Der Elefant und die Ameise
Von JOSÉ KAGABO *
ALLJÄHRLICH am siebten Tag des Monats April gedenkt Ruanda des Völkermords an etwa einer Million Tutsi und oppositionellen Hutu zwischen April und Juli des Jahres 1994.1 Bevor dieser Gedenktag eingeführt wurde, wurde von manchen Leuten bestritten, dass es diesen Völkermord jemals gegeben hat. Damit sollte die Legitimität der neuen ruandischen Regierung – einer Koalition aus dem Front Patriotique Rwandais (RPF) und den Parteien, die sich dem geplanten Mord widersetzt hatten – in Frage gestellt werden.
Einige europäische Staaten, darunter Frankreich (siehe Text oben), versuchten nach dem Ende des Krieges, die Krise in Ruanda auf dem „Verhandlungswege“ beizulegen. Man wollte also die siegreiche RPF, die aus Uganda einmarschiert war, und die Vertreter des abgesetzten Regimes, das die Verbrechen zu verantworten hatte, an einen Tisch bringen. Und so sprach man noch ein Jahr nach den Ereignissen von „wahllosen Massakern“ oder sogar von einem „doppelten Völkermord“.
Deshalb wurde der erste Jahrestag des Völkermords (1995) noch im Zustand einer gewissen Verwirrung begangen. Schon über das Datum des Gedenktages wurde heftig diskutiert. Sollte man sich für den 6. April entscheiden, den Tag, an dem das Morden begonnen, aber auch Präsident Habyarimana den Tod gefunden hatte? Oder für den 4. Juli, als der Völkermord durch den Einmarsch der RPF-Armee in Kigali beendet wurde? Und sollte man der Tutsi- und der Hutu-Opfer gemeinsam gedenken? Mit der Entscheidung für den 7. April bezog man die Hutu-Opfer mit ein. Das eröffnete auch die Chance, die neue Regierung zusammenzuschweißen: der Staatspräsident (Pasteur Bizimungu), der Ministerpräsident und die Minister für Äußeres, Inneres und Information waren Hutu, während die Tutsi durch den stellvertretenden Ministerpräsidenten und Verteidigungsminister Paul Kagame vor allem die Armee kontrollierten.
In der Folgezeit zeigt sich, dass das Erinnern selbst einen massiven Konflikt darstellte. Wenn der Staatspräsident vom Völkermord sprach, benutzte er bevorzugt zwei Ausdrücke: ishyano und itsembatsemba. Der erste umschreibt nur vage ein Unglück, der zweite ist ein lautmalendes Wort auf der Basis des Verbs, das „auslöschen“ oder „ausrotten“ bedeutet. So sprach der Staatspräsident in seinen Reden zwar von Ausrottung, fand aber für die Zielgruppe des Völkermords nur bemühte Umschreibungen. Erst die internationale Konferenz über den Völkermord, die im November 1995 in Kigali stattfand, sorgte für die nötige Klarheit und bewies den Ruandern, dass die Weltöffentlichkeit die Tragödie als solche erkannt hat.
1996 begann sich eine echte „Politik“ des Gedenkens abzuzeichnen. Der zweite Jahrestag des Völkermords wurde in Muhororo begangen, Heimat des neuen Staatspräsidenten und Bastion des Hutu-Extremismus, wo man die Tutsi besonders gnadenlos verfolgt hatte. Dort erinnerte Präsident Bizimungu in seiner Rede an die Ursachen der Tragödie und lieferte damit eine offizielle Interpretation der Geschichte. Er verwies auch auf die Mitverantwortung der internationalen Gemeinschaft – von der Kolonialherrschaft bis hin zur Unterstützung der für den Völkermord verantwortlichen Regierung und zum Rückzug der UN-Truppen während der Massaker. Dann wandte er sich an einige Bauern, die aus der Ferne zuschauten und entsprechend wenig verstanden, und geißelte sie stellvertretend für alle Hutu: „Mit euren Taten und eurer Grausamkeit habt ihr gezeigt, dass wir Hutu Tiere sind.“
Die Gedenkfeier zum dritten Jahrestag am 7. April 1997 fand in Murambi statt, wo ein riesiges Massengrab liegt. Die Stadt liegt in der Präfektur Gikongoro im Süden des Landes, wo sich französische Streitkräfte während der „Operation Türkis“ zwischen die Mörder und ihre Opfer gestellt hatten. Staatspräsident Bizimungu, dem jeder Sinn für Nuancen abgeht, erzählte die Geschichte von dem Elefanten, der mit einer Ameise in Streit geriet und dabei allein auf sein gewaltiges Gewicht vertraute. Aber der Kampf ging ganz anders aus: „Wo ist heute der Elefant? Die Ameise ist immer noch da.“
Mit dem Elefanten war natürlich Frankreich, mit der Ameise aber Ruanda gemeint. Das wurde vollends klar, als ein Zeuge des Massakers ans Rednerpult trat. Er beschuldigte die französischen Soldaten, das Morden in Murambi gedeckt zu haben. Später hätten sie versucht, das Massengrab zu verstecken, indem sie über ihm ein Volleyballfeld anlegten. Im weiteren Verlauf der Gedenkfeier beschuldigte der Präsident den anwesenden Bischof von Gikongoro, Monsignore Augustin Midago, sich am Völkermord beteiligt und dann mit Hilfe der französischen Streitkräfte das Land verlassen zu haben.
Vor allem in Frankreich sahen alle in diesen merkwürdigen Vorwürfen natürlich nur Erpressungsversuche gegenüber der internationalen Gemeinschaft und politische Manipulationen im Zuge innenpolitischer Machtspiele. Doch diese Interpretation ist allzu schematisch. Vielmehr ist zu fragen, welchen Zweck die ruandischen Machthaber verfolgten, wenn sie sich gleichzeitig an die internationale Öffentlichkeit und an die eigene Bevölkerung wandten.
Zum Beispiel müssen wir Präsident Bizimungus Äußerungen von 1996 in die äußerst komplexen Verhältnisse einordnen, die unmittelbar nach dem Völkermord herrschten. Der Schmerz, die Angst und die Verbitterung der Überlebenden waren noch so virulent, dass niemand sich schutzlos im Land zu bewegen wagte. Und außerhalb des Landes, in den Flüchtlingslagern im Osten der heutigen Demokratischen Republik Kongo, drohten die alten ruandischen Streitkräfte und die wiedererstarkten Milizen, die Macht zurückzuerobern, um „die Arbeit zu vollenden“2 . Die Drohrede des Staatspräsidenten richtete sich zweifellos gegen alle Versuche, sich mit den Extremisten zu verbünden, denen man eine Verbindung zu Kräften innerhalb des Landes unterstellte.
Das verbale Muskelspiel von 1997 muss hingegen im Kontext der beträchtlichen Spannungen gesehen werden, die damals zwischen Ruanda und Frankreich herrschten. Die Ruander hatten Frankreich im Verdacht, auch weiterhin die nach Zaire geflohenen Extremisten des alten Regimes zu unterstützen. Entsprechend bereiteten sie die internationale Öffentlichkeit darauf vor, dass sie im damaligen Zaire intervenieren könnten.3 Zudem verschlechterten sich auch die Beziehungen zwischen der ruandischen Regierung und dem Vatikan, als die Vorwürfe gegen die katholische Kirche – wegen ihrer Komplizenschaft mit dem alten Regime und der Beteiligung einiger ihrer Mitglieder am Völkermord – immer schärfer wurden.
Zwar hat der heutige Staatspräsident Kagame eine ganz andere Ausstrahlung und eine andere Art der Kommunikation als sein Vorgänger, doch seine Reden richten sich weiterhin zugleich an die internationale Gemeinschaft und die ruandische Öffentlichkeit. Dabei ist sein Ton versöhnlicher, aber genauso bestimmt. So zitierte der Staatspräsident in seiner Gedenkrede im April 2003 mit bitterer Ironie das „Nie wieder!“, das sich die internationale Gemeinschaft nach der Schoah geschworen hatte, um anschließend daran zu erinnern, wer die Bevölkerung Ruandas vor zehn Jahren im Stich gelassen hat.4 Gegenüber dem belgischen Außenminister Louis Michel bekräftigte er die Entschlossenheit seiner Regierung: „Wir werden entschieden gegen alle kämpfen, die, ob fern oder nah, uns noch einmal in solch eine Situation bringen wollen. Unserem ‚Nie wieder!‘ sollen auch Taten folgen.“
Es ist ohne weiteres zu erkennen, dass Präsident Kagame hier auf die Rolle anspielt, die sein Land im Kongo gespielt hat und möglicherweise noch einmal spielen könnte. Da im Sommer 2003 wichtige Wahlen anstanden (die Präsidentenwahl und die Parlamentswahlen), richtete sich der zweite Teil seiner Rede an die Kandidaten der Opposition: „Bei Tage halten sie Reden über menschliche Werte und Menschenrechte und über die Notwendigkeit der Einheit und der Versöhnung. […] Aber des Nachts schlagen dieselben Leute ganz andere Töne an und setzen sich für eine Spaltung ein.“ So kam es gar nicht überraschend, dass Kagame Ende August mit 95 Prozent der abgegebenen Stimmen wiedergewählt wurde, nachdem man seinem wichtigsten Konkurrenten vorgeworfen hatte, die ethnischen Konflikte zu schüren.
Dem bevorstehenden Gedenktag am 7. April 2004 kommt ganz besondere Bedeutung zu. Zehn Jahre nach den Ereignissen spricht man bereits von einer Bilanz. Aber womit werden sich die Reden beschäftigen? Ohne Zweifel wird man über den Rückzug der ruandischen Truppen aus der Demokratischen Republik Kongo sprechen, über die zurückliegenden Wahlen, die landesweite Versöhnung und die gute wirtschaftliche Entwicklung – den Wiederaufbau der Infrastruktur, der Verwaltung und der staatlichen Dienstleistungen. Und man wird darauf verweisen, dass eine dezentral organisierte Justiz eingerichtet wurde, um die Verfahren gegen diejenigen zu beschleunigen, die am Völkermord beteiligt waren5 .
Was den Völkermord betrifft, so erfahren die Überlebenden wie auch die ruandische Regierung, dass dieser nun international auch als solcher anerkannt wird. Besonders beeindruckend war die Entschuldigung, die der belgische Premierminister Guy Verhofstadt auf der Gedenkfeier am 7. April 2000 vortrug. Von den Ländern, die in die Geschichte des Völkermords verwickelt waren, verhält sich nur Frankreich reserviert.6
Wird an die Verantwortung der internationalen Gemeinschaft erinnert, soll damit zugleich die nationale Souveränität unterstrichen werden. Man sagt gleichsam: „Angesichts der Ereignisse und eures Verhaltens braucht ihr uns keine moralischen Lehren zu erteilen.“ Dabei geht es weniger um Schuldzuweisungen als um die Forderung, ein anderes politisches Verhältnis zu den ehemaligen Kolonialmächten herzustellen. Es bleibt jedoch die schmerzhafte Frage nach dem individuellen und dem kollektiven Gedächtnis, die offensichtlich nicht durch staatliche Gedenkfeiern und ganz sicher nicht in kurzer Zeit zu lösen ist.
deutsch von Michael Bischoff
* Dozent an der Ecole des Hautes études en sciences sociales, Paris.