12.03.2004

Die Heimkehr der Nationalisten

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Die Heimkehr der Nationalisten

DIE Bilanz der Demokraten, die in den Ländern Exjugoslawiens in den 1990er-Jahren regiert haben, fällt für die Bevölkerung unbefriedigend aus. In Serbien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina beuten Nationalisten und Populisten jeder Couleur wieder einmal die Frustration der Menschen aus. Damit rückt die – ohnehin höchst ungewisse – Perspektive einer Anbindung an die Europäische Union in noch weitere Ferne.

Von JEAN-ARNAULT DÉRENS *

Auf dem Balkan droht der Demokratisierungsprozess zu scheitern: In Belgrad ist seit dem 3. März eine Minderheitsregierung des ehemaligen Präsidenten Koštunica installiert, die von den Sozialisten toleriert wird. Dafür hat Koštunica der Milošević-Partei sogar versprochen, dass Serbien keine Angeklagten mehr an Strafgerichtshof in Den Haag ausliefern wird. In Zagreb regieren seit den Wahlen vom 23. November letzten Jahres wieder die Nationalisten der Kroatischen Demokratischen Gemeinschaft (HDZ). Und in Bosnien-Herzegowina, wo seit Herbst 2000 eine instabile Koalition aus Parteien des demokratischen Lagers regierte, sind seit den Wahlen vom Oktober 2002 wieder die drei nationalistischen Parteien des Landes an der Macht.

Mit Unterstützung des Westens hatten die demokratischen Parteien der Länder Exjugoslawiens den Weg aus der Opposition angetreten, um den Nationalismus zu überwinden, die Lage zu „normalisieren“ und ihre Länder der Europäischen Union anzunähern. Doch in Serbien fiel das Bündnis der Demokraten, kaum dass es an die Macht gelangt war, wieder auseinander. Vojislav Koštunicas Demokratische Partei Serbiens (DSS) ging auf Konfrontationskurs zur Demokratischen Partei (DS) des damaligen Ministerpräsidenten Zoran Djindjić. Leider hat man offenbar aus den inneren Zerwürfnissen der 1990er-Jahre nichts gelernt. Dass von Uneinigkeit unter den Demokraten nur die Nationalisten der Serbischen Radikalen Partei (SRS)1 profitieren, haben die Wahlen vom 28. Dezember 2003 gezeigt.

Beim Streit zwischen Koštunica und Djindjić ging es vor allem um die Haltung Serbiens zum internationalen Kriegsverbrechertribunal in Den Haag. Hinter den spitzfindigen juristischen Argumentationen, mit denen Koštunica die volle Zusammenarbeit mit dem Haager Tribunal zu verhindern suchte, verbirgt sich ein prinzipieller Vorbehalt gegen das Gericht: Serben können demnach unmöglich für Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantwortlich sein, weil Serben, die Serben, ohnehin immer nur Opfer der Geschichte sind.

Kaum jemand hat den Serben klar gemacht, dass nur durch Strafprozesse gegen Einzelpersonen der Vorwurf einer Kollektivschuld des serbischen Volkes aus der Welt zu schaffen ist. Selbst Djindjić begnügte sich in seiner Zeit als Ministerpräsident stets mit dem Hinweis, die Zusammenarbeit mit Den Haag sei der Preis, den Serbien entrichten müsse, um wieder in die internationale Gemeinschaft zurückzukehren und internationale Hilfsgelder zu bekommen.

Die USA haben solche Hilfen stets von der Auslieferung serbischer Angeklagter abhängig gemacht. Doch obwohl Slobodan Milošević am 28. Juni 2001 nach Den Haag überstellt wurde – wie nach ihm fast alle serbischen Angeklagten mit Ausnahme von General Ratko Mladić, der sich vermutlich immer noch in Serbien versteckt hält –, sind die US-Kredite schließlich bei weitem nicht so hoch ausgefallen wie versprochen.

Der erpresserische Druck aus dem Westen und das Gefeilsche zwischen Belgrad und Den Haag haben nicht dazu beigetragen, die Öffentlichkeit in Serbien von der historischen Notwendigkeit des Tribunals zu überzeugen. Ohnehin wird das Haager Tribunal vielerorts einer antiserbischen Grundhaltung verdächtigt. Öl ins Feuer goss auch Pierre-Richard Prosper, US-Sonderbotschafter für die Verfolgung von Kriegsverbrechen, als er im Frühjahr 2003 noch einmal mit Nachdruck die Verhaftung von Mladić und Karadžić forderte – und im selben Atemzug für Angeklagte anderer Nationalitäten eine Art Amnestie2 in Aussicht stellte.

Chefanklägerin Carla del Ponte hat zwar erklärt, bei den bevorstehenden Anklagen werde die ethnische Zugehörigkeit der Beschuldigten keine Rolle spielen. Zugleich räumte sie aber ein, dass die Ermittlungen gegen Kosovo-Albaner auf große Schwierigkeiten stoßen. Auch gibt es Hinweise darauf, dass die im Kosovo stationierten Nato-Streitkräfte bei den Ermittlungen gegen ehemalige Freischärler der UÇK keineswegs besonders hilfreich sind.

In Kroatien haben sich die Sozialdemokraten unter Ivica Racan während ihrer Regierungszeit (Januar 2000 bis November 2003) zwar grundsätzlich zur Zusammenarbeit mit dem Jugoslawien-Tribunal bekannt. Als aber im Oktober 2002 Anklage gegen Janko Bobetko, den ehemaligen Oberbefehlshaber der kroatischen Armee, erhoben wurde, kam es zu einer schweren Krise zwischen Zagreb und Den Haag. In seltener Einigkeit wiesen die kroatische Regierung und die oppositionellen Nationalisten die Anklage zurück und weigerten sich, Bobetko auszuliefern. Mit Bobetkos Tod am 29. April 2003 hat sich dieser Streit erledigt.

Auch sonst vermied Ivica Racan jede Auseinandersetzung mit den Verbrechen der kroatischen Armee oder gar eine Neubewertung des „vaterländischen Kriegs“ (1991–1995) aus Angst, die konservative Opposition könnte ihn des Verrats bezichtigen. Die Forderungen des Haager Tribunals haben also weder in Serbien noch in Kroatien eine gesellschaftliche Debatte über die jüngere Vergangenheit ausgelöst.

Als die Parteien des demokratischen Lagers 2000 an die Macht kamen, standen sie auch vor den katastrophalen Folgen der Raubwirtschaft der nationalistischen Eliten.3 In Kroatien war im Zuge der Privatisierung ein Großteil der Reichtümer des Landes in die Hände einer Clique um den ehemaligen Präsidenten Franjo Tudjman gelangt. Die Sozialdemokraten Racans trauten sich aber nicht, an diese Besitzstände zu rühren. So sind in Kroatien und in Serbien nicht nur die Kriegsgewinnler, sondern auch die Neureichen der 1990er-Jahre unbehelligt geblieben.

Auch die Wirtschaftskrise der Balkanländer bekamen die neuen Regierungen nicht in den Griff. In Serbien kommen heute auf eine Million Rentner und eine Million Erwerbstätige eine Million Arbeitslose. Das Durchschnittsgehalt liegt bei unter 150 Euro im Monat, Rentner beziehen etwas weniger als die Hälfte. Kroatien befindet sich dank der seit 2000 stetig anwachsenden Einkünfte aus dem Tourismus in einer etwas besseren Lage. Doch auch hier ist ein Drittel der erwerbsfähigen Bevölkerung ohne Arbeit; und die Auslandsschulden des Landes liegen bei über 20 Milliarden Dollar.

In sämtlichen Staaten der Balkanregion sind die Demokraten von den Wählern dafür abgestraft worden, dass es wirtschaftlich nicht bergauf geht. Was fehlt, sind gute ökonomische und gesellschaftspolitische Konzepte – bei Racans Sozialdemokraten wie bei Djindjić’ Demokratischer Partei, die Mitglied der Sozialistischen Internationalen ist. Und niemand setzt sich für die Verlierer der Transformation ein. Auch Milošević’ Sozialistische Partei Serbiens (SPS) ist ja nur dem Namen nach eine Linkspartei. So besteht die Gefahr, dass die Wähler aus Protest und Frustration für rechtsextreme Parteien stimmen.

Einen wirklichen Fortschritt hat es nur in den Beziehungen zwischen den Balkanstaaten gegeben. Seit Frühjahr 2003 benötigen die Bürger Kroatiens und Serbien-Montenegros für Reisen ins jeweilige Nachbarland kein Visum mehr. Und im Herbst 2003 hat der Staatspräsident von Serbien-Montenegro, Svetozar Marović, mit seinem kroatischen Amtskollegen Stjepan Mesić Entschuldigungen für die während des Krieges begangenen Verbrechen ausgetauscht. Auch gegenüber Bosnien-Herzegowina hat sich Marović entschuldigt. Das allmählich wachsende neue Beziehungsgeflecht zwischen den Staaten des ehemaligen Jugoslawien dient vor allem dem wirtschaftlichen Austausch. Die internationale Gemeinschaft hat an diesen Entwicklungen keinen Anteil.

Es hat sich einiges geändert, auch die Nationalisten des Jahres 2004 sind nicht dieselben wie die von 1991. Der derzeitige kroatische Ministerpräsident und HDZ-Vorsitzende Ivo Sanader legt Wert darauf, dass die „neue“ HDZ von den nationalistischen Exzessen der 1990er-Jahre nichts mehr wissen will. Sanader selbst pflegt seine Kontakte zu wichtigen konservativen Politikern in anderen europäischen Ländern; und seine Partei ist inzwischen Mitglied der Europäischen Volkspartei.

Sanader wird es übrigens bestimmt leichter haben, kroatische Angeklagte an das Haager Tribunal zu überstellen, als sein sozialdemokratischer Vorgänger. Denn ihm kann keiner den Vorwurf machen, ein „schlechter Kroate“ zu sein. Und etwas Kooperationsbereitschaft könnte sich für die neuen Machthaber in Zagreb durchaus auszahlen – als Argument für Beitrittsverhandlungen mit der EU noch bis 2007, wenn Bulgarien und Rumänien aller Voraussicht nach der EU beitreten werden, oder spätestens bis 2009 oder 2010. Kroatien müsste dann nicht auf die übrigen Staaten des westlichen Balkan warten, also auf Albanien und die Staaten des ehemaligen Jugoslawien mit Ausnahme Sloweniens, das bereits ab Mai 2004 EU-Mitglied sein wird. Die „neue“ HDZ hat somit klare Ziele, und sie weiß, wie sie zu erreichen sind. Es dürfte Sanader daher nicht schwer fallen, seine Kritiker zum Schweigen zu bringen.

Die demokratischen Parteien in Serbien und Bosnien-Herzegowina setzen zwar ebenfalls auf Europa; doch anders als die Kroaten können sie ihre Hoffnungen nicht auf konkrete Zielvorgaben stützen. Auf dem EU-Gipfel in Saloniki im Juni 2003 wurde zwar die europäische Perspektive der westlichen Balkanländer eigens betont. Doch ein konkreter Zeitplan für Beitrittsverhandlungen, selbst in ferner Zukunft, wurde nicht vorgelegt. Wenn Europa so weit in die Ferne rückt, wird man die Menschen nur schwer für die Perspektive eines EU-Beitritts begeistern können. Folglich wird man auch schwer eine reibungslose Kooperation mit dem Haager Tribunal propagieren können.

Was Serbien und Bosnien-Herzegowina anbelangt, so ist eine europäische Perspektive erst denkbar, wenn Klarheit über die künftigen staatlichen Strukturen dieser Länder besteht. In der Absicht, den Kosovokonflikt zunächst einmal einzufrieren, hat die EU die Schaffung eines Staatenbundes Serbien und Montenegro durchgesetzt, der an die Stelle der alten Bundesrepublik Jugoslawien getreten ist. Am 5. Februar 2003 trat die Verfassung dieses Staatenbundes in Kraft – zunächst nur für drei Jahre. Die Tatsache, dass es sich dabei um eine „befristete Neugründung“ handelt, blockiert alle Reformversuche in beiden Republiken. Wie soll man eine europäische Perspektive entwickeln, wenn ungewiss ist, ob Serbien und Montenegro den Weg nach Europa vereint oder getrennt gehen werden, und wenn der endgültige Status des Kosovo ungeklärt bleibt4 ?

In Bosnien-Herzegowina ist derweil der Dayton-Vertrag nicht mehr tabu. Im Januar hat der unabhängige Think Tank „European Stability Initiative“ eine radikale Umgestaltung der im Vertrag festgelegten Institutionen vorgeschlagen.5 An die Stelle zweier weitgehend autonomer „Entitäten“ – der Bosniakisch-Kroatischen Föderation und der Serbischen Republik – sollen zwölf Kantone treten. Die Serbische Republik wäre einer dieser Kantone, ebenso wie die Stadt Brcko, die laut Dayton-Vertrag einen Sonderstatus hat.6 Dieser Vorschlag löste jedoch einen Aufschrei der Empörung bei serbischen, kroatischen und muslimischen Nationalisten aus.

Die drei nationalistischen Parteien, die 2002 wieder an die Macht gelangt sind – die Partei der Demokratischen Aktion (SDA), die Serbische Demokratische Partei (SDS) und die bosnisch-kroatische HDZ –, blockieren alle Reformen, die ihr Machtmonopol bedrohen könnten. Einzelne Veränderungen sind nur möglich, wenn der Hohe Repräsentant der internationalen Gemeinschaft in Bosnien-Herzegowina sie durchzusetzen hilft. Paddy Ashdown musste sich jedoch bereits den Vorwurf gefallen lassen, er agiere wie ein Kolonialherrscher. Wenn aber die internationale Gemeinschaft die bosnischen Politiker derart entmündigt,7 dann bringt dies Auftrieb für Demagogen und Stimmengewinne für die nationalistischen Parteien.

So sind es paradoxerweise gerade die internationalen Protektorate, die der Einbindung der Balkanstaaten in die EU im Wege stehen. Wir stehen also vor einer traurigen Bilanz: Acht Jahre nach dem Dayton-Friedensvertrag und fünf Jahre nach den Nato-Bombardierungen im Frühjahr 1999 hat die internationale Gemeinschaft immer noch kein plausibles, realistisches Konzept zur Entwicklung der Region.

Der Einsatz europäischer Polizeieinheiten in Mazedonien und Bosnien-Herzegowina signalisiert ein verstärktes Sicherheitsengagement der EU. Dieses dürfte umso wirksamer werden, je mehr die Nato ihr Engagement zurückfährt. Doch in Mazedonien, im Kosovo und selbst in Montenegro ist die Gefahr bewaffneter Konflikte noch nicht vorbei. Europa übernimmt also eine große Verantwortung, ohne allerdings ein überzeugendes Gesamtkonzept vorzuweisen.

Wenn Sanader es fertig bringt, seine Versprechen einzulösen, könnte es zumindest Kroatien gelingen, die Misere der westlichen Balkanländer zu überwinden. Die anderen Staaten der Region drohen dagegen zu einer unterentwickelten Enklave mitten in der EU zu werden. So darf man sich nicht darüber wundern, dass die Nationalisten weiter an Einfluss gewinnen. Zumal ihre Länder von Korruption und organisierter Kriminalität zersetzt werden, was wiederum dazu führt, dass ihre Bürger – durch den„europäischen Traum“ angelockt – als illegale Einwanderer in die EU-Länder drängen.

deutsch von Patrick Batarilo

* Journalist; Chefredakteur des Courrier des Balkans, Belgrad; Internetportal: www.balkans.eu.org; informiert seit 1998 in französischer Sprache über Entwicklungen auf dem Balkan; insbesondere sind dort Übersetzungen von Artikeln aus den Print- und Online-Medien der verschiedenen Balkanstaaten zu finden.

Fußnoten: 1 Die SRS – lange Zeit Koalitionspartner von Milosevic – unterhält enge Beziehungen zu rechtsextremen Parteien wie dem Movimento Sociale Fiamma Tricolore in Italien und dem Front National in Frankreich. 2 Vgl. www.balkans.eu.org/article2214.html 3 Predrag Matvejevic, Vidosav Stevanovic, Zlatko Dizdarevic: „Ex-Yougoslavie: les seigneurs de la guerre“, L’Esprit des péninsules, Paris, 2001. 4 Jean-Arnault Dérens: „Flugzeug ohne Pilot“, Le Monde Diplomatique, Dezember 2003. 5 www.esiweb.org/reports/bosnia/show/document.php?document_ID=48 6 Im Dayton-Vertrag ist festgelegt, dass ein Schiedsgericht darüber zu entscheiden hat, ob Brcko zur Bosniakisch-Kroatischen Föderation oder zur Serbischen Republik gehören soll. 1999 wurde Brcko als so genanntes Kondominium beiden Teilstaaten zugesprochen. 7 Christophe Solioz und Svebor Dizdarevic (Hg.): „Ownership Process in Bosnia and Hercegovina. Contributions on the International Dimensions of Democratization in the Balkans“, Baden-Baden (Nomos) 2003.

Le Monde diplomatique vom 12.03.2004, von JEAN-ARNAULT DÉRENS