstanden hat, dass die großen Hungerkatastrophen des Viktorianischen Zeitalters (zumindest im Fall Indiens) integraler Bestandteil der Geschichte der kapitalistischen Moderne waren, ist Karl Polanyi. In seinem Buch „The Great Transformation“ aus dem Jahre 1944 schreibt er: „Die eigentliche Ursache der Hungersnöte in den letzten 50 Jahren war die freie Vermarktung von Getreide in Verbindung mit dem Ausfall der lokalen Einkommen.“4

„Der Tod von Millionen“ war – nach Polanyi – letztlich eine Frage der Politik: Um die erforderliche Dezimierung zu bewerkstelligen, brauchte man, wie es Brecht in seinem Gedicht „Erwartung des Zweiten Fünfjahrplans“ sarkastisch formulierte, „eine glanzvolle Organisation des Hungers“. Die Opfer mussten vollständig besiegt sein, und zwar bevor sie langsam zu Staub wurden.

Obwohl Missernten und Wasserknappheit dramatische Ausmaße erreichten, gab es fast immer Getreideüberschüsse in anderen Gebieten des Landes oder des Reiches, mit denen man die Opfer der Dürre möglicherweise hätten retten können. Nie handelte es sich um einen absoluten Notstand, abgesehen vielleicht von Äthiopien im Jahr 1889. Über Leben und Tod entschieden vielmehr die neu etablierten Warenmärkte und Preisspekulationen auf der einen Seite und auf der anderen Seite der Wille des Staates – der unter dem Einfluss heftiger Proteste der Bevölkerung stand. Dabei verfügten die Staaten über sehr unterschiedliche Möglichkeiten, bei Missernten helfend einzugreifen. Außerdem gab es keinerlei zwingende Relation zwischen dem Engagement in der Bekämpfung des Hungers und den Ressourcen des jeweiligen Landes.

Ein extremes Beispiel ist Britisch-Indien unter Vizekönigen wie Lytton, dem zweiten Elgin und Curzon, wo das Smith‘sche Dogma und das kalte imperiale Eigeninteresse so weit gingen, dass inmitten schrecklicher Hungersnöte riesige Getreidemengen nach England exportiert wurden. Das andere Extrem ist der tragische Fall Äthiopien, wo Menelik II. heroisch, aber mit unzureichenden Ressourcen darum kämpfte, sein Volk vor dem natürlichen und selbst verschuldeten Unheil zu retten, das mit wahrhaft biblischer Härte über es hereinbrach.

Unter leicht verschobener Perspektive betrachtet, gerieten die hier beschriebenen Opfer zwischen drei erbarmungslos ineinander greifende Zahnräder der modernen Geschichte. Zunächst einmal kam es zu einem fatalen Zusammentreffen extremer Ereignisse im globalen Klimageschehen und in der spätviktorianischen Weltwirtschaft. Dies war eine der bedeutendsten neuen Entwicklungen dieser Zeit. Bis zur Entstehung eines rudimentären internationalen Netzwerks von Wetterstationen in den 1870er-Jahren hatten die Wissenschaftler eine Dürre planetarischen Ausmaßes kaum für möglich gehalten; und zu dieser Zeit war das ländliche Asien auch noch nicht so weit in die Weltwirtschaft integriert, als dass es ökonomische Schockwellen vom anderen Ende der Welt hätte zu spüren bekommen oder selbst aussenden können.

Weizenpreis in Liverpool und Regen in Madras

DIE 1870er-Jahre boten jedoch zahlreiche Belege dafür, dass sich ein neuer Teufelskreis herausgebildet hatte, in dem Wetterbedingungen und Preisschwankungen über den internationalen Getreidemarkt miteinander verbunden waren. Plötzlich waren der Weizenpreis in Liverpool und die Niederschlagsmenge in Madras Variablen in derselben gigantischen Gleichung des menschlichen Überlebens. Die Mehrzahl der indischen, brasilianischen und marokkanischen Bauern, die 1877 und 1878 starben, war zuvor aufgrund der 1873 einsetzenden Weltwirtschaftskrise verelendet und für Hungerkatastrophen anfällig geworden. Die steigenden Handelsdefizite im China der Qing-Dynastie – anfangs künstlich erzeugt vor allem durch britische Rauschgifthändler – beschleunigten ebenfalls den Rückgang der üblichen Gertreideeinlagerungen, die stets die erste Verteidigungslinie des Reiches gegen Dürre und Flut gebildet hatten. Umgekehrt hatte die Dürre, die 1889 und 1891 im Nordosten Brasiliens herrschte, die Bevölkerung bereits geschwächt, bevor die ökonomische und politische Krise der neuen Republik einsetzte.

Das dritte „Zahnrad“ innerhalb dieser Katastrophengeschichte war der neue Imperialismus. Wie Jill Dias am Beispiel der Portugiesen in Angola so brillant gezeigt hat, folgte die koloniale Expansion in geradezu synkopischem Rhythmus der Abfolge von Naturkatastrophen und epidemischen Krankheiten.5 Jede globale Dürre war das Signal für eine neue imperialistische Landnahme. Bot zum Beispiel die südafrikanische Dürre von 1877 dem britischen Kolonialminister Lord Carnarvon die Gelegenheit, gegen das unabhängige Königreich der Zulu loszuschlagen, so erlaubte es die äthiopische Hungersnot von 1889 bis 1891 dem italienischen Ministerpräsidenten Crispi, ein neues Römisches Reich am Horn von Afrika zu errichten. Auf ähnliche Weise nutzte das wilheminische Deutschland die Flut- und Dürrekatastrophen, die in den 1890ern Shandong verwüsteten, zur Ausdehnung seines Einflussbereichs in Nordchina, während die USA Dürre, Hunger und Seuchen als Waffe einsetzten, um die philippinische Republik unter Aguinaldo zu zerstören.

Aber die bäuerliche Bevölkerung in Asien, Afrika und Südamerika ließ sich der neuen imperialen Ordnung nicht auf sanfte Weise unterwerfen. Hungersnöte sind Kriege um das Recht auf die nackte Existenz. Dass der Widerstand gegen den Hunger in den 1870er-Jahren (außer im südlichen Afrika) sich vorwiegend in lokalen Rebellionen äußerte, hatte zweifellos mit der noch frischen Erinnerung an den staatlichen Terror zu tun, mit dem die indische Meuterei und die Taiping-Revolution niedergeschlagen worden waren. In den 1890er-Jahren war die Situation ganz anders. Historiker haben eindeutig nachgewiesen, welche Rolle Dürre und Hunger beim Boxeraufstand in China, bei der koreanischen Tonghak-Bewegung, beim Aufstieg des indischen Extremismus und dem brasilianischen Krieg der Carnudos sowie bei den unzähligen Revolten im östlichen und südlichen Afrika spielten. Die Erweckungsbewegungen, die die künftige „Dritte Welt“ am Ende des 19. Jahrhunderts erfassten, verdanken ihre Attraktion zum Teil solch schweren Subsistenz- und Umweltkrisen. Was wir heute die „Dritte Welt“6 nennen, ist ein Produkt der Ungleichheiten in Einkommen und Reichtum, der berühmten „Entwicklungslücke“, die sich ganz entscheidend im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts herausgebildet hat, als die großen nichteuropäischen Bauernschaften in die Weltwirtschaft integriert zu werden begannen. Wie andere Historiker gezeigt haben, gab es zur Zeit des Sturms auf die Bastille keine den vertikalen Klassenunterschieden innerhalb der großen Gesellschaften entsprechenden dramatischen Einkommensunterschiede zwischen diesen Gesellschaften. Die Unterschiede im Lebensstandard zwischen einem französischen Sansculotten und einem Bauern in Dhaka waren relativ unbedeutend im Vergleich zu der Kluft, die beide von ihren jeweiligen herrschenden Klassen trennte.7 Am Ende der Regierungszeit der Königin Viktoria war jedoch die Ungleichheit der Nationen so groß wie die Ungleichheit der Klassen. Die Menschheit war unwiderruflich geteilt.

deutsch von Jürgen Pelzer

* Historiker. Autor des Buches „Die Geburt der Dritten Welt“, das demnächst bei Assoziation A (Berlin) in der Übersetzung von Britta Grell, Jürgen Pelzer und Ingrid Scherf erscheint. Der Text ist ein leicht gekürzter Auszug. Bei Assoziation A war 1994 auch Davis‘ berühmtes Buch „City of Quartz. Ausgrabungen der Zukunft in Los Angeles“ erschienen.

Fußnoten: 1 William Digby, „ ‚Prosperous‘ British India: A Revelation from Official records“, London 1901, S. 118 ff. 2 Der Volksaufstand gegen die Mandschu-Dynastie breitete sich über weite Teile des südlichen Territoriums und Zentralchinas aus und machte Nanking zur Hauptstadt, bevor er niedergeschlagen wurde. 3 W. Arthur Lewis, „Growth and Fluctuations, 1870–1913“, London 1978, S. 29, 187 und vor allem 215. 4 Karl Polanyi, „The Great Transformation“, Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 2001. 5 Jill Dias, „Famine and Disease in the History of Angola, 1830–1930“, Journal of African History 22, 1981. 6 Alfred Sauvy, „Trois mondes, une planète“, L‘Observateur, Paris, Nr. 118, August 1952, S. 5. 7 Vgl. Kenneth Pomeranz, „The Great Divergence: China, Europe, and the Making of the Modern World“, Princeton, N. J., 2000.

Le Monde diplomatique vom 11.04.2003, von MIKE DAVIS