Tschechiens Weg in die EU
DIE Wahl Václav Klaus‘ zum tschechischen Präsidenten Anfang 2003 wirkte in Brüssel wie eine kalte Dusche. Der Chef der Bürgerlichen Demokratischen Partei (ODS) hat wiederholt erklärt, er sei „Euro-Realist“, kein „Euro-Enthusiast“. Die Ratifikation des Beitrittsvertrags im Juni scheint sicher zu sein. Doch gibt es tiefe Risse innerhalb des „alten“ Europa wie innerhalb der einzelnen Beitrittsländer, auch in Tschechien. Einig war man sich in den Beitrittsländern, dass der Verweis, den Jacques Chirac den Proamerikanern in Sachen Irakkrieg erteilte, einen Paternalismus erkennen ließ, der unangenehme Erinnerungen wachruft.
Von KAREL BARTAK *
„Sie haben eine gute Gelegenheit versäumt, zu schweigen.“ Dieser kurze Satz des französischen Staatspräsidenten Jacques Chirac hat über seinen unmittelbaren Kontext – die Irakkrise – hinaus den EU-Beitrittskandidaten zu verstehen gegeben, dass sie noch nicht am Ende des Wegs angekommen sind. Die Unterzeichnung des Beitrittsvertrags im April 2003 und dessen Ratifikation stehen bekanntlich noch bevor.1
Zweifellos hatten die so kritisierten mitteleuropäischen Staats- und Regierungschefs die mögliche Schockwirkung ihres Schulterschlusses mit den Vereinigten Staaten und deren Krieg gegen den Irak (an der Seite der Briten und Spanier) unterschätzt. Der paternalistische Ton des französischen Präsidenten aber erregte die Gemüter umso mehr, als er sich an Länder wandte, die erst kürzlich den Kommunismus und die Bevormundung Moskaus losgeworden waren. Die Reaktion war mäßig, aber beleidigt. Jedenfalls haben wohl nur wenige, in Prag ebenso wie in Warschau oder Budapest, die andere mögliche Dimension der Botschaft verstanden: dass man innerhalb der europäischen Familie nicht ungestraft gegen den Strom schwimmen dürfe und dass es gewisse Regeln der Treue und Solidarität zu respektieren gelte, vor allem dann, wenn man erst an die Tür klopft. Über die als inakzeptabel erachtete Form hinaus erschien nach so vielen einmütigen Anstrengungen in den zehn Jahren des pompös als „Wiederversöhnung des Kontinents“ bezeichneten „Prozesses“ auch der gewählte Moment als unpassend.
Zwar weist jedes der zehn Kandidatenländer seine Besonderheiten auf, die Einstellung der Bevölkerungen zur europäischen Integration scheint jedoch oft ähnlich zu sein. Wenig informiert über das, was sie erwartet, lassen sie sich häufig von Medien manipulieren, die sich ihrerseits von Sensationsgier leiten lassen. Tschechien bildet da eine gewisse Ausnahme, da man dort seit langem schon etwas ausführlicher über den Beitritt debattiert als anderswo. Den proeuropäischen Kräften (Christdemokraten, Sozialdemokraten, Liberalen) stehen starke euroskeptische Bewegungen wie die Bürgerliche Demokratische Partei (ODS) des neuen Präsidenten Václav Klaus oder die starke Kommunistische Partei Böhmens und Mährens (KSCM) gegenüber. Die Absicht der ODS, sich unmittelbar nach dem Beitritt mit den britischen Konservativen zusammenzutun, um die Vertiefung der europäischen Integration zu bremsen, beunruhigt all diejenigen, die, wie die Franzosen, immer wieder vor der Gefahr der „Ausdünnung“ des europäischen Projekts gewarnt haben.
Beim Wahlkampf für das Referendum im Juni 2003 wird es weniger um das „Ja oder nein“ gehen als vielmehr um den Inhalt des Beitritts. Die Euroskeptiker weisen die „simplifizierende“ und „naive“ Sicht der „Optimisten“ zurück, die bereit seien, jede beliebige Erfindung zu akzeptieren, wenn sie nur den Brüsseler Stempel trägt. Die Rede von Jacques Chirac bestätigte von diesem Standpunkt aus gesehen das Schreckgespenst einer deutsch-französischen „freundlichen Übernahme“ der kleinen Länder.
Im Konvent über die Zukunft Europas gehört die ODS – die hin und her gerissen ist zwischen den verschiedenen Lagern ihrer Mitglieder und ihrer Wählerschaft, die mehrheitlich stärker proeuropäisch gesinnt ist als diejenige der Sozialdemokraten – zur „Souveränitäts-Lobby“. Ihr Ziel ist es, „die Annäherungsbewegung zwischen den Regierungen hin zu einem supranationalen Weg und zur schleichenden und stillen Vereinigung des Kontinents“ zu stoppen, wie Václav Klaus erklärt hatte.2 Die Abgeordneten der Partei des Präsidenten fühlen sich durch dessen national-liberalen Cocktail immer stärker zur Union hingezogen. Und sie meinen damit: ein Europa der Nationen, so wie es sich der ehemalige französische Innenminister Charles Pasqua und der italienische Konvents-Vizepräsident und Führer der Alleanza Nazionale, Gianfranco Fini, vorstellen.
Die tschechische Erfahrung zeigt, dass es ziemlich einfach ist, die öffentliche Meinung gegen Brüssel aufzubringen. Wie überall berichten die Medien häufiger von negativen Ereignissen – wie zum Beispiel vom Debakel der Kommission von Jacques Santer im Jahre 1999, den Enttäuschungen des Gipfels von Nizza 2000 oder der aktuellen Spaltung Europas in der Irakkrise – als von positiven „Nicht-Ereignissen“.
Diese Berichterstattung lässt jedoch die Mehrzahl der Menschen – die politisch Verantwortlichen eingeschlossen – in Unkenntnis der Geschichte, der Existenzberechtigung und der Funktionsweise der Europäischen Union. Gerüchte haben denselben Einfluss auf die öffentliche Meinung wie in die Tiefe gehende Stellungnahmen und Reportagen. Die vom großen privaten Fernsehsender Nova in Umlauf gebrachte Meldung, wonach die Union Bienenstöcke, die ihren Regeln nicht entsprächen, verbieten wolle, hat tausende von Imkern verschreckt, von denen einige nun wohl gegen den Beitritt stimmen werden. In ähnlicher Weise hatte das angebliche Verbot von utopenec (das sind in Essig eingelegte Würstchen, die an die Biertrinker in den Wirtshäusern verkauft werden) mehr Wirkung gezeitigt als stundenlange Fernsehdebatten.
Jenseits solcher „Details“ zwang der 1993 unterzeichnete Vertrag über die Europäische Union Tschechien zu zahlreichen unpopulären Veränderungen. Die verschiedenen Regierungen mussten die Gesetzgebung des Landes mit dem mehrere zehntausend Seiten langen EU-Regelwerk des Acquis communitaire harmonisieren. Die regelmäßigen Berichte der Europäischen Kommission gelten als regelrechte Bulletins über den Gesundheitszustand des Landes: Im Jahr 2000 hatte die darin enthaltene Formulierung, dass Tschechien als Marktwirtschaft „betrachtet“ werde, während sich Polen und Ungarn schlicht und einfach als Marktwirtschaften bezeichnet sahen, gewaltige Emotionen ausgelöst.
Verdorbenes Fest in Kopenhagen
ES gibt Schlimmeres. Im Zusammenhang mit der Freizügigkeit von Arbeitskräften wird die Übergangszeit von zwei bis sieben Jahren, in denen Tschechen vom europäischen Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind, in der Öffentlichkeit als diskriminierend angesehen.3 Mit dieser Regelung wollten Deutschland und Österreich ursprünglich die öffentliche Meinung in ihren Ländern beruhigen, die einen massiven Zustrom von Arbeitskräften aus dem Osten befürchtet. In den Augen der Öffentlichkeit in den östlichen Ländern aber haben diese sowie weitere Restriktionen Deutschland, das sich als historischer „Pate“ der Erweiterung verstand, stark diskreditiert. Allerdings hat dieses Land auch unter der Schlacht um die Finanzen gelitten, die sämtliche Verhandlungen begleitet hatte und bei der Vorbereitung sowie während des Kopenhagener Gipfels vom Dezember 2002 ihren Höhepunkt erreichte.
Schon auf dem Sondergipfel vom März 1999 in Berlin hatte sich die Union – auf Antrag Deutschlands, das von Frankreich unterstützt wurde – geweigert, das System der direkten Agrarbeihilfen auf die Neuankömmlinge auszuweiten. Die Kosten der Erweiterung wurden damals für den Zeitraum von 2002 bis 2006 auf 58 Milliarden Euro festgelegt. Da vor 2004 kein neues Land beitritt, wurden die ersten 15,5 Milliarden nicht ausgegeben: Für die fünfzehn stellen sie eine Einsparung dar, über die kaum gesprochen wurde. Der Rest (42,5 Milliarden) sollte ohne weitere Erhöhung unter zehn – statt der ursprünglich vorgesehenen sechs – Neumitgliedern aufgeteilt werden.
Dank der deutsch-französischen Übereinkunft über die gemeinsame Agrarpolitik billigte die Union den Neumitgliedern schließlich einen Teil der Direktbeihilfen zu4 , ohne jedoch die Gesamtinvestitionen in die Erweiterung zu erhöhen. Auf dem Kopenhagener Gipfel hatten die Mitgliedstaaten – allen voran das von ernsthaften wirtschaftlichen Schwierigkeiten geplagte Deutschland – nicht den Mut, die Verhandlungen durch eine Geste der Großzügigkeit zu krönen: die gesamte versprochene Summe aufzuteilen, von der ungefähr 1,5 Milliarden Euro noch zu verteilen blieben. Dennoch weiß man seither, dass die Aufnahme der zehn Neuen in den Kreis der Familie die fünfzehn Altmitglieder für die Zeit von 2004 bis 2006 nur 0,1 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts kosten wird. Dieser Geiz hat das Fest von Kopenhagen verdorben – und droht dem Zusammenhalt der neuen Gemeinschaft zu schaden, die ökonomisch und sozial viel weniger homogen sein wird als die alte.
Im November 2002 war Prag der Schauplatz einer Demonstration von bisher ungekannter Heftigkeit: Die Bauern, die die Invasion der europäischen Konkurrenz auf den einheimischen Markt, das Verschwinden bestimmter Produktionszweige sowie die Verarmung der gesamten Bauernschaft vorhersagten, stellten die Forderung, so wie ihre österreichischen und deutschen Nachbarn behandelt zu werden. Die Antwort der Europäischen Kommission: eine Studie, die beweist, dass die Produktionskosten der tschechischen Bauern nur 40 Prozent der Kosten ihrer Kollegen in der Union betragen und dass die Anwendung der Garantiepreise ihre Einkommen auch ohne Direktbeihilfen um 60 Prozent steigen lassen. Lügen, erwiderten die tschechischen Verbände: Ihnen zufolge werden die Bauern im Westen bei gleichen Kosten von der Differenz bei den Direktzahlungen profitieren, die am Anfang 75 Prozent beträgt und erst nach zehn Jahren ganz verschwinden wird. Um die Gemüter zu beruhigen, musste die Europäische Union akzeptieren, dass die Neumitglieder ihren Bauern aus ihren eigenen Haushaltsbudgets zusätzliche Hilfen gewähren – eine Bresche, die den ersten Schritt in Richtung einer Erosion der gemeinsamen Agrarpolitik bedeuten könnte.
Da die Bauern gerade einmal 4 Prozent der tschechischen Bevölkerung stellen, entfalteten ihre Proteste, so spektakulär sie auch gewesen sein mochten, keine große Wirkung. Allerdings belasteten sie das Klima der Verdrossenheit zusätzlich. Denn um das „Konkurrenz“-Kapitel bei den Beitrittsverhandlungen abzuschließen, hatte die Regierung ein Drittel der Stahlindustrie opfern müssen. In den zwei auf den Beitritt folgenden Jahren wird der Staat diesem Sektor noch Hilfen gewähren können, danach wird das Gesetz des Marktes herrschen. Nach zehn Jahren schmerzlicher Transformationsprozesse ist hier jedoch der Überdruss größer als die Wut.
Die Kommission ihrerseits hat nicht gezögert, den katastrophalen Umgang mit dem Finanzsektor, die Undurchschaubarkeit bei der Privatisierung der Großbanken und die groß angelegte „Untertunnelung“5 von Unternehmen anzuprangern. Selbst ausländische Investoren haben sich bereits über die Korruption im Wirtschaftsmilieu beklagt.
Da Regierungskampagnen der „sauberen Hände“ keine großen Erfolge zeitigten, konnte Brüssel schließlich sogar als Schutzwall gegen die tschechische Mafia erscheinen. Ganz zu schweigen von der spürbaren Verbesserung des Zustands der Umwelt, die von der Union verlangt und teilweise finanziert worden ist. Nicht zu vergessen auch die Unterstützung des Beitritts seitens der Gewerkschaften. Sie wissen um die Fortschritte, die das Land durch die Anwendung der europäischen Sozialgesetzgebung machen wird, obwohl sich diese noch in einem Embryonalstadium befindet. Den tschechischen Arbeitnehmern aber wird sie gleichwohl Vorteile bringen.
Mit dem österreichischen Protest gegen die Fertigstellung des Atomkraftwerks Temelín und der erneut aufgeworfenen Sudetenfrage6 haben die Verhandlungen zwischen Prag und Brüssel eine Wendung ins Politische genommen. Österreich und die deutsche Rechte befanden sich von vornherein in einer Position der Stärke. Doch hat die Kommission in diesem verbissenen Kampf, der auf allen Ebenen und insbesondere im Europäischen Parlament ausgetragen wurde, in beiden Fällen die Rolle eines Schlichters übernommen, der den tschechischen Ansichten wohlwollend gegenüberstand. Ihre guten Dienste haben es ermöglicht, dieses Terrain dauerhaft zu entminen.7
Was die Zukunft betrifft, so bleibt sie ungewiss. Vor allem für die sozioökonomische Struktur des Landes wird die Stunde der Wahrheit schlagen. Denen, die für bestimmte Sektoren schmerzliche Konsequenzen voraussagen, antworten andere, dass man bereits seit Jahren eine vollkommen offene Wirtschaft besitze.8 Die Einhaltung neuer Regeln dürfte sogar den wilden Kapitalismus, der seit zwölf Jahren triumphiert, teilweise regulieren. Zweifellos ist dies einer der Gründe, warum gewisse „Neureiche“ keinerlei Eile zu verspüren scheinen, diesem „überreglementierten“ Europa beizutreten, womit sie sich – im Hinblick auf das Referendum – objektiv gesehen mit dem konservativsten Flügel der Kommunistischen Partei verbünden, der der Union aus Prinzip feindlich gegenübersteht. Es gibt zahlreiche Gegner, die anlässlich der Erklärungen des französischen Präsidenten die Gelegenheit beim Schopfe packten. Er, der öffentlich versprochen hatte, Polen – und implizit auch die anderen Länder der Visegrádgruppe – schon im Jahr 20009 in die Europäische Union aufzunehmen, scheint nunmehr ein Fragezeichen hinter ihren Beitritt zu setzen. Reine Taktik?
deutsch von Markus Sedlaczek
* Brüsselkorrespondent der tschechischen Presseagentur CTK.