11.04.2003

Arbeiter, Bauern und Boogie-Woogie

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Arbeiter, Bauern und Boogie-Woogie

Seit fast dreißig Jahren machen Danièle Huillet und Jean-Marie Straub Antikino: sie stellen Figuren vor die Kamera und lassen sie Texte deklamieren. Erzählt wird nicht. Hier wird Filmkunst neu erfunden – als radikale Kritik des Kapitalismus.

Von JACQUES RANCIÈRE *

IL ritorno del figlio prodigo“ (Die Rückkehr des verlorenen Sohnes, 2001–2003) und „Umiliati“ (Gedemütigt, 2002), dem Diptychon von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet, liegt der Roman von Elio Vittorini, „Le donne di Messina“ (1948/1964, Die Frauen von Messina) zugrunde, die Geschichte einer Dorfgemeinschaft, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs von Menschen aus verschiedenen Regionen Italiens gegründet wurde und mittlerweile wieder aufgelöst ist. Aber für den Plot eines Buches haben sich Straub und Huillet noch nie sonderlich interessiert. Ihre Arbeit besteht immer darin, Spannungen herauszufiltern, und zwar im doppelten Sinn des Wortes: durch Gegenüberstellungen von Gedanken und unterschiedliche Sinneseindrücke. Aus „Donne di Messina“ haben sie zwei kurze Passagen aufgenommen. In einem vorangegangenen Film, „Operai, contadini“ (Arbeiter, Bauern) aus dem Jahr 2000, waren es vier Kapitel aus demselben Roman, die aus sich überschneidenden Monologen bestanden, in denen die Gemeinschaft der Arbeiter und Bauern sich selbst erzählt, sowohl durch die Art und Weise ihrer Auseinandersetzungen als auch durch die Darstellung ihrer sinnlichen Kraft.

Während „Il ritorno del figlio prodigo“ noch einmal die Gemeinschaft in ihrer Selbstdarstellung in Szene setzt, greift „Umiliati“ die Kapitel heraus, in denen sie brutal mit der Außenwelt konfrontiert ist –mit den Gesetzen von Ökonomie und Politik: der Krieg ist zu Ende, Republik und Wirtschaftswunder sind in vollem Gange.

Die Kontinuität scheint fraglos. Doch dem ist nicht so. Gradlinige Logik, die mit der Utopie sympathisiert, bevor sie diese der historischen Dialektik opfert, ist Straubs und Huillets Sache nicht. Was sie an Vittorinis Buch gereizt hat, ist die Spannung, die sie darin erkannt haben, die gleiche, die ihr eigenes Filmschaffen und ihren Marxismus durchzieht, eine Spannung, für die zwei Namen stehen könnten: Bertolt Brecht, der Künstler, der rigoros mit der marxistischen Dialektik Theater machen wollte, und Friedrich Hölderlin, der Dichter, der als einer der ersten die Revolution der sinnlichen Welt erkannte.

Brecht und Hölderlin: einerseits das dialektische Spiel der Gedanken, die in Szene gesetzt werden, um die Mechanismen der Herrschaft und ihre Auswirkungen auf die Beherrschten auseinander zu nehmen; andererseits die Bejahung der neuen natürlich-sinnlichen Welt, aber auch der Gefährdung all jener, die sich in deren Untiefen vorwagen. Die Kunst von Straub und Huillet hat sich immer in der Spannung zwischen diesen beiden Polen bewegt, auch mit dem Risiko, deren geheime Verwandtschaft sichtbar zu machen.

Zur Zeit von „Geschichtsunterricht“ (1972) rückten sie den Zynismus der römischen Senatoren ins Rampenlicht, als sie inmitten der Annehmlichkeit römischer Gärten die „Geschäfte des Herrn Julius Caesar“1 herausarbeiteten, mit anderen Worten das Gesetz des Profits, das sich unter der Oberfläche der kriegerischen Heldentaten und der Palastrevolten durchsetzt. Und auch in „Umiliati“ wird den Gründern der Gemeinschaft von den Vertretern des neuen Italien eine Lehre in politischer Ökonomie erteilt. Doch der Sinn des Geschichtsunterrichts hat sich ebenso verändert wie die Stimmen, die sie vortragen, und die Körper, die sie aufnehmen.

„Operai, contadini“ schien sogar jede Lehre auszuschließen. Die Logik, der zufolge jede Geschichte ein Ende hat und jeder schöne Traum ein trauriges Ende nimmt, schien für diese Gemeinschaft ausgesetzt. Die vielfältigen von den Protagonisten vorgetragenen Auseinandersetzungen – zwischen Arbeitern und Bauern, Anführern und Massen, Männern und Frauen, Abtrünnigen und Loyalen – verschmolzen in ein und demselben Grundton, im hohen Ton einer Rede, die von der Kraft der Erbauer einer neuen Welt erzählte, eine Kraft, die im Geschmack und Geruch eines Heidekrautfeuers, im Ricottakochen oder in einem Ausflug zum Lorbeersuchen Gestalt annahm. Die Gemeinschaft hatte kein Ziel, nur sinnliche Momente, die für immer gegenwärtig blieben. In regelmäßigen Abständen hoben die Protagonisten ihre Nasen aus den Textheften und wandten sich an einen imaginären Zuschauer mit der ironischen Frage: „Ermittler, Richter, Gott?“

Ein Ende des Wegs, ein Tribunal oder eine List der Geschichte gab es nicht. In „Operai, contadini“ ebenso wie in „Sicilia!“2 stand vor dem abwesenden Richter dieselbe Figur einer Frau aus dem Volk, dargestellt von derselben Schauspielerin, Angela Nugara, die in der Sprechweise großer Tragödinnen die Fähigkeiten der Gemeinschaft oder den Besitz eines „Eigenlebens“ behauptete. Doch von den zwölf Protagonisten aus „Operai, contadini“ ist sie als Einzige in „Umiliati“ verschwunden, ersetzt durch einen alten Bauern, der mit einer bloßen Handbewegung das Recht zu reden einfordert, das ihm jedoch nicht gewährt wird. Dieses Verschwinden ist ebenso symbolisch wie die apokalyptische Musik von Varèse, die auf die hoffnungsfreudige Bach-Kantate folgt.

Plötzlich hat die Perspektive gewechselt. Die Gegenwart der Gemeinschaft hat jetzt durchaus ein Ende, und das Tribunal der Geschichte findet durchaus statt, weniger um ein Urteil zu fällen, als um die Männer und Frauen der Gemeinschaft zu erniedrigen. Auf einem Erdhügel stehend, im vollen Licht, in ihren abgetragenen Kleidern, den Blick gesenkt, die Hände auf dem Rücken, sind sie dem Kreuzfeuer der Richter ausgesetzt, die sich weiter unten in der Kühle der Schlucht und in der Gewissheit ihrer guten Gründe niedergelassen haben.

Keine Textbücher mehr. Der Ankläger und die drei Richter kennen ihre Geschichts- und Ökonomielektion in beiden Versionen: in der bürgerlichen (eine Person beschwört die Gesetze des Eigentums) und in der proletarischen (drei Partisanen mit roten Halstüchern erläutern die historischen Gesetzmäßigkeiten). Ihnen gegenüber – wenn man so sagen kann, denn keine Einstellung bringt beide Parteien zusammen, vielmehr wird das Nichtvorhandensein eines gemeinsamen Ortes betont – stehen die Mitglieder der Gemeinschaft, deren Worte und Gesten scheinbar auf wütende Zwischenrufe und Gesten der Ohnmacht beschränkt sind.

Doch es ist ein eigenartiges Tribunal. „Wer bist du?“, wird der „Ankläger“ gefragt. Eine Frage, die ohne Antwort bleibt. Der „Karl der Kahle“ aus Vittorinis Buch erscheint als rätselhafter Manipulator. Hier ist er lediglich eine Stimme, die einen Körper belebt: fast eine Bauchrednerstimme, die mit einem halluzinierenden Blick korrespondiert. Was diese Stimme transportiert, die selbstgewiss und doch auch schwerfällig ist, als wäre sie über ihre eigenen Worte verwirrt, ist das zeitlose Gesetz des Privateigentums: Grundstücke und Häuser, Länder, Flüsse, Meere und Vulkane, all das, sagt sie, bildet ein bruchloses Gefüge, in dem alles angeeignet ist: was nicht Hinz gehört, gehört Kunz, und was weder dem einen noch dem andern gehört, gehört dem Staat.

Kein Ort auf dem Katasterplan, an dem Gemeinschaften wie diese sich niederlassen könnten. Doch der Monolog klingt weit mehr nach Trauergesang denn nach Anklage. Über diese Flüsse, diese Krater, die alle einen Eigentümer haben, scheint die Stimme des seltsamen Anklägers in dem Maße, wie seine Worte sie heraufbeschwören, einen Schleier auszubreiten. Es ist, als verdoppelte sich seine Stimme, als hätte sich in die Rede von Vittorinis listigem Manipulator klammheimlich die Stimme des Dichters gemischt, die Stimme eines aus dem Schlaf aufgeschreckten Hölderlin, der ermisst, was aus seiner Welt und seinem Traum geworden ist.

Die Stimme der Partisanen (Vittorinis „Jäger“) wiederum ist nicht in der mentalen Verfassung, dass sie den Leuten des Dorfes erklären könnte, was ihre Gemeinschaft ist: eine Kooperative, die wie alle anderen wäre, unterschiede sie sich von ihnen nicht durch die Beschränktheit ihrer Tätigkeiten, ihre veralteten Gerätschaften und eine lächerlich geringe Produktivität. Das stark betonte Skandieren des Textes, den Danièle Huillet in rhythmische Sequenzen aufgeteilt hat – wobei sie auch mit „antirhythmischen Zäsuren“ nach dem Vorbild Hölderlins spielt, wie sie sich durch die Melodie der italienischen Sprache anbieten –, übernimmt hier eine andere Funktion. Im halluzinierenden Monolog des „Anklägers“ trägt das Skandieren dazu bei, eine Welt dem Zugriff zu entziehen. In der selbstgewissen Rhetorik der roten Halstuchträger wird dadurch mit dem Messer der Ironie die Wunde wieder aufgerissen. Trägt Karl der Kahle das zeitlose Gesetz des Raumes vor, so sind sie das Sprachrohr der Zeit, die Jugend der Welt. Sie können sich unbekümmert den Ball des dialektischen Spiels zuwerfen, ohne diejenigen anschauen zu müssen, zu denen sie sprechen und die gleichsam hinter ihrem Rücken dem „Zug der Geschichte“ zu Fuß hinterherlaufen. Sie kennen die Republik, das Gesetz des Marktes und den Boogie-Woogie. Mit anderen Worten, sie sind gute Brechtianer.

Brechtanhänger in diesem Sinne sind die Filmemacher eindeutig nicht. Die Jäger werden mit dem Zug der Geschichte weiterfahren, ohne den Mann, den sie suchten, gefunden zu haben. Erreicht allerdings haben sie etwas anderes: die Zerrüttung der Gemeinschaft. Die Straubs bleiben zurück, zu Fuß, sie stellen fest, dass der Zug vorbeigefahren ist, weigern sich aber, ihm Recht zu geben. Die ausgestreckte Hand des alten Bauern verschwindet nicht. In der letzten Einstellung sitzt Siracusa, die Gefährtin des Anführers, der den Deserteuren „nichts mehr zu sagen“ hat, vor der verschlossenen Haustür, den Kopf auf die Arme gelegt, wie Botticellis „Verlassene“. Doch in einem letzten Ausruf, einem „Ach …“, das von der Resignation zur äußersten Affirmation übergeht, lösen sich ihre Arme, und in einer letzten langsamen Abwärtsbewegung fängt die Kamera genau auf der Höhe der bloßen Füße ihren herabhängenden Arm ein – mit der immer noch geballten Faust.

deutsch von Sigrid Vagt

* Emerit. Professor der Universität Paris-VIII; Autor u. a. von „La Fable cinématographique“, Paris (Seuil) 2001.

Fußnoten: 1 Frei nach Brechts Theaterstück: „Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar“. 2 Film von 1998, ebenfalls nach Vittorini, „Conversazione in Sicilia“ (1939/1941, dt. „Gespräch in Sizilien“, Berlin 1999).

Le Monde diplomatique vom 11.04.2003, von JACQUES RANCIÈRE