12.03.2004

Das Herz von Kurdistan

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Das Herz von Kurdistan

Die meisten Kurden träumen von einem unabhängigen Staat. Aber ihre Führung denkt realpolitisch und begnügt sich mit der Perspektive der Autonomie in einem föderativen Irak.

Von MICHEL VERRIER *

KURDISTAN wurde bereits im ersten Golfkrieg 1991 von der Herrschaft Saddam Husseins befreit. Seine Bewohner haben daher den Irakkrieg des vergangenen Jahres anders als der Rest des Landes erlebt. Zwischen April und Dezember 2003 bekamen Reisende, die von der iranischen Grenze durch Kurdistan in die Türkei fuhren, fast keinen GI zu Gesicht. Die US-Einheiten waren erst in Kirkuk und Mossul zu sehen, den beiden größten Städten im Norden des Irak, die im April 2003 von den kurdischen Peschmergas eingenommen wurden. Unmittelbar danach fielen auch die Blockaden im Straßendorf Chamchamal, die seit über einem Jahrzehnt den Kurden den Zugang zum übrigen Irak abgeschnitten hatten.

Chamchamal ist von Hügeln umgeben. Hier waren seit 1991 Einheiten der irakischen Armee stationiert. „Wir lebten in dauernder Angst, weil uns die Soldaten regelmäßig beschossen. Das ist heute vorbei“, sagt Salah Hussein erleichtert. Im April waren die Straßen des Ortes noch wie leer gefegt. Ende November rasten schon die Kinder mit ihren Fahrrädern die steilen Gassen hinunter.

„Uns Kurden hat der Krieg genützt. Wir sind der Vernichtungspolitik der Baath-Partei entkommen, und etwas Schlimmeres werden wir wohl nie erleben“, sagt Salah Ismail, der auf dem höchst belebten Markt des Ortes einen Laden für Haushaltswaren betreibt. Salah würde gerne „nach Hause“ – in seine Heimatstadt Kirkuk – zurückgehen. Wie viele andere Kurden wurde auch seine Familie im Zuge der so genannten Arabisierungspolitik von Saddams Baath-Partei aus der mehrheitlich kurdischen Ölhauptstadt im Norden vertrieben und in Chamchamal angesiedelt. Doch im Augenblick, sagt Salah, „ist es dort oben noch zu gefährlich“.

Kirkuk macht den Eindruck, als wäre die Sicherheit für die Menschen nicht mehr das größte Problem. Seit zwölf Jahren kontrollieren die Milizen der Patriotischen Union Kurdistans (PUK) und der Kurdischen Demokratischen Partei (KDP) die Region. „Die Bevölkerung arbeitet mit den Ordnungskräften zusammen“, sagt Salah. „Wenn jemandem etwas merkwürdig vorkommt, meldet er es sofort der Polizei.“ Auch Terroranschläge waren bis zum 1. Februar kaum ein Thema. Mit den zwei Selbstmordattentaten, die in Erbil während des Aid-Festes über hundert Menschen getötet haben, ist dieses Vertrauen erschüttert.1 Doch letztendlich wurden diese Anschläge als Aggression von außen wahrgenommen. Sie haben die Identität und das Selbstbewusstsein der Region eher gefestigt als untergraben.

Suleymaniye ist die Hochburg der PUK und ihres Vorsitzenden Jalal Talabani. Hier hat der Sturz Sadddam Husseins zu einer Renaissance des kurdischen Nationalismus geführt. Hier wird einem ganz selbstverständlich versichert, dass sich die Menschen der Stadt „einem Kurden in der Türkei oder im Iran näher fühlen als einem Araber in Bagdad“. Dass PUK-Chef Talabani seit vielen Jahren auf eine besonders enge Allianz mit Ajatollah Mohammed al-Hakim setzt, dem Anführer der Schiiten-Partei „Oberste Versammlung der Islamischen Revolution in Irak“ (Asrii), betrachten viele seiner Bürger mit Skepsis.

„Die Araber stellen für die anderen eine Gefahr dar – also für die so genannten Minderheiten und für deren Freiheiten. Uns gegenüber haben sie sich jedenfalls wie eine Kolonialmacht aufgeführt“, ereifert sich Khalid H. Gharib, der im Intellektuellencafé von Suleymaniye eine kleine Bibliothek betreut. „Doch wenn die Schiiten zu viel Macht erhalten, werden sie sich genauso verhalten. Es gibt keine andere Lösung: Die Kurden brauchen ihren eigenen Staat.“ – „Keiner unserer Nachbarn würde heute ein unabhängiges irakisches Kurdistan akzeptieren“, widerspricht Rezza Ahmed, ein athletisch gebauter Süßwarenhändler. „Wir wären in unseren Bergen eingezwängt. Ein vereinter und demokratischer Irak wäre fürs Erste die beste Lösung.“

Mossul ist eine Großstadt nahe der syrischen und türkischen Grenze. Für den neuen Irak ist die Stadt in vieler Hinsicht ein Modell, und wahrscheinlich wird sich hier zeigen, ob Kurden und Araber willens und fähig sind, das Land gemeinsam wieder aufzubauen. Von den Einwohnern Mossuls sind 40 Prozent Kurden, 10 Prozent Turkmenen und 50 Prozent Araber. Von hier stammen auch viele Offiziere der alten irakischen Armee, und das ehemalige Regime Saddam Husseins ist in dieser Stadt politisch und familiär verwurzelt.

„Die Araber haben uns wirklich sehr schlecht behandelt“, sagt der Englischlehrer Omar Azzo. Er ist Kurde und Mitglied der PUK. Im Jahr 2000 musste er aus Mossul fliehen und ist erst vor kurzem wieder in seine Heimatstadt zurückgekehrt. Wie Azzo meint, haben die Araber Saddam Hussein bis in die 1980er-Jahre hinein unterstützt. Erst mit dem Krieg gegen den Iran, dem Golfkrieg von 1991 und der immer weiter um sich greifenden Unterdrückung habe sich ihre Einstellung allmählich verändert. Viele Araber wurden selbst zu Verfolgten. Sie mussten vor dem Regime fliehen und entkamen häufig nach Kurdistan, erzählt Azzo: „Wir Kurden haben ihnen in dieser Notlage menschlich und finanziell geholfen. Unter anderem ist es das, was heute eine Allianz zwischen Arabern und Kurden ermöglicht.“

Kairy Hassan ist ein Mann in den Sechzigern mit rundem Gesicht, ziemlich kahlem Kopf und zahnlosem Mund. Hassan ist Vorsitzender der Wohlfahrtspartei, einer von vielen arabischen Kleinparteien, die neben kurdischen, turkmenischen und assyrisch-christlichen Initiativen die Renaissance des politischen Lebens in Mossul ausmachen. Hassan ist Sunnit und von Beruf Lehrer. Anfang der 1950er-Jahre war er ein Gründungsmitglied der Baath-Partei. „Wir wollten eine neue volksnahe Partei gründen, die für die Menschen da sein sollte.“ Als Saddam Hussein und sein Clan die Macht an sich rissen, kam es zur Spaltung der Baath, und Hassan trat dem prosyrischen Flügel bei. 1969 kam er ins Gefängnis und wurde gefoltert. Seitdem hat er keine Zähne mehr. „Die Existenz von Kurden und anderen Ethnien bedroht die Einheit des Irak nicht“, behauptet Hassan. „Das Problem war die Baath-Führung, die Gewalt gegen das eigene Volk anwandte.“

Er ist überzeugt, die PUK strebe keinesfalls die Unabhängigkeit Kurdistans an. „Ihre Anführer sagen klar und deutlich, dass sie sich als Teil des irakischen Volkes verstehen.“ Hassan selbst wünscht sich einen vereinten Irak, in dem die Unterschiede zwischen Kurden, Arabern und Turkmenen keine Rolle spielen. „Der Irak den Irakern“, heißt seine Losung.

Eine solche Entwicklung wird von der 101. Luftlandedivision der US-Armee nicht unbedingt gefördert. So hat Generalmajor David H. Petraeus das Amt des Gouverneurs an Ghanem al-Basso vergeben – einen ehemaligen General der irakischen Armee, der bis 1993 auch ein hochrangiger Baath-Funktionär war. Und al-Basso hat offenbar dafür gesorgt, dass die alte Baath-Bürokratie nach wie vor die administrativen Schlüsselpositionen besetzt.

Am 1. Januar kündigte Generalmajor Petraeus zwar an, er werde ein Dutzend ehemaliger Baath-Anführer der Justiz übergeben. Auch die Verhaftung Saddam Husseins am 13. Dezember war für dessen letzte Anhänger ein schwerer Schlag. Doch gleichzeitig haben die alten Eliten den Wunsch, „aktiv an der Gestaltung des neuen Irak mitzuwirken“, wie der Kommandant der 101. Division betont. Dazu passt auch, dass über tausend ehemalige Mitarbeiter und Offiziere der alten Geheimdienste an den merkwürdigen Abschwörungszeremonien teilgenommen haben, die am 26. Januar von der US-Besatzungstruppe veranstaltet wurden.2

In diesem Umfeld gelingt es auch den fundamentalistischen arabischen Wahhabiten, ihren Einfluss in den nördlichen Vierteln von Bagdad auszubauen. Mahdy al-Shamary zum Beispiel versichert mit leuchtendem Blick, er wolle keinesfalls von Schiiten regiert werden: „Das lässt meine Tradition nicht zu. Letzten Endes können nur die sunnitischen Araber dieses Land beherrschen. Sie sind mit den Kurden durch die Religion verbunden und mit den Schiiten, weil die auch Araber sind.“

„Das hat die Propaganda von Saddam immer behauptet“, kontert Mohahfak al-Rubai, ein ehemaliger Politiker der Islamistenpartei al-Dawa, der lange im Londoner Exil gelebt hat und heute Mitglied des provisorischen Regierungsrates in Bagdad ist. „Aber das Gegenteil ist richtig: Nur eine Allianz aus Kurden und Schiiten, die gemeinsam die Mehrheit stellen, kann die Einheit des Irak bewahren. Ohne einen demokratischen Irak können wir unmöglich zusammenleben.“ Bleibt die Frage, wie das aussehen soll.

Eine kärglich eingerichtete Villa in Kirkuk beherbergt das Regionalbüro der Sozialistischen Partei der Nasser’schen Avantgarde, an der Wand hängt das Porträt des ehemaligen ägyptischen Präsidenten. Vorsitzender der Partei ist ein hochmütig dreinblickender Mann namens Sayed Kamal Muhamad, der seit den 1960er-Jahren gegen die Baath-Partei gekämpft hat und 1991 erstmals Kontakte zu den Kurden knüpfte. „Wir haben gelitten wie sie. Die Kurden gehören zum irakischen Volk. Wir wünschen uns Freiheit für alle, und die Kurden können wählen, wen sie wollen.“ Für Muhamad gibt es allerdings keinen Unterschied zwischen der „irakischen Nation“ und der „arabischen Nation“ – eine Auffassung, die jedem solcherart „arabisierten“ Kurden den Hals schwellen lassen würde. „Wir haben nichts gegen die Araber“, betont Muhamad Karim Rasul, ein 50-jähriger Gastwirt. „Wir wollen mit ihnen leben. Aber im Irak der Zukunft werden die Kurden auf einer föderalen Verfassung bestehen. Wir werden unsere eigene autonome Region haben, mit Kirkuk als Hauptstadt.“

Auch Abdul Rahman Mustafa Fata, der neue Gouverneur von Kirkuk, ist Kurde. Zu seinen wichtigsten Aufgaben gehört es, ethnische Auseinandersetzungen jeder Art zu entschärfen. „Ob Kurden, Araber, Turkmenen oder Assyrer: Ich muss alle vertreten“, sagt er. Und: „Wir hoffen, dass uns hier etwas gelingen wird, was Jugoslawien nicht geschafft hat: ein friedliches Zusammenleben verschiedener Völker.“

„Kirkuk, Kirkuk, das Herz von Kurdistan!“ Tausende Kurden waren am 22. Dezember letzten Jahres dem Aufruf von PUK und DKP zu einer Demonstration gefolgt, mit der sie die Autonomie forderten. Aber schon tags darauf kam es auf dem Campus der Universität zu Zusammenstößen, in denen arabische und turkmenische Studenten gegen ihre kurdischen Kommilitonen standen. Auslöser der Gewalt war wahrscheinlich die Weigerung der Kurden, das Hissen einer irakischen Fahne zuzulassen. Neun Tage später artete eine arabisch-turkmenische Gegendemonstration zu einer Straßenschlacht vor dem Sitz der PUK aus, bei der mindestens sechs Menschen starben. Diese Kundgebung war Ausdruck einer bizarren Allianz: Nostalgische Saddam-Anhänger aus den „arabisierten“ Dörfern rund um Kirkuk marschierten mit ihren Porträts des Diktators neben Vertretern der radikalen Schiiten unter Ajatollah Muqtada al-Sadr. Mit von der Partie war auch die militante Gruppe der Turkmenischen Irakischen Front, eine von Ankara gesteuerte und auch unter den Turkmenen selbst umstrittene Organisation.

Erfa Irafam Karkukli ist Generalsekretär der Volkspartei Irakischer Turkmenen und Vizegouverneur von Kirkuk. Auch er betont, dass er mit dieser Front „nichts zu tun haben will“. Denn jeder wisse doch, „dass es den Turkmenen während der letzten zehn Jahre kurdischer Autonomie in Kirkuk besser ging als zu Saddams Zeiten“. Im Übrigen hätten Kurden und Turkmenen, als Opfer der Arabisierungspolitik des alten Regimes, „ein unveräußerliches Rückkehrrecht“. Was die Araber betrifft, die aus dem Süden kamen und sich die Häuser und Felder der Vertriebenen aneigneten, so ist Karkukli der Meinung: „Die müssen dorthin zurück, wo sie herkamen.“ In diesem Fall wäre Kirkuk ohne Zweifel wieder eine Stadt mit mehrheitlich kurdisch-turkmenischer Bevölkerung.

Über die künftige Verfassung des Irak wird unterdessen in Bagdad verhandelt. Innerhalb des Provisorischen Regierungsrats, in dem Kurden und Schiiten dominieren, gilt eine föderale Verfassung zwar längst als beschlossene Sache. Kurdistan wäre dann für den Irak etwa das, was Schottland heute für Großbritannien ist.3 Doch je länger die Einigung über das föderale Modell auf sich warten lässt, umso mehr heizt sich der Nationalismus der Kurden weiter auf. „Wir stehen vor der größten Herausforderung, mit der wir jemals konfrontiert waren“, sagt Ahmed Bamani, der die PUK lange Zeit in Paris vertreten hat. „Und es gibt kaum jemanden, der uns Erfolg wünscht.“

deutsch von Herwig Engelmann

* Journalist

Fußnoten: 1 Zu den Attentaten bekannte sich eine Gruppe aus dem Umfeld der Ansar al-Islam, die mit al-Qaida verbunden ist und schon vor dem Krieg in der Gegend von Halabja im irakischen Kurdistan aufgebaut wurde. 2 Jeder musste bei Gott schwören, den Irak zu beschützen und wieder aufzubauen. Anschließend musste er die Versicherung ablegen: „Ich unterhalte zur Baath-Partei keinerlei Verbindung und werde ihr auch nie wieder beitreten. Von jetzt an bin ich unabhängig. Gott sei mein Zeuge.“ 3 Siehe www.kdp.info.

Le Monde diplomatique vom 12.03.2004, von MICHEL VERRIER