11.04.2003

Gesicherte Erkenntnisse aus dem Kaffeesatz

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Gesicherte Erkenntnisse aus dem Kaffeesatz

DIE Blamage des britischen Geheimdienstes, der eine veraltete Magisterarbeit als aktuelle Insider-Analyse verkaufen wollte, hat das Problem der professionellen Bagdad-Watcher verdeutlicht. Denen geht es heute wie gestern den Kreml-Astrologen. Die Verschlossenheit und Heimlichtuerei des Regimes verführt sie dazu, die wenigen Informationen übertrieben und häufig opportunistisch zu interpretieren. Auch können falsche Informationen den Ruf unanfechtbarer Wahrheiten erlangen, wenn sie lang genug im Zitierkarussell von Experten, Geheimdiensten und irakischen Exilgruppen kreisen. Über die wahren Kräfteverhältnisse innerhalb des Hussein-Regimes sagen diese Erkenntnisse so gut wie nichts.

Von DAVID BARAN *

In den letzten Jahren hat das irakische Regime eine Aufmerksamkeit erfahren, die stark an die Zeiten erinnert, da jedes offizielle Gruppenfoto der Sowjetführung genauestens inspiziert wurde, um festzustellen, welche Parteigrößen mehr ins Zentrum gerückt und welche ganz aus dem Bild verschwunden waren. Auf die Methoden der „Kreml-Astrologen“ scheint jetzt auch das Global Security Institute (GSI), ein Forschungsinstitut für Verteidigungsfragen in San Francisco, in seinen Irakstudien zurückzugreifen.

Bei der Auswertung von Bildern in irakischen Medien, die verschiedene Zusammenkünfte der Führungsspitze im Jahr 2002 zeigten, machte das Institut eine beunruhigende Entdeckung: Die Medien zeigten ein auffallendes Interesse für Abdel Tawab Mullah Huweish, den Rüstungsminister. Das ließ zweifellos auf böse Absichten des Regimes schließen, meinte John Pike, der diese Studie offenbar verfasst hat, in einem Beitrag auf der GSI-Site: „Auf zahlreichen Fotos und Videoaufnahmen, die der Öffentlichkeit von der irakischen Regierung präsentiert wurden, nimmt Abdel Tawab Mullah Huweish eine Sonderstellung ein. Er ist auf manchen Fotos die einzige Person außer Saddam Hussein, deren Gesicht man erkennen kann […]. Auf anderen Bildern sitzt er deutlich abseits von dem Tisch, um den sich alle übrigen Anwesenden gruppieren.“1

Natürlich alarmierte diese Erkenntnis unverzüglich auch die US-amerikanische und britische Presse. Am 20. September 2002 konnte John Pike in der New York Post weitere Einzelheiten seiner Analyse ausbreiten. Unter dem Titel „Der üble Favorit des Schlächters“ meinte er unter anderem, die Bilder seien ein klarer Beleg für die „Bedeutung des irakischen Geheimwaffenprogramms“. Dass er selbst angesichts solcher Bedrohungen einen kühlen Kopf behielt, ließ Pike dann allerdings im Londoner Observer erkennen: Eine smoking gun, einen „klaren Beweis, dass die Iraker an Atombomben arbeiten“, habe er eigentlich nicht entdeckt. Einen Journalisten von ABC News hinderte dies nicht, das Schlimmste zu vermuten. Sein Beitrag vom 26. September, auf den Internetseiten des Senders, trug den Titel „Saddams Minister für Massenvernichtung?“

Gerüchte, Saddam Hussein habe eine Tochter des Rüstungsministers geheiratet, schienen die Befürchtungen zu bestätigen und gaben Anlass zu besorgten Spekulationen: War Abdel Tawab Huweish nicht eindeutig der irakische Mann der Stunde? Die Schlussfolgerung hätte plausibel klingen können, gäbe es da nicht einen dummen kleinen Fehler, der offenbar niemandem so recht aufgefallen ist: Die Person auf den öminösen Fotos ist gar nicht Abdel Tawab Huweish.

Es handelt sich vielmehr um Abdul Hamid Hmud al-Abdallah al-Chattab, ein früheres Mitglied der Präsidentengarde. Der Mann, einer der Schwiegersöhne des Diktators und ein entfernter Vetter seiner Halbbrüder, ist den Irakern nicht unbekannt. Er dient Saddam Hussein als Privatsekretär – und das erklärt auch, warum er bei allen Führungstreffen anwesend ist, dabei aber immer etwas auf Abstand hält. Öffentliche Erklärungen darf er nicht abgeben, seine Aufgabe besteht nur darin, den Chef in allen Angelegenheiten auf dem Laufenden zu halten. Glücklicherweise sind seine Auftritte also keinerlei Beweis für die Herstellung von „Atombomben“ im Irak.

Desinformationskampagnen sind im Vorfeld eines Krieges nichts Ungewöhnliches.2 Doch das irakische Regime zeigt sich so undurchsichtig und zugleich in ständiger Veränderung, dass die ausländischen „Experten“ leicht in eine Art Teufelskreis geraten. Sie wollen sich natürlich einen Reim auf ihre Beobachtungen machen, sind aber auf bloße Gerüchte oder die „Signale“ angewiesen, die das Regime selbst aussendet. Und die Machthaber nutzen das aus: Sie senden jede Menge Signale, die bewusst widersprüchlich und bruchstückhaft sind – mit dem Effekt, dass sie zwangsläufig überinterpretiert werden. Das schafft weitere Verwirrung, und so schließt sich der Kreis: In bester Absicht machen die neuen Kreml-Astrologen das irakische Regime noch undurchschaubarer und unkalkulierbarer.

Ein gutes Beispiel ist die Magisterarbeit mit dem Titel „Iraq‘s Security and Intelligence Network: A Guide and Analysis“, die kürzlich unverhoffte Popularität gewann, weil sie zu einem Bericht des britischen Geheimdienstes verarbeitet worden war. Dass die Briten hemmungslos von einem amerikanischen Studenten namens Ibrahim al-Marashi abgeschrieben hatten,3 verursachte einen kleinen Skandal, machte dessen Arbeit aber mit einem Schlag zu einem viel gelesenen Werk, das allerdings nichts weiter ist als eine zusammenfassende Bewertung anderer Arbeiten.

Ibrahim al-Marashi hat seine Quellen sorgfältig belegt und gibt gar nicht vor, Informationen aus erster Hand zu verarbeiten. Er stützt sich vor allem auf zwei umfangreiche Arbeiten, die 1997 erschienen sind: Die eine wurde für Jane‘s Intelligence Review verfasst und hat ebenfalls Eingang in den britischen Geheimdienstbericht gefunden; die andere, eine Veröffentlichung der Federation of American Scientists, beruft sich im Wesentlichen auf Fakten der ersten Arbeit. Irakische Oppositionskreise werden überhaupt nicht zitiert, sie haben ihre Glaubwürdigkeit längst verloren. Woher stammen also die Primärinformationen der beiden Texte? Über Informationen aus dem Innern des Irak verfügen bestenfalls die Geheimdienste, die bekanntlich ihre Erkenntnisse nicht gern weitergeben. Diese Dienste – oder die Oppositionsparteien – versuchen auch, das Monopol auf die Informationen zu behaupten, die sie von den wenigen ranghohen Überläufern bekommen. Wobei deren Aussagen dennoch ziemlich schnell die Runde machen.

Man darf die ursprünglichen Quellen solcher unabhängiger Berichte also in den Kreisen der irakischen Opposition vermuten. Einiges deutet darauf hin, dass es sich vor allem um Dokumente handelt, die Anfang 1997 vom Irakischen Nationalkongress lanciert wurden, einer innerhalb der Opposition höchst umstrittenen Organisation. Diese Dokumente präsentieren – im offensichtlichen Bemühen um eine gewisse Plausibilität – eine Menge detaillierter Angaben.

Eine Armee der reitenden Leichen

AUF den Websites des GSI und der Federation of American Scientists erschien zum Beispiel eine Liste der Spitzenfunktionäre im irakischen Geheimdienst, die bis in Einzelheiten den Angaben von 1997 entsprach. Sind solche Informationen noch aktuell? Saddam Hussein hat seither den Chef der politischen Polizei zweimal ausgewechselt. Hätte man nicht seit 1997, als plötzlich so viele Einzelheiten bekannt wurden, eine Aktualisierung dieser Daten erwarten dürfen?

Im Grunde kann man eine solche Aufzählung von Geheimdienstpersonal nur als Versuch sehen, sich wichtig zu machen. Man fragt sich allerdings, wie derartige Informationen in Umlauf gebracht werden. Und wie Gerüchte ihre zweifelhafte Qualität verlieren und dank der Übernahme durch anerkannten Institutionen an Seriosität gewinnen. Interessant ist auch, wie die Zwischenträger solcher Informationen sich wechselseitig zitieren, was zu einer Art Rückkopplungseffekt führt, der offenbar alle Zweifel beseitigt. Das paradoxe Ergebnis ist, dass die umfassende Verbreitung der wenigen Informationen die dürftige Quellenlage vollständig kaschiert.

In geradezu grotesker Weise wird dies an einer Meldung deutlich, die am 23. März 1999 von Stratford Global Intelligence Update verbreitet wurde. Schon die Überschrift ist schulbuchreif und lässt erkennen, dass man sich des zweifelhaften Werts dieser Informationen durchaus bewusst war: „Conflicting Reports Suggest Interesting Possibilities in Iraq“. Im Text wird unter Berufung auf Kommuniqués der Opposition die Ermordung des Provinzgouverneurs Mahmud Feizi Mohammed al-Hazza und eines hohen Funktionärs der Baath-Partei, Abdul Baki Abdul Karim al-Saadun behauptet. Weiter wird ein Zusammenhang mit dem Verschwinden von Ali Hassan al-Madschid angedeutet, einem Vetter von Saddam Hussein, der ihm als Mann fürs Grobe diente. Vermutlich sei al-Madschid, der seit dem 4. März nicht mehr gesehen wurde, in einen Putschversuch verwickelt gewesen. Doch bereits am 18. und 21. März war Ali Hassan al-Madschid wieder im Fernsehen zu sehen, Seite an Seite mit Abdul Baqi al-Saadun.

Kurz zuvor schien ein weiteres Gerücht die Putschvermutung zu bestätigen: Ein heftiger Streit über das Verschwinden Alis zwischen dessen Bruder Haschem und Saddam Husseins Sohn Qusai habe mehrere Mitglieder der Al-Madschid-Familie das Leben gekostet. Der Autor dieser Meldung konnte seine Begeisterung kaum verbergen. Nach den üblichen vorsichtigen Einschränkungen erklärte er: „Diese Berichte sind jedenfalls faszinierend […]. Im günstigsten Fall bedeuten sie, dass bereits im engsten Kreis um Hussein das Chaos ausgebrochen ist.“ Aber auch Anfang 2003 saß das Regime noch fest im Sattel, einschließlich Mahmud al-Hazza, der erst kürzlich als Gouverneur der Provinz Meissan abgelöst wurde. Und Abdul Baqi al-Saadun hat sich als Mitglied im Kommandorat der Baath-Partei wacker behauptet. Al-Hassan al-Madschid bleibt weiterhin eine der Schlüsselfiguren des Regimes, und auch sein weniger prominenter Bruder Haschem ist keineswegs in der Versenkung verschwunden.

Bei näherer Betrachtung solcher Meldungen muss man den Eindruck gewinnen, dass sich das irakische Regime auf eine Armee der reitenden Leichen stützt. Zum Beispiel fiel nach Angaben der Opposition der schiitische General Abdul Wahed Schinan al-Ribbat, Kommandeur der republikanischen Garden während der Aufstände von 1991, bereits 1992 einer „umfassenden Säuberung“ zum Opfer. Gleichwohl bekleidete er bis zum Ende der 1990er-Jahre den Posten des Generalstabschefs der Armee, und Anfang 2003 sehen wir ihn als Gouverneur von Ninive. Hamid Schaban Chudhejer al-Nasseri, Kommandeur der Luftwaffe in den 1980er-Jahren, wurde angeblich 1991 hingerichtet, 1996 aber offenbar reaktiviert, wenn auch schweren Vorwürfen wegen Komplizenschaft mit der Opposition ausgesetzt, bis er 2000 den Irak verließ. Aber wer könnte dann der andere Hamid Schaban Chudhejer al-Nasseri sein, der bis heute zu den Beratern des Präsidenten zählt? Auch für den kurdischen General Hussein Raschid Hassan Mohammed al-Windaui, Generalsstabschef im ersten Golfkrieg, war die Tatsache, dass er am 17. Juli 1991 hingerichtet wurde, offenbar nur ein kleiner Karriereknick.

Man könnte aus der Litanei der angeblichen Verhaftungen, Hinrichtungen und blutigen Aufstände endlos weiterzitieren. Den Beobachtern im Ausland scheint ihr zweifelhafter Charakter nicht aufzufallen. Vom irakischen Regime wird auf diese Weise ein Bild gezeichnet, das alle Klischees der Gewaltherrschaft erfüllt. Im Irak hat man ein differenzierteres Bild. Zwischen diesem Bild und den Gewissheiten, die im Ausland Konjunktur haben, ergibt sich deshalb bisweilen eine geradezu absurde Diskrepanz.

Im Oktober 1998 protestierte der UN-Menschenrechtsbeauftragte für den Irak, unterstützt von amnesty international, gegen die willkürliche Verhaftung von Daud al-Farhan, Aushängeschild der irakischen Presse (für deren Linientreue Udai, der älteste Sohn Saddam Husseins, zuständig war). Aber der berühmte Journalist, der es seit langem gewohnt war, gemaßregelt zu werden, nahm zu diesem Zeitpunkt an einer Konferenz teil – in seiner Eigenschaft als Vizepräsident des irakischen Journalistenverbands.

Man möchte gesicherte Erkenntnisse über dieses ungreifbare Regime gewinnen, und gerade dieser Wunsch führt dazu, dass die eigentlich interessanten Widersprüche und Ambivalenzen unbeachtet bleiben. Stattdessen werden Banalitäten als Gewissheit gehandelt. Ein besonders drastisches Beispiel sind die Informationen über den Clan der al-Hazza aus der Sippe Saddam Husseins. Angeblich fiel Omar Mohammed al-Hazza 1990 einem Anschlag zum Opfer, weil er sich der Majestätsbeleidigung schuldig gemacht hatte. Dieses Attentat musste noch Jahre später zur Erklärung eines gescheiterten Anschlags auf Udai Hussein herhalten: „Gerüchten zufolge sollen die Attentäter der Familie von General Omar al-Hazza angehören, dem einst die Zunge herausgeschnitten wurde, bevor man ihn, gemeinsam mit seinem Sohn, exekutierte.“4

Dass die Neffen dieses Märtyrers (Mahmud, Tariq und Nateq Feizi Mohammed al-Hazza) weiterhin als Gouverneure und Armeekommandanten in Amt und Würden stehen, lässt solche Gerüchte über eine Blutrache etwas fragwürdig erscheinen. Und es zeigt, wie unsinnig die Stereotype in der Beurteilung des Regimes sind, von dem es bei jeder inneren Krise heißt, dies seien die letzten Zuckungen in einem unaufhaltsamen Prozess der Auflösung. Letzten Endes sind dies die typischen Erscheinungen einer „Kreml-Astrologie“: Dem irakischen Geheimhaltungswahn entspricht im Westen die obsessive Suche nach den Indizien, den „Zeichen“, die zur Aufdeckung der geheimen Wahrheiten unter der undurchdringlichen Oberfläche führen sollen.

Die Wahlen im Irak, die im Oktober 2002 vor dem Hintergrund internationaler Krisendiplomatie stattfanden, boten reichlich Anlass für neue Missverständnisse. „Saddam Hussein organisiert seinen Triumph, um George Bush herauszufordern“, titelte Le Monde. Aber der Urnengang am 15. Oktober war seit langem vorgesehen, er stand seit der Volksabstimmung vom 15. Oktober 1995 fest. Wäre die Wahl abgesagt worden, man hätte es als ein Zeichen innenpolitischer Schwäche interpretiert. Dass sie wie geplant durchgeführt wurde, war durchaus kein Zeichen von Arroganz. Und ihr fast 100-prozentiges Resultat ergab sich auch nicht aus einer Anordnung Saddam Husseins, sondern aus den seit je üblichen Ritualen der Baath-Partei.5 Die Aktivisten an der Basis waren diesmal angesichts der internationalen Entwicklung natürlich besonders motiviert, ein Rekordergebnis vorzulegen: Deshalb füllten sie auch die Wahlzettel der – zahlreichen – Nichtwähler aus.

Auch „Propaganda“ und „Personenkult“ im Irak können nicht einfach als Ausdruck für Saddam Husseins Größenwahn abgetan werden. Sie sind vielmehr auf makabre Weise Ausdruck der aktiven Mitwirkung der Bevölkerung an der eigenen Unterwerfung. Dass die Person des Diktators so sehr im Vordergrund steht – etwa in Form der zahlreichen und einander widersprechenden „wahren“ Biografien, die im Umlauf sind –, ist ebenfalls auf den „Zoomeffekt“ der neuen Kreml-Astrologie zurückzuführen. Doch dieser Effekt führt letzten Endes nur zu einer allgemeinen Kurzsichtigkeit: Wir werden unfähig, die wichtigeren Entwicklungen zu lesen und damit vielleicht den Kurs des Regimes genauer voraussagen zu können.

deutsch von Edgar Peinelt

* Journalist, Ottawa.

Fußnoten: 1 Siehe www.globalsecurity.org. 2 Einige skandalöse Beispiele in Bezug auf den Irak werden in The Christian Science Monitor (6. September 2002) und Le Monde (9./10. März 2003) dokumentiert. 3 Die Arbeit von Ibrahim al-Marashi kann auf der Website der Middle East Review of International Affairs eingesehen werden (www.biu.ac.il/soc/besa/meria); der britische Geheimdienstbericht findet sich auf der offiziellen Website von Downing St. No. 10 (www.number-10.gov.uk). 4 Siehe den Artikel von Mark Bowden, „Tales of the Tyrant“, The Atlantic (Boston), Mai 2002. 5 Siehe David Baran, „Kuschen, schwitzen, Punkte sammeln“, Le Monde diplomatique, Dezember 2002.

Le Monde diplomatique vom 11.04.2003, von DAVID BARAN