12.03.2004

In der Loyalitätsfalle

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In der Loyalitätsfalle

Eine freie Presse gibt es noch nicht lange in Algerien. Erst 1990 wurde die Staatspresse abgeschafft und in mehrere Neugründungen überführt. Doch wirklich unabhängig sind die jungen Zeitungen nicht: Finanziell, logistisch und vor allem politisch haben sie wenig Spielraum.

Von BARBARA VIGNAUX *

KHADIJA CHOUIT, Redaktionssekretärin beim Matin, ist es leid: „Wenn doch nur die Präsidentschaftswahlen vorbei wären – dann würde man uns in Ruhe lassen.“ Seit mehr als sechs Monaten liefert sich das Blatt heftige Gefechte mit Staatspräsident Abdelaziz Bouteflika. Moralischer Verfall, Kompromisse mit den Islamisten, Inkompetenz, zunehmend autoritäre Staatsführung – man spart nicht mit Vorwürfen. Und der Staatschef hält natürlich dagegen: Mohamed Benchicou, der Herausgeber des Matin, steht seit einem halben Jahr unter Polizeiaufsicht und hat mehrere Prozesse vor sich; Chefredakteur Youcef Rezzoug ist bereits zu zwei Monaten auf Bewährung verurteilt worden.

Nicht nur der Matin hat den Zorn des Präsidenten auf sich gezogen. Seit Sommer vergangenen Jahres fährt das Regime einen harten Kurs gegen alle privaten Presseorgane: Vorladungen, Verhaftungen, Bewährungsstrafen und hohe Bußgelder. Im internationalen Ranking der Pressefreiheit von „Reporter ohne Grenzen“ steht Algerien auf Platz 108 (von 166 Nationen). Es wurde extra ein neuer Artikel ins Strafgesetzbuch aufgenommen, der gegen die „freie“ Presse angewandt werden kann: Wegen „Beleidigung, Beschimpfung oder Verleumdung“ des Präsidenten, des Parlaments oder der Armee können Gefängnisstrafen von drei bis zwölf Monaten und Geldstrafen von 50 000 bis 250 000 Dinar (600 bis 3 000 Euro) verhängt werden.

Für Fayçal Métaoui, Leiter der Redaktion Politik bei El Watan, sind die kritischen algerischen Zeitungen eine unverzichtbare Instanz, „letzte Bastion gegen die Diktatur“. „Bouteflika war an allen Staatsstreichen seit 1962 beteiligt. Seine Wiederwahl wäre eine Katastrophe, er hätte dann weitere fünf Jahre Zeit, seine Alleinherrschaft zu sichern“, ereifert sich Benchicou. Doch manche Zeitungen– vor allem jetzt im Wahlkampf – haben mit ihrer Kritik den Bogen überspannt, was nun der gesamten Presse schadet.

„Jetzt prügeln alle auf Präsident Bouteflika ein und kommen sich dabei sehr mutig vor“, meint eine frühere Mitarbeiterin des Quotidien d’Oran, der als „pro Bouteflika“ gilt, weil er sich an der Kampagne gegen das Regime kaum beteiligt. Das Regionalblatt, inzwischen im ganzen Land vertrieben, hat mit 190 000 Exemplaren die höchste Auflage unter den frankophonen Tageszeitungen – deutlich mehr als Liberté (150 000), Le Matin (100 000) und El Watan (60 000). Man könnte meinen, die Leser hätten genug von den dauernden Anschuldigungen im Wahlkampf, die von anderen Problemen ablenken. Nach Ansicht von Fayçal Métaoui hat sich „die Presse zu sehr in den Streit zwischen Bouteflika und Ali Benflis1 hineinziehen lassen. Jetzt kommen wir nicht mehr dazu, die eigentlich wichtigen Fragen zu behandeln.“ Vielleicht hat das auch mit den Bedingungen zu tun, unter denen diese noch junge Presse entstanden ist.

„Nach der Kolonialzeit hatte die algerische Presse, ebenso wie die Armee, von Anfang an eine politische Funktion“, erklärt Redouane Boudjema, früher Journalist und heute Dozent am Institut für Kommunikations- und Informationswissenschaft (Isic) der Universität Algier. Journalisten ließen sich für die jeweilige Regierung instrumentalisieren: nach der Unabhängigkeit als Vorkämpfer des Sozialismus, unter Präsident Houari Boumedienne als Sprachrohr der Nationalen Befreiungsfront (FLN) und schließlich als Aktivisten im Kampf gegen die „grüne Gefahr“.2

Diese Tradition sollte 1991 durchbrochen werden, als die Staatspresse von einem unabhängigen Journalismus abgelöst wurde. In einem weltweit einzigartigen Verfahren erhielten die Journalisten – noch im Staatsdienst – drei Jahresgehälter im Voraus, Räume und technische Ausrüstungen. Doch laut Redouane Boudjema blieb „die freie Presse in die Grabenkriege innerhalb des Regimes verwickelt“, vor allem in die zwischen den Armeegenerälen. Die meisten Verleger, ehemals Vertreter der Staatspresse, pflegen die Nähe zur Macht. Sie wohnen im Prominentenviertel Club des Pins, pendeln zwischen Algier und Paris und genießen ihre Privilegien.

Sid Ahmed Semiane, der damals Kolumnist beim Matin war, erinnert sich noch gut daran, dass es damals vor lauter Begeisterung kaum Kritik gab. „Alle glaubten wirklich daran, eine neue Presselandschaft zu schaffen. Wir stürzten uns in die Arbeit, ohne weiter nachzudenken.“ Inzwischen hat das System in vielen Bereichen Kontinuität im Wandel bewiesen, wie Mohamed Benchicou zu bedenken gibt: „80 Prozent der algerischen Zeitungen hängen am staatlichen Tropf.“

So läuft beispielsweise das Anzeigengeschäft fast vollständig über die staatliche Agentur Anep – nur der Matin hat, nach Auskunft von Youcef Rezzoug, 2000 seinen Vertrag mit Anep gekündigt. Bis auf die Druckereien von El Watan und El Khabar, der mit 350 000 Exemplaren auflagenstärksten Zeitung des Landes, sind alle Rotationspressen in staatlicher Hand. Ohnehin braucht jedes Presseorgan eine behördliche Zulassung – wirtschaftlich wie logistisch bleiben die privaten Blätter abhängig vom Wohlwollen des Regimes.

Die unabhängige Presse wurde gegründet, als ein grausam geführter Bürgerkrieg tobte, und sie musste zwangsläufig Partei ergreifen. Das führte dazu, dass über Verbrechen, hinter denen möglicherweise oder auch erwiesenermaßen die Generäle steckten, geschwiegen wurde, um die Islamisten besser angreifen zu können. Stets hörte man das eine Argument: „Die Militärs haben das Land 1992 vor dem Faschismus gerettet. Deshalb lehnen wir es ab, sie zu kritisieren.“ Genau damit habe der Niedergang der Presse begonnen, meint ein früherer Journalist. „Es ging nicht mehr darum, zu informieren, sondern man glaubte, das Land retten zu müssen.“ So erklärt sich auch, dass Präsident Bouteflika eine schlechte Presse hat, seit ihm nachgesagt wird, er paktiere mit den Islamisten.

Nach Ansicht von Adlène Meddi, Journalistin bei El Watan, herrscht eine Art „struktureller Zensur“. Die Liste der Tabuthemen ist lang: die Aufhebung des Ausnahmezustands (seit 1992), die Machenschaften der Geheimdienste, die Folter, die Hinrichtungen ohne Gerichtsurteil, das Schicksal der Verschwundenen3 , die Korruption in der Armee, der Verbleib der gewaltigen Einnahmen aus dem Ölexport, die nationale Entwicklungspolitik, die Geldquelle der Zeitungsverleger.

Bezeichnend ist auch, wie mit Verletzungen von Menschenrechten umgegangen wird. Nach Ansicht von Abdenour Ali Yahia, dem Präsidenten der algerischen Menschenrechtsliga (Laddh) wird nur das „gecovert“, was gerade opportun ist. „Die linken Blätter treten für Grundrechte wie die Meinungsfreiheit ein – aber vor allem dann, wenn es um ihre eigene Klientel geht. So hat Hassan Bouras nicht genug Unterstützung erhalten.“

Hassan Bouras, freier Mitarbeiter der Tageszeitungen El Djazairi und El Youm, bekam wegen „Verleumdung“ am 7. November 2003 zwei Jahre Gefängnis und erhielt ein Berufsverbot von fünf Jahren, weil er über die Verwicklung des Generalstaatsanwalts El Bayadh in Bestechungsaffären berichtet hatte. Nach „Reporter ohne Grenzen“ werden Journalisten in Algerien durch den Druck, den lokale Geschäftsleute und einflussreiche Persönlichkeiten ausüben, in ihrer Arbeit behindert.

Im Fall von Hassan Bouras kam hinzu, dass er sich in der Laddh engagierte, die wegen ihrer Kritik an den Übergriffen der Staatsorgane gegen islamische Aktivisten als „islamistisch“ verschrien ist. „Der schlimmste Eingriff in die Pressefreiheit seit dem ‚Verschwinden‘ von Journalisten4 “ – so Robert Ménard, Generalsekretär von „Reporter ohne Grenzen“ – war keiner algerischen Zeitung eine Meldung auf der Titelseite wert. Immerhin setzte sich ein kleine Gruppe algerischer Kollegen für Hassan Bouras ein: Nachdem er seine Haftstrafe angetreten hatte, verfassten sie einen Aufruf an die internationalen Medien, um eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu erreichen.

Bezeichnend ist auch der Fall von Ahmed Semiane, der am 4. November 2003 in Abwesenheit (er lebt inzwischen in Paris) zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt wurde. Dazu erschienen lediglich ein Artikel im Quotidien d’Oran, eine Kurzmeldung im Matin (Semianes früherem Arbeitgeber), und eine Bemerkung in El Watan. „Reporter ohne Grenzen“ vermutet, dass das mangelnde Engagement der Kollegen damit zu tun habe, dass in diesem Fall die Armee und nicht der Präsidentenclan Strafanzeige erstattet hat.

In Randnotizen wird immer wieder neu journalistischer Freiraum erobert: eine Andeutung hier, ein Beitrag da, ein kleiner Bericht dort. Adlène Meddi ist es auf diese Weise gelungen, in eine Alltagsreportage über Familientreffen beim Aid-Fest die Geschichte einer ihrer Bekannten einzuflechten, die vom Militärgeheimdienst (im Artikel war vorsichtshalber nur allgemein von ‚Leuten‘ die Rede) entführt und zwölf Tage lang gefangen gehalten und gefoltert wurde. „Wenn man den Machthabern und der Mafia zu nahe tritt, heißt es aufpassen“, meint ein junger Journalist von El Khabar. „Man muss sich gut absichern, alles belegen können und einen guten Draht zu den Richtern haben.“

Viele haben den täglichen Kleinkrieg satt und versuchen nach wiederholten Kündigungen als freie Mitarbeiter zu überleben; andere sind ins Exil gegangen oder haben ihren Beruf aufgegeben. Manche halten das Ganze ohnehin für ein Spiel mit gezinkten Karten: „Für das gegenwärtige Chaos sind die Machthaber, die Presse und die Opposition gleichermaßen verantwortlich“, meint ein Journalist, der vor kurzem das Handtuch geworfen hat. Es gibt auch andere Stimmen. Ghania Hammadou, Mitbegründerin des Matin, erinnert daran, dass „die algerische Presse noch sehr jung ist. Daraus erklären sich die meisten ihrer Schwächen und Exzesse. Trotzdem bedeutet die Existenz unterschiedlicher Zeitungen einen großen Fortschritt für die Meinungsfreiheit.“

Niemand käme auf die Idee, eine neue Zeitung gründen zu wollen. Der nächste Schritt könnte aber die Absicherung der journalistischen Berufspraxis sein: Formulierung einer Berufsethik, Gründung einer Gewerkschaft, Weiterbildung, finanzielle Förderung des Instituts für Kommunikations- und Informationswissenschaft (das zur Zeit zehnmal so viele Studenten betreut wie offiziell zugelassen).

Fayçal Métaoui, seit fast fünfzehn Jahren im Geschäft, ist immer noch optimistisch: „Unser Auftrag besteht darin, die Stimme all jener zu sein, die sonst nichts zu sagen haben. Inzwischen werden unsere Proteste auch von der internationalen Presse wahrgenommen, und nicht selten schaltet dann das Regime einen Gang zurück.“ Tatsächlich hatte eine von Journalisten unterzeichnete Petition zur Folge, dass Hassan Bouras nach einem Monat vorläufig aus der Haft entlassen wurde. Zweifellos genießt die Presse in Algerien mehr Freiheiten als in irgendeinem anderen Land der arabischen Welt, aber sie unterliegt zugleich einer beispiellosen (Selbst-)Zensur. Auf die Zeitungen mag man nicht viel geben, doch auf die Journalisten in diesem Land darf man Hoffnungen setzen.

deutsch von Edgar Peinelt

* Journalistin. Hinweis in nicht ganz eigener Sache: Die März-Ausgabe der französischen Le Monde diplomatique, in der die Algerien-Texte abgedruckt waren, wurde in Algerien verboten.

Fußnoten: 1 Ali Benflis, Generalsekretär der Nationalen Befreiungsfront (FLN) und früherer Ministerpräsident unter Abdelaziz Bouteflika, tritt bei den Präsidentschaftswahlen gegen den Amtsinhaber an. 2 Siehe Redouane Boudjema, „L’identité du journaliste en Algérie à travers le discours officiel de 1962 à 1968“, Revue algérienne des sciences de l’information et de la communication, Nr. 16, zweites Semester 1999, Universität von Algier (auf Arabisch). 3 Auf 7 200 schätzt die Algerische Liga zur Verteidigung der Menschenrechte (Laddh) die Zahl der Menschen, die nach ihrer Verhaftung durch die Polizei, die Armee oder die Regierungsmilizen spurlos verschwunden sind. 4 Während der 1990er-Jahre wurden fast sechzig Journalisten ermordet, fünf „verschwanden“. Nach Auskunft der Organisation „Reporter ohne Grenzen“ verliefen alle Nachforschungen im Sande.

Fotohinweis: Die Massaker der 90er-Jahre erscheinen heute in neuem Licht MICHAEL VON GRAFFENRIED/www.mvgphoto.com

Le Monde diplomatique vom 12.03.2004, von BARBARA VIGNAUX