Chronik unterlassener Hilfeleistungen
ALS sich Mitte Februar die afrikanischen Staatschefs der New Partnership for Africa’s Development (Nepad) in Kigali trafen, wurde Ruanda als eines von vier Ländern dazu bestimmt, sich der Überprüfung durch eine Gutachterrunde zu unterziehen. Denn Afrikas ökonomische Zukunft hängt unter anderem davon ab, wie sich hier die Rechtssicherheit entwickelt. Kein leichtes Unterfangen, denn in Ruanda häufen sich in letzter Zeit die tödlichen Anschläge auf Überlebende des Völkermords, die als Zeugen in den Dorfgerichten aussagen sollten.
Von COLETTE BRAECKMAN *
Eine Million Tote in hundert Tagen – und niemand will etwas geahnt haben? Dabei wussten alle, die sich für die politischen Verhältnisse in Ruanda seit der Unabhängigkeit 1962 interessierten, dass das Land ein brodelnder Kessel war. Schon 1959 hatten Hutu im Zuge des so genannten Bahutu-Aufstands mehr als 300.000 Tutsi vertrieben, und zwar mit Unterstützung der belgischen Kolonialmacht, die sich auf die Seite der ethnischen Mehrheit geschlagen hatte. Im Oktober 1990 begann die Patriotische Front Ruandas (RPF) von Uganda aus ihren Kampf gegen das Regime in Kigali. Die RPF war zwei Jahre zuvor von der zweiten – englisch alphabetisierten – Generation der Exil-Tutsi gegründet worden. Jeder Angriff, den die RPF über die Grenze hinweg unternahm, löste automatisch Massaker an den in Ruanda verbliebenen Tutsi aus.
Im August 1993 unterzeichneten die ruandische Regierung und die RPF in Tansania ein Friedensabkommen. Das Arusha-Abkommen sah eine von einer UN-Friedenstruppe unterstützte Übergangsregierung vor, an der neben der RPF auch die politische Opposition in Ruanda beteiligt sein sollte. Die Einigung erfolgte vor allem auf Druck der Regierungen, die Ruanda mit Entwicklungsgeldern unterstützten. Und die Einzigen, die danach optimistisch blieben, waren die ausländischen Diplomaten. Auch deshalb hielt man im UN-Sicherheitsrat eine UN-Friedenstruppe für Ruanda (Unamir) von nur 2 548 Mann für ausreichend – statt der 4 500 Mann, die ihr Kommandeur, der kanadische General Romeo Dallaire, gefordert hatte. Zudem erfolgte der Einsatz der Blauhelme nach Kapitel VI der UN-Charta, war also nur als „friedenserhaltende“ (und nicht nach Kapitel VII als „friedenserzwingende“) Mission definiert. Das schloss den Einsatz militärischer Gewalt aus.
Als dann Anfang 1994 die große Krise ausbrach, wollte sich außer Frankreich und Belgien niemand engagieren, denn Ruanda war ja nur eines dieser armen Länder, die noch nicht einmal in den strategischen Überlegungen eine Rolle spielen.1 Damit büßte das Land auch dafür, dass die USA nur wenige Monate zuvor in Somalia ihr großes Debakel erlebt und sich davongemacht hatten.
An beunruhigenden Indizien hatte es wahrlich nicht gefehlt: Im Juli 1993 hatten Hardliner des Regimes den Privatsender Radio Télévision des Milles Collines gegründet, der das Friedensabkommen heftig kritisierte. Noch schlimmer war, dass er im Rahmen seiner Hasspropaganda ständig dunkle Gerüchte verbreitete: über die RPF, über die Tutsi im Allgemeinen und über das belgische UN-Kontingent, dem man einseitige Parteinahme für die RPF vorwarf. Schon ab Februar 1993 hatte man zehntausende junge Hutu rekrutiert und ausgebildet – in Lagern, die von der Straße aus bequem einzusehen waren. Ist es überhaupt denkbar, dass die belgischen und französischen Militärberater, die ihre Regierungen über jede kleinste Truppenbewegung informierten, von dieser Mobilmachung nichts mitbekamen?
In dieser Zeit wurden auch Kredite der Weltbank für den Kauf von Gewehren und Macheten zweckentfremdet und mit einer Bürgschaft des Crédit Lyonnais mehrere Waffen- und Munitionslieferungen aus Ägypten finanziert. Als im Oktober 1993 der rechtmäßig gewählte Präsident von Burundi, der Hutu Melchior Ndadaye, von Tutsi-Soldaten ermordet wurde, spitzte sich auch die Lage in Ruanda zu.
Im Januar 1994 wurden die Befürchtungen zur Gewissheit: Die Unamir erfuhr von einem Informanten, dass man alle Tutsi in Ruanda registriert hatte. Derselbe Informant berichtete auch über die militärische Ausbildung der Hutu-Miliz „Interahamwe“ („die, die gemeinsam töten“ oder „die, die zusammenhalten“) und über Waffenlager. Er führte die Blauhelme auch in einen Kellerraum der Parteizentrale des von Präsident Habyarimana geführten Mouvement Révolutionnaire Nationale pour le Développement (MRDN), wo sich ein Waffenlager befand.
Doch auf das chiffrierte Telegramm, mit dem General Dallaire am 15. Januar in New York die Erlaubnis erbat, die geheimen Waffenlager auszuheben, bekam er nicht die erhoffte Antwort. Die damals von Kofi Annan geleitete Abteilung für friedenserhaltende Operationen der UN untersagte jegliches Eingreifen.2 Außerdem wurde Präsident Juvénal Habyarimana von westlichen Botschaftern informiert. Der bestritt die Existenz von Waffenlagern und ließ die Waffen unverzüglich im ganzen Land verteilen.
Zwar sprach der belgische Außenminister Willy Claes im Februar in Kigali mahnende Worte, aber danach geschah nichts. Und dies obwohl der Bauminister und Vorsitzende der sozialdemokratischen Partei, Félicien Gatabazi, ermordet wurde, obwohl ruandische Offiziere General Dallaire von einem „machiavellistischen Plan“ berichteten und obwohl es immer mehr Attentate gab. Das Unamir-Mandat wurde nicht erweitert, und der Weltsicherheitsrat brachte am 17. Februar lediglich seine „Beunruhigung“ zum Ausdruck.
Der Beginn des Völkermords hat ein Datum: Am 6. April 1994 erfolgte das Attentat auf das Flugzeug des Präsidenten, bei dem Habyarimana und sein burundischer Amtskollege Ntaryamira ums Leben kamen (die Urheber und Auftraggeber sind bis heute nicht ermittelt). Daraufhin begann eine gezielte Mordkampagne gegen gemäßigte Hutu-Persönlichkeiten und einfache Tutsi-Bürger, die – obwohl seit Monaten geplant und rigoros durchgeführt – als „Ausdruck des Volkszorns“ über den Tod des Staatsoberhaupts dargestellt wurde. Zu diesem Zeitpunkt waren die Soldaten der UN-Truppe über das ganze Land verstreut und überdies mangelhaft ausgerüstet. Als General Dallaire und sein Stellvertreter Luc Marchal am Morgen des 7. April erfuhren, dass in Kigali zehn belgische Blauhelmsoldaten, die als Leibwache des Ministerpräsidenten dienten, in der Bredouille waren, kam man nicht einmal ihnen zu Hilfe.
Während die Müllabfuhr die Leichen einsammelte, während Killerbanden durch die Stadt zogen und General Dallaire Verstärkung anforderte, ging es den westlichen Staaten vor allem darum, die eigenen Staatsangehörigen zu evakuieren. Deshalb schickten die Franzosen 450 Soldaten, die Belgier 450 Fallschirmjäger und weitere 500 Soldaten nach Kenia. Der Operation schlossen sich auch 80 Italiener an, während in Burundi 250 US-Ranger bereitstanden. Wären diese Truppen zur Verstärkung der Unamir eingerückt, hätten sie ohne Zweifel das Morden in Kigali beenden, den Sender der Extremisten zum Schweigen bringen und einen Waffenstillstand erzwingen können.
Doch diese Truppen beschränkten sich weisungsgemäß auf die Evakuierung westlicher Staatsangehöriger. Im Stich gelassen wurden hingegen die Tutsi-Bevölkerung – auch gemischte Paare –, die ruandischen Angestellten der Botschaften und selbst jene Tutsi, die sich in die Obhut der UN-Truppen begeben hatten. Auch die Blauhelme standen ohnmächtig bei Fuß. Währenddessen evakuierten die Franzosen, auf Anordnung Präsident Mitterrands, die Witwe des Präsidenten Habyarimana, die zum Lager der Hardliner zählte, und einige andere Figuren des Regimes.
Aber es kam noch schlimmer: Am 12. April kündigte der belgische Außenminister Willy Claes – nach der Ermordung der zehn belgischen Blauhelmsoldaten noch unter Schock stehend – den Abzug des belgischen UN-Kontingents aus Ruanda an. Zugleich bemühte er sich, auch andere Länder zum Abzug zu bewegen.
Damals nahm der den Extremisten nahe stehende ruandische UN-Botschafter weiterhin den nichtständigen Sitz Ruandas im Weltsicherheitsrat wahr, Vertreter der ruandischen Regierung wurden in Paris offiziell empfangen, und Frankreich belieferte Kigali immer noch mit Waffen (über die zairische Provinz Nordkivu). Und die USA und Großbritannien widersetzten sich entschieden einer Verstärkung der UN-Truppen in Ruanda. US-Außenministerin Madeleine Albright untersagte ihren Untergebenen, den Begriff „Völkermord“ zu verwenden, der eine Pflicht zur Intervention impliziert hätte, und noch Ende April sprach Butros Butros-Ghali lediglich von einem „Bürgerkrieg“.
Am 21. April beschloss der Weltsicherheitsrat in Resolution 912, die UN-Streitkräfte in Ruanda auf 500 Blauhelmsoldaten zu reduzieren. Aber der Unamir fehlte es ohnehin an Proviant, Munition und Transportkapazitäten. So war sie außerstande, der um Schutz flehenden Zivilbevölkerung zu helfen. Dass dennoch zahlreiche Menschen erfolgreich evakuiert wurden, ist allein dem Mut vieler Blauhelme zu verdanken.
Soweit die Medien sich überhaupt für Ruanda interessierten, filmten sie von Uganda aus die im Viktoriasee treibenden Leichen, oder sie verfolgten mit ihren Kameras einzelne Hutu, die sich nach vollbrachter Tat nach Tansania absetzten. Philippe Gaillard vom Internationalen Roten Kreuz, ein Team von Ärzte ohne Grenzen und auch General Dallaire hatten schon vorher die Öffentlichkeit über die erschütternden Ereignisse informiert und Hilfe angefordert. Allein in Butare3 wurden alle Patienten und das ruandische Mitarbeiterteam von Ärzte ohne Grenzen umgebracht. Als der UN-Menschenrechtskommissar José Ayala Lasso am 11. und 12. Mai nach Ruanda reiste, sprach er erstmals öffentlich von „Völkermord“. Selbst in den meisten Medien war nur die Rede von „interethnischen Massakern“ oder „Stammeskämpfen“. Obgleich die Morde von der nach dem Tod Habyarimanas gebildeten Interimsregierung angeordnet und organisiert wurden, beschrieb man Ruanda als einen „in Auflösung befindlichen Staat“, in dem eine Art barbarischer Gesetzlosigkeit herrsche. Offenbar wollte man unbedingt die Wahrnehmung der somalischen Anarchie auf das streng hierarchisch organisierte Ruanda übertragen, wo die Bürger seit jeher die Anordnungen der Obrigkeit befolgen.
Erst im Juni begann die Tragödie ins Bewusstsein der Weltöffentlichkeit zu dringen. Gegen den Widerstand der USA beschloss der Weltsicherheitsrat endlich eine neue und nunmehr verstärkte Unamir-Mission. Allerdings konnten die UN weder das nötige Personal noch das erforderliche Geld auftreiben. Washington, das Panzer und Transportlaster abstellen sollte, bestand auf Vorauskasse. Und die RPF, die unaufhaltsam auf Kigali vorrückte, hielt eine ausländische Intervention inzwischen für unnötig. Nicht weil die meisten Tutsi längst tot gewesen wären, sondern weil sie sich den Sieg nicht mehr nehmen lassen wollte.
Erst jetzt griff Frankreich ein, das am 22. Juni vom Weltsicherheitsrat zu einer Operation nach Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen ermächtigt wurde, das auch den Einsatz von Gewalt erlaubt. Aber zu diesem Zeitpunkt waren schon Hunderttausende dem Völkermord zum Opfer gefallen; nur die 10 000 bis 15 000 Menschen in den Lagern von Nyarushishi und Bisesero wurden noch gerettet. Zudem konnten die Franzosen noch versuchen, die Stellung der Interimsregierung zu festigen. Die bereitete den Truppen einen begeisterten Empfang, konnte sie doch hoffen, dass die französische „Operation Türkis“ den Vormarsch der RPF stoppen und Verhandlungen über eine Teilung des Landes erzwingen werde.
Doch dann führten der rasche Vormarsch der RPF-Streitkräfte und der Umschwung der öffentlichen Meinung zu einer Spaltung im französischen Regierungslager. Gegen den Willen der Militärs, die „der RPF das Rückgrat brechen“ wollten und ihre Solidarität mit den ehemaligen Waffenbrüdern unter den „frankophonen“ Hutu nicht verheimlichten, beschloss Ministerpräsident Edouard Balladour, die Ambitionen der Armee und ihrer „Operation Türkis“ zurückzustutzen. Diese wurde angewiesen, mit der RPF Kontakt aufzunehmen, und musste sich darauf beschränken, im Westen Ruandas eine „humanitäre Schutzzone“ einzurichten, in der die Interimsregierung, alle Extremistengruppen und Millionen einfache Hutu Zuflucht fanden.
Die Franzosen zeigten sich unfähig, die zahlreichen Massaker innerhalb dieser Schutzzone zu verhindern, weigerten sich aber zugleich, die Soldaten und Milizionäre zu entwaffnen. Auch die für den Völkermord Verantwortlichen wurden nicht verhaftet und konnten später nach Zaire fliehen. Zudem durfte Radio Mille Collines weiter ungehindert seine Hasstiraden verbreiten. Die Franzosen waren mit Kampfhubschraubern, Kampfflugzeugen und etwa 100 Panzern und Geschützen ausgerüstet. Aber sie hatten zu wenig Lastwagen und Medikamente, sodass sie machtlos gegen die Choleraepidemie waren, an der in Goma 40 000 Hutu-Flüchtlinge zugrunde gingen.
Im Gefolge der Franzosen reisten auch die Medien an, und mit ihnen die humanitären Organisationen. Als die RPF-Milizen am 4. Juli in Kigali einrückten, fanden sie eine Wüste vor. Die Mitglieder des alten Staatsapparats waren geflohen und hatten Akten, Fahrzeuge und Bankguthaben mitgenommen. 300 000 Waisenkinder irrten durch das Land. Doch die internationale Gemeinschaft zögerte, sich zu engagieren. Einige sprachen von einem „doppelten Völkermord“, andere verlangten von dem neuen Regime „ein Zeichen der Versöhnung“, während die Leichen noch in den Straßengräben lagen. Tatsächlich sah es so aus, als müsste die RPF – trotz ihrer guten Beziehungen zu Washington und London – dafür büßen, dass sie in einem frankophonen Land die Macht erobert hatte, ohne die Zustimmung der alten Kolonialmächte eingeholt zu haben.
Die Konzentration von zwei Millionen Hutu-Flüchtlingen in den Lagern bei Kivu (Zaire), die von den Urhebern des Völkermords kontrolliert und von den Hilfsorganisationen versorgt wurden, drohte die Stabilität in Ruanda dauerhaft zu gefährden. Nachdem RPF-Führer Paul Kagame vergeblich versucht hatte, das Flüchtlingskommissariat und andere UN-Organisationen dazu zu bewegen, die von diesen Lagern ausgehende Gefahr zu beseitigen, startete die RPF im Oktober 1996 eine Offensive gegen die ruandischen Flüchtlinge an der Westgrenze des Landes.
Die internationale Gemeinschaft, die einen geplanten und angekündigten Völkermord nicht verhindert hatte, sah nun abermals zu, wie sich die Tragödie fortsetzte. Sieben Monate später wurde in Zaire Staatschef Mobutu, den Frankreich bis zum Schluss unterstützte, von Laurent Désiré Kabila und dessen ruandischen und ugandischen Verbündeten gestürzt.
In diesem neuen Krieg, der sich bis 1998 hinzog, verfolgten die Ruander flüchtende Interahamwe-Mitglieder und machten sich nebenbei, gemeinsam mit ihren ugandischen Verbündeten, an die kongolesischen Bodenschätze. Zu den etwa eine Million Toten des Völkermords kamen nun drei Millionen Tote in Kongo hinzu. Auch sie sind weitgehend vergessen. Aber auch sie sind Opfer des Krieges, der Jagd auf Bodenschätze und der unausgesprochenen Konkurrenz zwischen Frankophonen und Anglophonen um die Vorherrschaft im Herzen Afrikas.
deutsch von Michael Bischoff
* Journalistin, Le Soir, Brüssel.