12.03.2004

Land ohne Zentrum

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Land ohne Zentrum

WÄHREND George W. Bush das Ende der Besatzung für den 30. Juni 2004 ankündigt, hält die UN einen Wahltermin frühestens zum Jahresende für realistisch. Wer aber soll dann nach dem 1. Juli das Land regieren? Der provisorische Regierungsrat genießt nur höchst begrenzte Autorität. Und er hatte große Schwierigkeiten, sich auf einen Verfassungsentwurf zu einigen. Auch das stärkt den Widerstand, in dem freilich viele disparate Strömungen mit unterschiedlichen Aktionsformen und Zielen zusammenwirken – und gegeneinander arbeiten.

Von PAUL-MARIE DE LA GORCE *

Ein Jahr nach Beginn des Irakkriegs, dessen offizielles Ende US-Präsident George W. Bush am 1. Mai 2003 verkündet hatte, zeigt sich Tag für Tag, dass ein irakischer Widerstand existiert. Der seinerzeit als unbestreitbar und unwiderruflich gefeierte Sieg der Vereinigten Staaten ist damit ganz offen in Frage gestellt. Das Kriegsende erwies sich als Startschuss für einen weiteren Krieg, dessen Dauer und Ausgang sich angesichts seiner komplexen politischen, militärischen, sozialen und auch internationalen Zusammenhänge nicht vorhersehen lässt. Wie ist es zu dieser Entwicklung gekommen?

Mit zeitlichem Abstand lässt sich leichter erkennen, welche Konsequenzen die Entscheidungen der US-Administration vor und unmittelbar nach dem Krieg für den Irak haben mussten. Washington hat, wiewohl die immer noch anhaltende Auseinandersetzung über die Rechtfertigungsgründe der US-Regierung es nicht vermuten lässt, aus seinen politischen, strategischen und wirtschaftlichen Zielen nie einen Hehl gemacht. Von Anfang an wollte Washington drei Absichten verwirklichen: erstens das Regime Saddam Husseins durch eine US-freundliche Regierung ersetzen, zweitens die strategische Einkreisung des Iran und der Gesamtregion Syrien/Libanon/Palästina komplettieren und drittens einen direkten Zugriff auf die Förderung und Vermarktung des immensen irakischen Erdölreichtums erlangen. Das letzte Ziel war auch deshalb so wichtig, weil die Abhängigkeit von Saudi-Arabien begrenzt werden sollte, das in Washington seit den Anschlägen vom 11. September 2001 nicht mehr als zuverlässiger Bündnispartner gesehen wird.

So freimütig die US-Administration ihre Zielsetzungen vor Kriegsbeginn offen legte, so wenig suchte sie zu verheimlichen, welche Schlussfolgerungen sich daraus ergaben: Der Irak sollte in einen weitgehend föderal gegliederten, entmilitarisierten Bundesstaat mit einer möglichst schwachen Zentralregierung umgebaut werden. Umfassende Selbstverwaltungsrechte waren für die drei großen ethnisch-religiösen Gemeinschaften vorgesehen, für Kurden, Sunniten und Schiiten. Wegen der in vielen Regionen gemischt lebenden Bevölkerung führte die anvisierte Aufteilung allerdings zu anhaltenden Kontroversen. So siedelt im Norden des Landes nicht nur eine kurdische, sondern auch eine arabischsprachige Bevölkerung, während in Bagdad sowohl Sunniten als auch Schiiten leben.1

Dass die US-Regierung gleichwohl an ihrem einmal gefassten Plan festhielt, hat zweierlei Gründe: Zum einen musste sie sich der Unterstützung der beiden wichtigsten kurdischen Parteien versichern – und die forderten Autonomierechte, die einer Unabhängigkeit möglichst nahe kommen sollen. Zum anderen glaubten die USA, die schiitische Gemeinschaft werde ihnen einen freundlichen, wenn nicht gar „begeisterten“ Empfang bereiten. Es bedurfte also offenbar einer föderalen Lösung, um den Ansprüchen der Kurden wie der Schiiten gerecht zu werden.

Die Nachkriegsentwicklung hing vom Erfolg dieses Unterfangens ab. Was sich unmittelbar nach Kriegsende vollzog, war nichts anderes als die Zerstörung des irakischen Zentralstaats. Streitkräfte und Polizei wurden mit sofortiger Wirkung aufgelöst, und die Besatzungstruppen unternahmen nichts, um die Plünderung der meisten irakischen Ministerien und Verwaltungsbehörden zu unterbinden. Im Anschluss daran setzten die USA eine Interimsregierung ein, die sich unfähig zeigte, das Land in den Griff zu bekommen.

In diesem Provisorischen Regierenden Rat sitzen hauptsächlich Politiker, die lange im Exil gewesen waren, und Vertreter von Parteien, die mit Ausnahme der beiden großen kurdischen Formationen keinen Rückhalt in der Bevölkerung mehr haben. Der Rat erhielt auch keine Instrumente, um seine Funktionen effektiv wahrnehmen zu können.

Unabhängige und weitsichtige Köpfe gaben sich in dieser Hinsicht auch keinerlei Illusionen hin. Die ehemalige Stellvertreterin von Exaußenminister Tarik Asis, die schiitische Diplomatin Aquila al-Hachami, akzeptierte einen Sitz im Rat, um beim Wiederaufbau der internationalen Beziehungen des Irak mitzuhelfen, und wohl auch, um das Personal ihres Ministeriums zu schützen. Während eines Besuchs in Paris äußerte sie die Auffassung, der Provisorische Regierende Rat werde, solange die US-Besatzungstruppen im Land stünden, „keinerlei Autorität und keinerlei Legitimität“ besitzen. Deshalb müsse der Rat darauf hinwirken, einen möglichst baldigen Abzug zu erreichen. Unmittelbar nach ihrer Rückkehr wurde auf al-Hachami in Bagdad ein Attentat verübt, zwei Tage später erlag sie ihren Verletzungen.

Der wichtigste Faktor, der die künftige Entwicklung bestimmt, ist der zerrüttete Zustand des Landes. Zwölf Jahre Wirtschaftsblockade haben den Irak wirtschaftlich wie sozial ausgeblutet. Für die Bevölkerung hatte das fürchterliche Folgen, wobei noch die Zerstörungen des Krieges hinzukamen. Es dauerte Monate, bis die daraus entstehenden Probleme für den Alltag angegangen wurden, aber beseitigt sind sie bis heute nicht. In weiten Landesteilen fehlten die drei wichtigsten Dinge: Benzin, Strom und Arbeit. Die wenigen Fortschritte, die seither auf diesen Gebieten erzielt worden sind, können nichts daran ändern, dass die Bevölkerung in ihrer überwiegenden Mehrheit noch immer in erbärmlichen Verhältnissen lebt.

Die Besatzungsmacht unternahm nichts, um den Wiederaufbau der irakischen Wirtschaft voranzutreiben. Und sie tat nicht viel mehr, um das Land politisch wieder auf eigene Beine zu stellen. Man stützte sich weder auf die nationalistischen Bewegungen, die nach der Revolution von 1958 bis zur Errichtung einer monolithischen Diktatur immerhin einen gewissen Teil der irakischen Öffentlichkeit repräsentiert hatten, noch auf Gewerkschaften, die diesen Namen verdienen. Ausschließlich als Gegner wurde das Offizierskorps der Armee betrachtet, das den irakischen Patriotismus verkörperte und ebenfalls unter der Repression des Saddam-Regimes zu leiden hatte.

Angesichts dessen kann man ohne Übertreibung sagen, dass die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen für das Entstehen von Widerstandsgruppen bereits unmittelbar nach Kriegsende gegeben waren. Ob das auch für die militärischen Voraussetzungen galt, war zunächst offen. Die ersten Widerstandsaktionen machten noch vor Beginn des Sommers Schlagzeilen, erfolgten also viel früher als erwartet. Als Verantwortliche machte der US-Geheimdienst Anhänger Saddam Husseins und ausländische islamistische Terrorgruppen aus dem Umfeld von al-Qaida aus.

Diese Analyse der Geheimdienste hält einer näheren Prüfung nicht stand. Zwar mochten die Anhänger Husseins in dessen Heimatregion Tikrit einigen Rückhalt in der Bevölkerung finden. Es ist jedoch ziemlich unwahrscheinlich, dass der unpopuläre Expräsident eine Widerstandsbewegung, die sich rasch über das gesamte Land ausbreitete, initiieren oder gar dirigieren konnte. Es steht außer Zweifel, dass Hussein in den Augen des Widerstands als Spaltungsfaktor und Handikap wahrgenommen wurde. Und ebenso klar ist, dass der Widerstand mit Hussein im Gepäck schwerlich die Unterstützung in der Bevölkerung gefunden hätte, die er braucht, um handlungs- und überlebensfähig zu bleiben.

Was die aus dem Ausland kommenden Gruppen anbelangt, so ist ihre Anwesenheit auf irakischem Territorium nicht zu bestreiten. Nach der Parole „Alle in den Irak!“, die von der radikalsten islamistischen Bewegung des Nahen Ostens ausgegeben wurde, werden Leute in allen Ländern der Region rekrutiert und über die irakisch-saudische Grenze geschleust, um die US-Streitkräfte direkt zu attackieren. Die irakischen Widerstandsgruppen haben diese Leute in den meisten Fällen akzeptiert – nach dem Motto: Im Krieg darf man mit seinen Bündnispartnern nicht allzu wählerisch sein. Dennoch konnten sie im Land nur schwer Fuß fassen, da ihre religiösen Anschauungen und Verhaltensweisen sich kaum mit den Traditionen der irakischen Gesellschaft vereinbaren lassen.

Die wichtigste Gruppe des irakischen Widerstands entstand bereits kurz nach Kriegsende im Frühjahr 2003 und rekrutiert sich vorwiegend aus dem Militär. Als der Krieg in Bagdad zu Ende ging, verteilten sich die entschlossensten Offiziere mit ihren Gefolgsleuten über das ganze Land und tauchten in der Bevölkerung unter. An militärischer Ausrüstung nahmen sie außer leichten Waffen auch das übliche Infanteriegerät mit: Granatwerfer, Maschinengewehre und tragbare Panzerabwehrraketen, die ein Mann von der Schulter abfeuern kann. Diese ehemaligen Soldaten zogen sich in ihre Herkunftsregionen zurück. Die geografische wie die soziale Ausweitung des irakischen Widerstands war mithin ebenso voraussehbar wie das kurz- oder mittelfristige Übergewicht seines militärischen Personals.

Die Angriffe auf US-Militärkonvois, leichte Panzerverbände, den Sitz des Generalstabs, Kommandoposten, Hubschrauber und mitunter auch tief fliegende Flugzeuge gehen allesamt auf ihr Konto, denn nur Soldaten sind für solche Aktionen ausgebildet und verfügen über das nötige Gerät. Auch gelingt es dem früheren irakischen Militär leicht, Männer in die von den US-Truppen aufgestellten Polizeieinheiten einzuschleusen. Das geschieht zum einen, um über deren Aktivitäten informiert zu sein, zum anderen, um sie zur Zielscheibe besonders zerstörerischer Aktionen mit hoher Abschreckungsfunktion zu machen.

Auch die ausländischen Gruppen setzen, wie sie es auch an anderen Orten schon vorgeführt haben, auf möglichst spektakuläre Aktionen, die keinerlei Rücksicht auf die Bevölkerung nehmen. So war es in Nairobi, und so war es in Daressalam und auf Bali. Ganz auf dieser Linie liegen auch die Angriffe auf den irakischen Sitz des Roten Kreuzes und der Vereinten Nationen. Da diese Gruppen ihr Geld und ihre Munition wahrscheinlich aus dem Ausland beziehen, sind weitere Aktionen dieser Art zu erwarten. Diese ausländischen Kräfte haben zwar bei irakischen Islamisten, die sie kontaktierten, durchaus Sympathien gefunden, doch wegen der zahlreichen Menschenleben, die sie auf dem Gewissen haben, schwindet ihre Popularität zusehends.

Was die geografische Ausweitung des Widerstands betrifft, so gibt es dabei die größten Probleme zweifellos in den kurdischen und schiitischen Regionen. Die beiden einflussreichsten kurdischen Parteien – die Demokratische Partei Kurdistans (DPK) und die Patriotische Union Kurdistans (PUK) – sind mit den USA verbündet, die seit zwölf Jahren die fast vollständige Autonomie der Region garantieren. Dabei ist allerdings keine der beiden Parteien völlig Herr der Lage. Zudem wird ihre Dominanz von einem Teil der durchaus nicht homogenen Bevölkerung abgelehnt. In Mossul und vor allem in Kirkuk besteht ein Großteil, wenn nicht die Mehrheit der Bevölkerung aus Turkmenen, Arabern und Assyrern. Diese Minderheiten wollen sich den kurdischen Machthabern nicht unterwerfen und sind daher ein natürlicher Nährboden des irakischen Widerstands, dem sich auch kleinere Kurdenorganisationen angeschlossen haben.

Die radikalislamistische Gruppe Ansar al-Islam, die in der Endphase des Saddam-Regimes Zulauf erhielt und vor allem die christlichen Gemeinschaften mit gewaltsamen Mitteln bekämpfte, wurde von den Luftangriffen der USA und Kommandoaktionen der DPK- und PUK-Milizen zerschlagen. Überdies ließ Teheran ihre Mitglieder nicht auf iranisches Territorium wechseln, sodass die Gruppe inzwischen auf einen winzigen Restbestand geschrumpft ist.

Dagegen sind im irakischen Kurdengebiet mit Unterstützung der Nachbarländer Iran, Türkei und Syrien eine Reihe anderer Organisationen entstanden, die die Autorität der beiden führenden Parteien aus unterschiedlichen Gründen nicht anerkennen und über einigen lokalen Rückhalt verfügen. Auch hier ist der Widerstand zu spektakulären Anschlägen wie dem vom 1. Februar 2004 in Erbil fähig, bei dem 105 Menschen ums Lebens kamen. Zwar bekannte sich zu dem Anschlag die radikalislamistische sunnitische Gruppe Ansar al-Sunna, doch die Formulierung des Bekennerschreibens lässt Zweifel an seiner Authentizität aufkommen.2

Die schiitische Gemeinschaft besitzt herkömmlicherweise keine einheitliche politische Vertretung. Seit der gewaltsamen Unterdrückung des Aufstands im Gefolge des Golfkrieg von 1991 stand sie bis auf wenige Ausnahmen in Opposition zum Regime Saddam Husseins. Auf der anderen Seite war der schiitische Süden auch die Wiege des irakischen Nationalismus, die Hochburg der wichtigsten nationalistischen Parteien, die Baath-Partei eingeschlossen. Auch die Kommunistische Partei besaß auf dem Höhepunkt ihres Einflusses gegen Ende der 1950er-Jahre im Süden ihren stärksten Rückhalt.

Derzeit zerfällt die schiitische Gemeinschaft in unterschiedliche Strömungen, wobei vorerst die konservativen politischen und religiösen Gruppen den Ton angeben. Als deren Spiritus Rector gilt Ajatollah Sistani, der seine Residenz in Nadschef nie verlässt und selbst schon Opfer von Anschlägen war. Sistani ist jedoch eher der Sprecher einer kleinen Gruppe von Führungspersönlichkeiten, die innerhalb der schiitischen Gemeinschaft, aber auch landesweit die Macht anstreben. Taktisch suchen sie ein gewisses Einvernehmen zu den Besatzungsbehörden. Strategisch berufen sie sich auf die Grundsätze der Demokratie und fordern die sofortige Abhaltung allgemeiner Wahlen. Ihr Ziel ist die Übernahme der Staatsgewalt mit Hilfe der zahlenmäß überlegenen schiitischen Gemeinschaft. Genau hier liegt das Problem, denn die Vereinigten Staaten wollen eine starke Zentralmacht unter allen Umständen verhindern. Deshalb stützt sich Washington auch auf die anderen Gemeinschaften, die jede Staatsform, in der die Schiiten ein erdrückendes Übergewicht hätten, mit Entschiedenheit ablehnen. Wer allerdings hinter den Anschläge vom 2. März steckt, bei dem in Bagdad und Kerbela mehr als 170 Pilger starben, die das schiitische Aschura-Fest begehen wollten, ist noch ganz unklar.

Im Übrigen bleibt die Strategie der mit dem Namen Sistani verbundenen konservativen Strömungen nicht unwidersprochen. Bereits im Sommer 2003 rief der junge Ajatollah Mochtada al-Badr zum Widerstand gegen die Besatzer auf. Dabei sprach er zwar noch nicht explizit vom bewaffneten Kampf, doch der Ton seiner Predigten erinnerte stark an die Aufrufe, mit denen die Pioniere des nationalen Widerstands zum sofortigen Kampf gegen das Besatzungsregime aufriefen. Demgegenüber verlangen die mit Teheran verbündeten Schiitengruppen Asrii und al-Dawa zunächst – wie die von Sistani inspirierten Organisationen – die Bildung einer nationalen Zentralregierung und den Abzug der US-Streitkräfte. In jüngster Zeit mehren sich jedoch die Anzeichen, dass sich auch diese Gruppen dem nationalen Widerstand anschließen und sich auf den Weg des bewaffneten Kampfs begeben.

Ein Rückzug wird den USA nichts nützen

GLEICHZEITIG tauchen auch die nationalistischen Bewegungen, die ihre Hochburg einst in der schiitischen Gemeinschaft hatten, nach langem Schweigen aus dem Untergrund auf. Dabei sind drei Strömungen zu unterscheiden, die an die Geschichte des irakischen Nationalismus anknüpfen, ihre Aktivitäten einstweilen jedoch möglichst klandestin organisieren: Da ist erstens eine als „panarabisch“ oder „nasseristisch“ geltende Strömung und zweitens eine kommunistische Strömung, die sich prononciert vom KP-Mainstream und den im Regierenden Rat sitzenden KP-Führern absetzt. Eine dritte Gruppe ist aus der Baath-Partei hervorgegangen und übt scharfe Kritik an Saddam Hussein: Er habe die Baath-Ideale verraten und nur noch die Interessen seines eigenen Clans verfolgt, das Land in absurden Kriegen ruiniert und die Einheit der arabischen Welt, die soziale Revolution und die Laizität abgeschrieben.

Die große Frage ist, wer den „Krieg nach dem Krieg“ gewinnen wird. Die Vereinigten Staaten jedenfalls scheinen angesichts des wachsenden Widerstands zu einem schrittweisen Rückzug entschlossen. Diese Strategie umfasst vor allem vier Punkte: erstens die Konzentration der Truppen in den wichtigsten Zentren und in den Erdölregionen; zweitens die Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung, deren Zusammensetzung Washington selbst unter Umgehung allgemeiner Wahlen bestimmt; drittens die Aufstellung örtlicher Polizeikräfte; viertens die Unterstützung durch ausländischen Truppenkontingente, die an die Stelle der abgezogenen US-Streitkräfte treten sollen.

Ob damit aber der gewünschte Zweck zu erreichen ist, ist fraglich. Der Truppenabzug aus einigen Landesteilen würde dem irakischen Widerstand ein freies Feld lassen und der von Washington installierten Regierung die Arbeit erschweren. Die örtliche Polizei würde jeden Rückhalt in der Bevölkerung verlieren. Und die ausländischen Ersatztruppen, die weder Land und Leute noch die Landessprache kennen, würden sich, wie schon die heute eingesetzten Kontingente, mehr und mehr in ihren Stellungen verbarrikadieren.

Die Amerikaner könnten sich in diesem Szenario nur noch auf die traditionalistisch-konservative Strömung unter den Schiiten stützen, die außerhalb Kurdistans die einzige Kraft darstellt, der an einem Einvernehmen mit Washington gelegen ist. Überaus bezeichnend ist in diesem Zusammenhang ein neuerer Beschluss des Provisorischen Regierenden Rats. Der verabschiedete kürzlich mit knapper Mehrheit eine Novellierung des Familienstatuts von 1959 – eines der fortschrittlichsten in der arabischen Welt – zugunsten einer mehr oder weniger strikten Anwendung der Scharia. Das letzte Wort hat zwar wie immer der örtliche Vertreter der US-Administration, Paul Bremer. Doch wie sämtliche irakische Zeitungen mit gutem Grund versicherten, wäre es ohne dessen mehr oder weniger diskretes Einverständnis nie zu diesem Abstimmungsergebnis gekommen.

Die Sackgasse, in der sich die US-amerikanische Besatzung befindet, sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die irakischen Widerstandsgruppen vor gewaltigen Schwierigkeiten steht. Die Erschöpfung des Waffen- und Munitionsvorrats, auf die Experten ab und zu hinweisen, ist dabei nicht das Hauptproblem, denn an illegalen Bezugsquellen ist in der Region gewiss kein Mangel. Ein erschwerender Faktor könnte in Zukunft jedoch die interne Zersplitterung des Widerstands werden. Differenzen sind zur Genüge vorhanden: zwischen Islamisten und modernen Laizisten, zwischen inländischen Kräften, die sich aus allen Schichten der Bevölkerung rekrutieren, und ausländischen Gruppen, deren politisch-religiöse Ideologie vom irakischen Patriotismus denkbar weit entfernt ist, aber auch Widersprüche, die auf Rivalitäten vor allem innerhalb der schiitischen Gemeinschaft zurückgehen.

Führer von Widerstandsgruppen verkünden mittlerweile, die Bildung einer Einheitsfront aus allen Widerstandsgruppen werde nicht mehr lange auf sich warten lassen. Bei dieser Prophezeiung fragt sich nur, ob diese Leute besser informiert oder nur optimistischer als andere sind.

deutsch von Bodo Schulze

* Journalist, Autor von „Dernier Empire“, Paris (Grasset) 1996.

Fußnoten: 1 Siehe unter anderem die Tagungen des American Enterprise Institute von Mitte November 2002 und Januar 2003, den Vorschlag des Council On Foreign Relations zur Schaffung von 18 Provinzen sowie den Bericht „Post-Saddam Scenario“ von Robert D. Kaplan. 2 AFP, 4. Februar 2004.

Le Monde diplomatique vom 12.03.2004, von PAUL-MARIE DE LA GORCE