12.03.2004

Hammer, Sichel, Breschnew-Beat

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Hammer, Sichel, Breschnew-Beat

DIE Wahlen am 14. März markieren einen Wendepunkt in der politischen Entwicklung Russlands, eben weil sie bestimmt keine Wende bringen werden. Putins Sieg steht längst fest, und so hat der alte und neue Staatspräsident die Aufgabe, die nächste Runde der kapitalistischen Entwicklung einzuläuten: Erwartet werden von ihm die Eindämmung der Oligarchenherrschaft, eine Umverteilung des Reichtums, ein Umbau des sozialen Sektors und die Rückkehr Russlands zu alter Größe. Diese Forderungen sind begleitet von einer Aufwertung der Sowjetzeit, über die sich die Wirtschaftsliberalen lustig machen, nichts als „Sowjetnostalgie“ sei das, und die werde sich schon von allein erledigen. Doch es geht um mehr.

Von JEAN-MARIE CHAUVIER *

Jeder in Russland kennt die Statue von Vera Muchina, und sei es aus dem Fernsehen: Ein Arbeiter und eine Kolchosbäuerin stehen überlebensgroß mit ausgestrecktem Arm – er reckt den Hammer gen Himmel, sie die Sichel – am Eingang des Moskauer Messegeländes und schreiten erwartungsvoll der lichten Zukunft entgegen. Das Denkmal gehörte ehedem zu den Wahrzeichen der Sowjetunion.1 Vor kurzem wurde es abgebaut, nicht etwa, um es zu entsorgen, sondern um es zu restaurieren. Auch die roten Fahnen sind wieder da, man sieht sie sowohl am 9. Mai, bei den offiziellen Feierlichkeiten zum Sieg über Nazideutschland, als auch bei den Aufmärschen zum 1. Mai und 9. November. Und die 1991 abgeschaffte Hymne der Sowjetunion erklingt wieder.2 Jugendliche tragen T-Shirts mit dem Aufdruck „UdSSR, mein Vaterland“, Rockgruppen spielen Hits aus der Sowjetzeit, und die meisten Schlager, die Radio Moskau spielt, sind inzwischen russische. In der Werbung und an den Wänden der Moskauer Cafés prangen die Symbole der einstigen Sowjetmacht – postmoderne Nostalgie.

Diese Rückbesinnung zeichnete sich schon Mitte der 1990er-Jahre ab. Im Fernsehen laufen inzwischen wieder die Sowjetfilme – „auf Wunsch der Zuschauer“, wie es heißt. Ein Leitartikler der Iswestija bemerkte besorgt, das Sowjetvolk sei immer noch da und Nostalgie offenbar die vorherrschende Stimmung in der Bevölkerung.3 Zu diesem Befund kommen auch seriöse Meinungsumfragen: 57 Prozent der Russen „wünschen sich die UdSSR zurück“ (2001), 45 Prozent halten „das alte System für besser als das gegenwärtige“, 43 Prozent hätten am liebsten „eine neue bolschewistische Revolution“ (2003).

Auch die Meinung über die gegenwärtige Lage erscheint nicht gerade politisch korrekt: Für die „demokratische Revolution vom August 1991 hat niemand etwas übrig“,4 und 80 Prozent der Befragten kritisieren die immer wieder als kriminell bezeichnete Privatisierung der Staatsbetriebe. Das empört die Anhänger der Demokratie. Sie wettern gegen die allgemeine Amnesie („von der Mangelwirtschaft und den Straflagern redet niemand“) und gegen den Hass auf die Reichen („bloß weil sie reich sind“) und äußern sich abschätzig über die Nostalgie der Alten und Deklassierten („die werden über kurz oder lang schon aussterben“).

Putins bisherige Politik hat die Befürchtungen der Neoliberalen bestätigt: Gegen mehrere der mächtigen Oligarchen wurden bereits strafrechtliche Schritte unternommen;5 der Kreml kontrolliert mittlerweile wieder die wichtigsten Medien; NKWD und KGB sind rehabilitiert,6 der Geheimdienst FSB (wie überhaupt die Vertreter der Apparate, die „Silowiki“7 ) gewinnt an Einfluss. Russland macht deutlich, dass es seinen Einfluss in den ehemaligen Sowjetrepubliken nach Möglichkeit zurückgewinnen will, und kritisiert alle Vorstöße der USA in diesen Regionen. Und trotz der „strategischen Allianz“, die Putin seit dem 11. September mit Washington eingegangen ist, hat er den Irakkrieg abgelehnt.

Dabei hat es in Russland seit 1991 diverse Anläufe gegeben, gegen den Geist des Kommunismus vorzugehen. Nach 1991 waren viele Archive zugänglich, und die Russen wurden durch unzählige Zeitungsberichte, Bücher und Fernsehsendungen über die bolschewistischen Verbrechen informiert: über den „roten Terror“ unter Lenin und Trotzki, den „großen Terror“ unter Stalin, die Hungerjahre 1932 und 1933, das System der Straflager (Gulag), die Deportation ganzer Völker wegen angeblicher oder nachweislicher Kollaboration mit Nazideutschland und nicht zuletzt über die Unterdrückung in der Breschnew-Zeit. Historiker, Journalisten und Massenmedien inszenierten eine regelrechte Schlacht um die Erinnerung und propagierten dabei die Werte der demokratischen Marktwirtschaft. Behilflich waren dabei einige philantropische Oligarchen sowie ein weit gespanntes Netz westlicher, vor allem US-amerikanischer Institutionen, Universitäten und Stiftungen: Ford, Soros, Hoover, Heritage, Carnegie, USIS, USAID.8

Auf die heftigen Debatten der Gorbatschow-Ära folgte die Offensive gegen das – US-amerikanische – „Reich des Bösen“ und seine Vasallen. Dabei ließen die russischen Antikommunisten so manchen westlichen Ideologen blass aussehen. Sie beschworen bei jeder Gelegenheit das Gespenst einer Rückkehr der Roten und eines neuen Bürgerkriegs, um von den Krisen des neuen Regimes abzulenken.

Aus der Verurteilung der Bolschewisten ergab sich automatisch die Rehabilitierung von deren Gegnern: Plötzlich waren die „Weißen“ im Bürgerkrieg die Guten, ebenso wie die späteren Dissidenten. Sogar für manche Formen der Kollaboration mit Nazideutschland brachte man nun Verständnis auf. Maxim Sokolow, Leitartikler der Iswestija, erklärt: „Das waren schwierige Zeiten […] Damals bildete es (das Dritte Reich) die einzige Bastion, die Europa vor der bolschewistischen Barbarei schützen konnte. Wenn der Reichsführer-SS (Heinrich Himmler) heute noch lebte, würde man ihn vermutlich als Helden im Kampf gegen den Totalitarismus ehren.“9

Natürlich kritisierten viele Historiker einen derart absurden Revisionismus, der sich weder um konkrete historische Zusammenhänge und Herrschaftsverhältnisse schert noch die jeweiligen sozialen und kulturellen Bedingungen berücksichtigt. Doch die Bestseller schreiben nicht die kritischen Historiker, sondern Leute wie Wiktor Suworow. Sein jüngstes Buch etwa beginnt mit der Feststellung: „Die Sowjetführer in der Geschichte waren allesamt Gauner und Betrüger.“10

Solche Pauschalurteile findet Alexander Tsipko, einer der Vorkämpfer des regierungsoffiziellen Antikommunismus, eher kontraproduktiv. Schon 1995 warnte er vor dieser Propaganda, weil sie am Ende „die Geschichte der Sowjetunion noch in ein positives Licht rücken“ werde.11 Er sollte Recht behalten. Denn angegriffen wird nicht etwa „der“ Kommunismus als abstraktes System, sondern Gemeinschaftswerte wie Gleichheit und kollektives Handeln, die über die Sowjetzeit hinaus in der russischen Tradition verankert sind. Und angegriffen fühlen sich in erster Linie die kleinen Leute, die Arbeiter, die ihre soziale Sicherheit verloren haben und sich als „Komplizen“ des alten Regimes bezeichnen lassen müssen, als „Schmarotzer“, für die in der postindustriellen Zeit „kein Platz mehr“ sei.12

Als Lenin noch ein leuchtendes Vorbild war

BISLANG hat die massive Propaganda ihr Ziel verfehlt: Die eine, einzig wahre Sichtweise auf die UdSSR gibt es nach wie vor nicht. Dafür sind die Erfahrungen und Traditionen zu unterschiedlich, die Auskünfte von Zeitzeugen zu widersprüchlich. In vielen Lebenserinnerungen wird deutlich, wie unendlich das Chaos war, wie extrem die Ungewissheit, wie fließend jede Grenze und wie es dann doch Momente der reinen Zuversicht und Freude gab, bis sich völlig unvermittelt wieder ein Abgrund auftat und blinder Terror herrschte.

Eindrücklich schildert etwa Varlam Salamov, einer der wichtigsten Zeitzeugen der Lagerwelt, neben dem Grauen des Lagerlebens auch die Aufbruchstimmung und die revolutionären Ideale seiner Jugend in den 1920er-Jahren, als Lenin noch ein leuchtendes Vorbild war.13 In einem anderen Bericht erfährt man, wie Ljudmilla, deren Familie als Bauern unter der Repression gegen die Kulaken schwer zu leiden hatte, das Land verließ, um (wie Millionen Menschen damals) in der Stadt einen Neuanfang zu wagen.14

Anfang der 1990er-Jahre, bevor die antikommunistische Ideologie die Meinungsfreiheit überformte, erschienen auch viele Lebensgeschichten von Bauern, die in den Zeiten des Bürgerkriegs und auch nach dem „Einschnitt“ der Kollektivierung auf dem Land geblieben waren.15

Eines der Probleme dieser „rekonstruierten Erinnerungen“ ist, dass nur zu oft die Opfer und Leidtragenden vor den Karren der antitotalitären Ideologie gespannt werden, wiewohl bekanntlich viele überzeugte Kommunisten und Trotzkisten auch nach der Rückkehr aus dem Lager für ihren Sozialismus eintraten.16 Diese Tatsache wird heute gern unterschlagen. Bleibt die Frage: Wer darf mit welchem Recht im Namen der Toten sprechen?

Die große Mehrheit der ehemaligen Sowjetbürger hat so extreme Erfahrungen jedoch nicht gemacht. Ihre Erinnerung reicht in der Regel zurück bis zur Nachkriegszeit und dem Tod Stalins. „Vielleicht idealisiere ich das jetzt“, berichtet ein Künstler über die Stimmung in den 1960er-Jahren, „aber damals herrschte Aufbruchstimmung im Land. Ich rede nicht von der Politik, sondern vom Lebensgefühl der Leute in meiner Umgebung. Durch die Beatles kam so etwas wie die Sehnsucht nach Liebe in unsere Welt, das verstärkte sich noch in der Zeit der Hippie-Bewegung […] Ich habe damals gelernt zu leben und optimistisch in die Zukunft zu schauen – es war eine wunderbare Zeit.“ Hier vereinen sich, wie unbewusst auch immer, die Gegensätze: das propagierte Ideal des Zukunftsoptimismus und die Gegenkultur der Beatles.

Viele glaubten zwar an eine strahlende Zukunft des Landes. Gleichzeitig waren sie Teil der unpolitischen Alternativkultur. Andere, Gegner des Breschnew-Regimes, erinnern sich heute wehmütig an die Zeiten, als man am Küchentisch neue Weltentwürfe ersann. „Die Zukunft hatte noch nicht begonnen“ – inzwischen weiß man, welche Enttäuschungen sie brachte. Viele haben sich seit 1991 zurückgezogen. Krank, deprimiert, todtraurig über das Ergebnis des lang ersehnten Wandels.

„Die neuen Herren haben für die Schestidisiatniki, die Generation der 1960er, nur Verachtung übrig“, meint Wassili Jurawliow. „Sie sind so etwas wie ein wandelnder Vorwurf, denn sie waren die Vorreiter der Entwicklung, durch die jetzt die Oligarchen und die anderen Geschäftemacher an die Macht kommen konnten.“17 Viele, die damals in ihrer Jugend weder zu den Regimegegnern noch zu den Parteikadern gehörten, die keine intellektuellen Ansprüche stellten, sondern einfach Leben wollten, verdingten sich bei den Großprojekten der 1950er- und 1960er-Jahre aus Abenteuerlust oder wegen der guten Bezahlung. Die „Stadt der Wissenschaft“ in Nowosibirsk, die Staudämme an den sibirischen Flüssen, die gewaltigen Industrieanlagen von Togliattigrad und Kamas, die zweite transsibirische Eisenbahnlinie (die Baikal-Amur-Magistrale, kurz: BAM) – wer dabei war, erinnert sich an eine erfüllte Zeit, die heute überall schlechtgeredet wird.

Andere sind gezeichnet von den schrecklichen Erfahrungen des Afghanistankrieges, von denen die knapp vierzigjährigen bettelnden Kriegsversehrten auf den Straßen und in den Metrostationen zeugen. In jüngerer Zeit ist eine neue Generation von Kriegsveteranen aus dem Tschetschenienkrieg hinzugekommen.

Doch wie gesagt: Der Mehrheit der Russen blieben solche Erfahrungen erspart. Man lebte sein Leben und besaß ausreichende soziale und kulturelle Zusammenhänge, die vielen heute fehlen. Der Rückblick des ukrainischen Autors Andrej Kurkow, geboren 1961, ist nicht untypisch: „Die Gesellschaft war damals noch auf Freundschaften gegründet. Man konnte bei den Nachbarn vorbeischauen und sich auch mal was borgen, wenn man knapp bei Kasse war. Nach dem Zusammenbruch blieb von dieser Solidarität nichts übrig […]. Die jungen Leute, die Zwanzigjährigen, alle, die nach dem Zusammenbruch geboren sind, passen sich an. In meiner Generation ist die Vereinsamung die typische Zeitkrankheit. Ich habe viele Freunde verloren. Einige haben sich das Leben genommen, andere sind ausgewandert.“18

Die guten alten Zeiten solidarischer und gutnachbarlicher Beziehungen werden immer wieder beschworen. Die Kulturwissenschaftlerin Ljudmila Bulawka hat Aussagen von Arbeitern zusammengetragen, die an den jüngsten Protestbewegungen beteiligt waren. Diese Aktivisten sprechen heute mit Bitterkeit über ihre Illusionen in den Jahren 1989 bis 1991 – als sie die Demokraten unterstützten. Der Zusammenbruch der UdSSR erscheint ihnen als schmerzlicher Verlust. Noch immer glauben sie an die Maxime „Der Staat, das sind wir“, und noch immer wollen sie sich nicht damit abfinden, dass nun die Unternehmer allein das Sagen haben – sie bleiben der alten Kultur des Konsenses und des sozialen Paternalismus verhaftet.19

Der Westen wird kaum je verstehen, wie schwer dieser Verlust von vielen empfunden wird. Es geht hier um einen Weltverlust, der mit ideologischen Schablonen nicht zu erfassen ist. Die Avantgarde passt genauso wenig in unsere Schubladen wie die populäre Massenkultur, die Generationen geprägt hat: Die Musicals von Alexandrow, der Jazz von Utesow, der 20er-Jahre-Humor von Ilf und Petrow, die Abenteuer des Soldaten Wassili Tjorkin, die gespaltenen Persönlichkeiten in den Filmen von Wassili Schukschin, die Amateurvorstellungen in den Kulturclubs der Fabriken und die unzähligen Liedermacher – aus all dem formte sich zwischen 1960 und 1980 eine große „massenhafte“ Bewegung von unten. Was soll man im Übrigen davon halten, dass vor kurzem eine Gruppe nonkonformistischer Liedermacher, jüngere und ältere, die Ballade „Granada“ des Komsomol-Dichters Michail Swetlow aus den 1920er-Jahren zum „Lied des Jahrhunderts“ gewählt hat?

In einer von der Friedrich-Ebert-Stiftung geförderten Untersuchung haben russische Sozialwissenschaftler unter Leitung von Michail Gorschkow20 jüngst überzeugend dargelegt, dass die neue Begeisterung für die UdSSR mit den erprobten Klischees nicht zu fassen ist. Ganz unüberlegt erscheint sie jedenfalls nicht. Den russischen Machthabern ist es – so die Ergebnisse der Studie – nicht gelungen, die siebzig Jahre Sowjetherrschaft als einen einzigen Albtraum darzustellen, vielmehr hat ihre Politik das Sowjet-Revival eher verstärkt.

Doch die konkreten Einstellungen unterscheiden sich von Altersgruppe zu Altersgruppe und je nachdem, welcher Zeitabschnitt angesprochen wird:

– Die Aussage: „Die Verbrechen des Stalinismus sind durch nichts zu rechtfertigen“ befürworten 75,6 Prozent der 16- bis 24-Jährigen, 73,5 Prozent der 25- bis 35-Jährigen, 74 Prozent der 35- bis 45-Jährigen, 66,8 Prozent der 45- bis 55-Jährigen, 53,1 Prozent der 56- bis 65-Jährigen.

– Dem Satz: „Die marxistischen Ideen waren richtig“ stimmten in der jüngsten Altersgruppe 27,4 Prozent zu, bei den Ältesten waren es 50,3 Prozent.

– „Westliche Demokratie, Individualismus und Wirtschaftsliberalismus sind als Werte für Russland unbrauchbar.“ Das fanden 62,9 Prozent der 55- bis 65-Jährigen richtig, aber nur 24,4 Prozent der 16- bis 24-Jährigen.

– Befragt nach „Leistungen, auf die man stolz sein kann“, nannten 80 Prozent aller Befragten den militärischen Sieg von 1945. Für die über 35-Jährigen kam an zweiter Stelle der Wiederaufbau nach dem Krieg, die jüngeren (16 bis 35 Jahre) verwiesen auf „die großen russischen Dichter, Schriftsteller und Komponisten“. Etwa 60 Prozent aller Altersgruppen führten auch die russischen Erfolge in der Raumfahrt an. Auf die Aussage „Die UdSSR war der erste Staat in der russischen Geschichte, der soziale Gerechtigkeit für die einfachen Leute gebracht hat“, reagierte die Mehrheit der über 35-Jährigen zustimmend, 42,3 Prozent der 25- bis 35-Jährigen teilen diese Einschätzung, aber nur 31,3 Prozent der 16- bis 24-Jährigen.

Die typischen Merkmale verschiedener Phasen der Sowjetmacht wurden von den Befragten mehrheitlich so beschrieben:

Für die Stalin-Ära: Disziplin und Ordnung, Angst, Ideale, Vaterlandsliebe, rascher wirtschaftlicher Aufschwung.

Für die Breschnew-Ära: Soziale Sicherheit, Lebensfreude, Erfolge in Wissenschaft und Technik und im Ausbildungssektor. Vertrauen unter den Menschen.

Für das heutige Russland: Kriminalität, ungewisse Zukunft, Konflikte zwischen Völkern, Möglichkeiten, reich zu werden, Krise und soziale Ungerechtigkeit.

Insgesamt wurde der Breschnew-Ära von 25 Prozent der wirtschaftsliberal Eingestellten unter den Befragten eine positive Bilanz (45,9 Prozent bei den Kommunisten) und der Jelzin-Ära von 21 Prozent eine negative Bilanz attestiert (59 Prozent bei den Kommunisten).

Für die Zukunft wünscht sich die große Mehrheit der Befragten, dass alle wichtigen Wirtschaftszweige sowie das Bildungs- und Gesundheitswesen staatlich geführt werden. Nur im Bereich der Lebensmittelversorgung, des Wohnungsbaus und der Medien würden die Befragten eine Zusammenarbeit mit Privatunternehmen gutheißen. 54 Prozent hätten gern eine egalitäre Gesellschaft und nennen als wichtigstes Merkmal der Demokratie die „Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz“.

Offensichtlich hat die Erfahrung der marktwirtschaftlich orientierten Reformen, deren katastrophale Folgen inzwischen kaum jemand mehr bestreiten mag, auch das Bild der Vergangenheit neu getönt.

Die Soziologin und ehemalige Gorbatschow-Beraterin Tatjana Saslawskaja21 , die die Reformen maßgeblich mit entwickelt hat, meint, die Arbeiter seien heute „noch rechtloser und noch weiter davon entfernt, Eigentum zu erwerben, als in Sowjetzeiten […]. Wir verzeichnen nicht nur keine Fortschritte in der Produktion, sondern einen strukturellen und technologischen Niedergang […]. Gerade jene Wirtschaftssektoren, die damals die sozialen Bedürfnisse der Bevölkerung erfüllten und für eine gewisse Steigerung der Lebensqualität sorgten, geraten heute zunehmend in die Krise. Alle demokratischen Errungenschaften aus der Zeit von Glasnost und Perestroika sind gefährdet […]. Heute leben 20 bis 30 Prozent der Bevölkerung in Armut, wohnen in heruntergekommenen Häusern, haben nicht genug zu essen, sind krank und sterben jung.“

Als der Eiserne Vorhang Schutz bedeutete

DER liberale Wirtschaftwissenschaftler Grigori Jawlinski21 spricht inzwischen von der „Entmodernisierung“ Russlands, der Ökologe Oleg Janitski von einer „Vollrisikogesellschaft“. Der Historiker Wiktor Danilow, Experte für das bäuerliche Russland und die Kollektivierung, fasst die Lage so zusammen: „Als wir hinter dem Eisernen Vorhang lebten, wussten wir nicht, wie es im Rest der Welt aussah, und glaubten, dass die Gleichmacherei der Grund für unsere Entbehrungen sei. Dann fiel der Eiserne Vorhang […] und wir lernten plötzlich die wahre Misere kennen. Heute wissen wir, dass wir in der Sowjetära unser wenn auch bescheidenes Auskommen hatten. Bei allen Privilegien für bestimmte ‚Volksvertreter‘ war das Gesundheitswesen und das Bildungssystem im Prinzip doch allen zugänglich. Außerdem musste man zwar Schlange stehen, aber man konnte sich das Nötigste besorgen – das ist heute der Mehrheit der Bevölkerung nicht mehr möglich.“

„Die Barrieren nach außen sind gefallen“, meint Danilow, „dafür gibt es nun Barrieren zwischen den Menschen. Noch nie hat es eine derartige Vereinzelung gegeben.“ In Russland wird jedoch nicht nur geklagt, sondern auch leidenschaftlich debattiert über die Vergangenheit und die möglichen Perspektiven. Doch derlei Auseinandersetzungen dringen kaum bis in den Westen vor, weil man dort immer nur das wirtschaftsliberale Credo herunterbetet.

Der neue russische Patriotismus nährt sich aus den Vorurteilen, die im Elend und der Desorientierung besonders gut gedeihen. Aus dem Wunsch nach Identifikation mit dem Westen heraus übernimmt man auch dessen neue Feindbilder – vor allem die Vorstellung von der Bedrohung durch arabische, muslimische Terroristen. An die Stelle des traditionellen Antiimperialismus ist eine Stammtisch-Fremdenfeindlichkeit getreten; dieselben Menschen, die sich nach dem multinationen Sowjetreich mit seiner Arbeiter- und Studentensolidarität zurücksehnen, betrachten nun ausgerechnet die Völker aus dem Süden des ehemaligen Sowjetreiches, denen es noch schlechter geht, als Bedrohung. Sie werfen ihnen vor, Abtrünnige zu sein, und beklagen die Errichtung neuer Grenzen und die ökonomischen und politischen Beschränkungen der Reisefreiheit.

Gleichzeitig liebt man den alten Film „Der Zirkus“ aus den Dreißigerjahren, in dem Solomon Michoels, ein jüdischer Schauspieler, den Stalin später ermorden ließ, einem schwarzen Baby, das aus den Fängen des amerikanischen Rassismus gerettet wurde, ein jüdisches Wiegenlied singt – doch gegen die Massaker in Tschetschenien hat kaum jemand etwas einzuwenden.

Die nostalgische Begeisterung für die versunkene UdSSR ist eine Sache, ihre politische Instrumentalisierung eine andere. Eine Rückkehr zum Sowjetsystem ist in Wirklichkeit ausgeschlossen: Der Umbau der Gesellschaft, die Privatisierung, die Einbettung in globale Wirtschaftsstrukturen und die Macht der Investoren sind unumkehrbar. Zwar hat das neue Regime aus innenpolitischen Gründen (Erhalt der Macht und Zugriff auf die Öleinnahmen) die alten Apparate – Bürokratie und Sicherheitskräfte – wieder erstarken lassen, doch dies ist keineswegs nur in Russland der Fall. Schließlich setzt auch das neue Vorbild der Russen, die USA, auf Militarisierung und auf das Primat der Sicherheitspolitik.

Unter Präsident Putin kamen allerlei alte Größen zu neuen Ehren, darunter Peter der Große, und auch Pjotr Stolipin, ein Berater von Zar Nikolaus II., der liberale Reformen von oben durchsetzte, und nicht zu vergessen: die überaus aktive orthodoxe Kirche. Im Kreml hängt noch das alte Herrschaftssymbol der Zaren, der doppelköpfige byzantinische Adler in Gold auf rotem Grund. Doch das Symbol der neuen Bourgeoisie ist das Goldene Kalb, auf einem dollarähnlich grünstichigen Grund.

Was die beiden stählernen Helden von Vera Muchina angeht, die noch immer die Sowjetsymbole schwingen, so brauchen sich die Wirtschaftsliberalen keine Sorgen zu machen: Der Arbeiter und die Kolchosbäuerin werden sich demnächst in neuem Glanze auf einem hohen Sockel würdevoll der Zukunft entgegenrecken – vor einem Einkaufszentrum.

deutsch von Edgar Peinelt

* Journalist, Brüssel.

Fußnoten: 1 Die beiden Symbolfiguren erschienen auch im Vorspann sämtlicher Filme aus den Studios der staatlichen Produktionsfirma Mosfilm. 2 Die Hymne, komponiert von Boris Alexandrow, löste 1945 die Internationale ab. 1991 wurde sie abgeschafft, am 8. Dezember 2000 jedoch von der Duma wieder eingeführt – den neuen „patriotischen“ Text dichtete Sergei Michalkow, der schon die Verse der Sowjethymne verfasst hatte. 3 Andrei Koslesnikow, Iswestija (Moskau), 5. Juni und 14. August 2001. 4 Für 48 Prozent der Russen bedeuten der gescheiterte Putsch von rechts und der erfolgreiche Staatsstreich Boris Jelzins lediglich „eine Episode in der Auseinandersetzung um die Macht im Kreml“, 31 Prozent sehen darin „tragische Ereignisse“ und nur 10 Prozent einen „Sieg der Demokratie“. Zum 10. Jahrestag (2001) wurden keine Feierlichkeiten abgehalten. 5 Namentlich gegen den Medienzar Wladimir Gusinski (der nach Spanien geflohen ist), gegen den Ex-Kreml-Finanzier und Auto-, Öl- und Medientycoon Boris Beresowski (der als „politischer Flüchtling“ in Großbritannien lebt) und gegen den Ölmagnaten (Yukos) Michail Chodorkowski (der inzwischen in Untersuchungshaft sitzt). 6 Unter Stalin fungierte das „Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten“ (NKWD) als politische Polizei. An seine Stelle trat 1945 das „Komitee für Staatssicherheit“ (KGB), das nach dem Ende der UdSSR vom „Bundessicherheitsdienst“ (FSB) abgelöst wurde. 7 Sammelbezeichnung – von „Sila“ (Kraft/Macht) – für die Putin-Getreuen in den Streitkräften, der Polizei und den Geheimdiensten. 8 So taten sich z. B. die Soros-Stiftung und die wirtschaftsliberale Partei „Union der Rechten“ zusammen, um das „Schwarzbuch des Kommunismus“ von Stéphane Courtois in russischer Übersetzung zu publizieren. 9 Iswestija, 26. März 2002. Thema des Kommentars ist die Rehabilitierung der ukrainischen SS-Division Galitschina. 10 Ten’ Poheby, Moskau 2002. 11 Nesawissimaja Gaseta, Moskau, 9. November 1995. 12 Siehe Karine Clement, „Les Ouvriers russes dans le tournement du marché“, Paris (Syllepse) 2003. 13 Siehe Varlam Salamov, „Geschichten aus Kolyma“, Frankfurt am Main, Berlin (Ullstein) 1983. 14 Siehe „Lioudmilla, une Russe dans le siècle“, Paris (La Dispute) 1998. 15 Golosa Krest’ian, „Selskana Rossiia XX veka v krest’ianskikh memnoarakh“, Moskau 1996. 16 Siehe dazu Pierre Broué, „Communistes contre Stalin. Massacre d’une génération“, Paris (Fayard) 2003. 17 Literaturnaja Gaseta (Moskau), 6./12. März 2002. 18 Interview zu seinem Buch „Picknick auf dem Eis (Zürich, Diogenes 1999), in „Le matricule des anges“, www.lelibraire.com. 19 Ljudmila Bulawka, „Non Konformizm“, ein soziokulturelles Porträt der Arbeiterproteste im heutigen Russland, Moskau (Ourss) 2004. 20 „Osennii krisis 1998 goda: possiiskoje obchtchestwo do i posle“, PNISiNP, Moskau (Rosspen) 1998. 21 Sie zeichnete im April 1983 verantwortlich für den ersten offiziellen (und vertraulichen) Bericht, in dem die Krise des Systems und die Notwendigkeit tief greifender Reformen konstatiert wurde.

Le Monde diplomatique vom 12.03.2004, von JEAN-MARIE CHAUVIER