Eine neue Linke
DIE Präsidentschaftswahlen vom 30. Juni 2002 haben die bolivianische Politik völlig überraschend in ihren Grundfesten erschüttert. Zwar hat die Mitte-rechts-Partei Movimiento Nacionalista Revolucionario (MNR) mit knapp 22 Prozent die Wahlen gewonnen, doch die beiden indianischen Kandidaten, die zum Volk der Aymará1 gehören, konnten historische Erfolge erringen.
Auf die Partei MAS (Movimiento al Socialismo – Bewegung zum Sozialismus) von Evo Morales entfielen 20,9 Prozent und auf den MIP (Movimiento Indígena Pachacuti – Indigene Bewegung Pachacuti2 ) von Felipe Quispe 6 Prozent der gültigen Stimmen. Nach der bolivianischen Verfassung ist der Präsident direkt gewählt, wenn er die absolute Mehrheit der Stimmen erhält. Andernfalls entscheidet zwischen den beiden bestplatzierten Kandidaten ein Votum des Kongresses, wobei der Sieger durch zuweilen absonderliche Allianzen und politische Schwenks zustande kommt.3 Diesmal haben die traditionellen Parteien, die alle auf die Auflagen des Internationalen Währungsfonds festgelegt sind, eine Koalition gebildet, um Evo Morales zu verhindern und die Wahl des MNR-Chefs Gonzalo Sánchez de Lozada zu emöglichen. Wenn nichts Entscheidendes geschieht, wird er das Land bis 2007 regieren. Der größte Sieg von MAS und MIP bestand jedoch darin, 41 indianische und bäuerliche Abgeordnete ins Parlament zu bringen, die sich vom ersten Tag an für ihre kulturellen Rechte eingesetzt haben: Sie verlangten, dass in den Parlamentsdebatten neben der Amtssprache Spanisch auch die indianischen Sprachen – Aymará, Quechua und Guaraní – zugelassen werden. Die Regierungspartei kam nicht umhin, der „neuen Linken“ diesen symbolischen Sieg zuzugestehen.
Der MAS ist der politische Arm der Bauernverbände im Chaparé und in der ganzen unter dem Namen Trópica Cochabamba bekannten Region. Hier konzentriert sich die Repression der durch die Drug Enforcement Agency (DEA) und andere US-amerikanische Institutionen finanzierten und unterstützten Polizeikräfte, denn in diesem Gebiet wird Coca angebaut. Hier sind in den vergangenen fünfzehn Jahren schätzungsweise 250 Bauern zu Tode gekommen, die ihr Recht auf Coca-Anbau verteidigt haben. In der Region Chaparé haben sich seit Anfang der 1980er-Jahre die bäuerlichen Migranten aus dem Altiplano angesiedelt. Auf dem Altiplano ist der Coca-Anbau legal.
1985 verkündete die Regierung von Victor Paz Estenssoro das Dekret Nr. 21 060, mit dem in Bolivien die weithin staatlich kontrollierte Wirtschaft durch einen strikten und orthodoxen Neoliberalismus abgelöst wurde. Die Staatsunternehmen wurden zerschlagen; als Vorbild diente dabei der Fall der Corporación Minera de Bolivia (Comibol), wo mehr als 20 000 Zinnminenarbeiter entlassen wurden. Ein Großteil der Arbeiter ließ sich im Chaparé nieder und tat das einzig Mögliche, nämlich Coca-Pflanzen anbauen. Andere Agrarprodukte sind nicht rentabel und haben keine gesicherten Absatzmärkte.
Die Regierung der USA begann Ende der 1980er-Jahre, sich für diese expandierenden „unzulässigen Pflanzungen“ im Chaparé zu interessieren, die sie unmittelbar mit dem internationalen Drogenhandel in Verbindung brachten. Der damalige Präsident, Jaime Paz Zamora (1989–1993), lehnte jedoch ein pauschales Coca-Verbot ab. Er forderte ein Problembewusstsein, das die Geschichte und Souveränität Boliviens respektiert, und organisierte unter dem Slogan „Coca ist nicht Kokain“ die „Coca-Diplomatie“.
Gegen Ende seiner Amtszeit wurde Paz Zamora von der US-Botschaft in Bolivien schwer attackiert. Mehrere Vertreter seiner MIR-Partei wurden vor Gericht gestellt. Einer von ihnen, Oscar Eid, kam wegen angeblicher Verbindungen zum Drogenhandel für vier Jahre ins Gefängnis, und Paz Zamora selbst wurde das Visum für die Vereinigten Staaten entzogen.
Dies war Teil einer Einschüchterungskampagne, die sich an alle bolivianischen Politiker richtete. Die Botschaft war klar: Wer nicht gegen den Coca-Anbau im Chaparé arbeitet, ist gegen die US-Politik in Bolivien. Seitdem und während der gesamten 1990er-Jahre entwickelte die US-Botschaft die verschiedensten Pläne zur Vernichtung der Coca-Kulturen, gegen die sich nur die Bauern zur Wehr setzten. Aus dieser Widerstandsbewegung ging Evo Morales als Führer des Coca-Bauern-Verbandes hervor.
FELIPE QUISPE ist ein Aymará-Führer, der Anfang der 1990er-Jahre an der Spitze der Guerilla-Armee Tupac Katari (EGTK) im Altiplano stand. Die Strukturen dieser Organisation wurden durch polizeiliche Aktionen rasch aufgerieben, 1992 landeten ihre führenden Vertreter im Gefängnis. Quispe verbrachte fünf Jahre in einem Hochsicherheitstrakt, wurde aber kurz nach seiner Entlassung zum Generalsekretär der legendären Bauerngewerkschaft, der Confederación Sindical Única de Trabajadores Campesinos de Bolivia (CSUTCB), gewählt. Den Posten bekleidet er auch heute noch. 2001 gründete Quispe seine eigene Partei, den MIP, als dessen Spitzenkandidat er bei den Wahlen antrat.
Neben diesen aus der Sozialbewegung hervorgegangenen politischen Kräften gibt es einen dritten Strang nicht politischer Organisationen, zu denen vor allem die Bauernverbände, die „Koordination zur Verteidigung des Wassers und des Lebens“, Ayllus-Indianer aus dem Hochland, NGOs und „landlose“ Bauern zählen. Sie vermochten durch koordiniertes Handeln den Maßnahmen des orthodoxen Neoliberalismus mehrfach erfolgreich die Stirn zu bieten.
Das gilt zum Beispiel für den „Wasserkrieg“, wie ihn die Medien nannten: Im April 2000 rebellierten die in der „Koordination zur Verteidigung des Wassers und des Lebens“ organisierten Einwohner von Cochabamba gegen Aguas del Tunari, ein Tochterunternehmen des US-Multis Bechtel, das Cochabamba mit Trinkwasser versorgt und eine horrende Tariferhöhung beschlossen hatte. Es kam zu gewalttätigen Protesten auf der Straße, die Regierung entsandte Truppen in die Region, doch am Ende konnten „die Leute aus Cochabamba“ ihren Willen durchsetzen und diesen „Krieg“ gewinnen. Die Manager des Konzerns mussten das Land verlassen.3
Diese drei Bewegungen formierten sich zu einem Oppositionsblock gegen den orthodoxen Neoliberalismus und wurden damit zur Keimzelle einer Erneuerung in der bolivianischen Politik. Die führenden Vetreter dieser „neuen Linken“ sind Bauern- oder Indianerführer, die sich in der Verteidigung ihres Landes und ihrer überlieferten Kultur einen Namen gemacht haben und keine Intellektuellen aus Mittel- oder Oberschicht, die sich den Status von Revolutionsführern über theoretisches Wissen erworben haben. Im Unterschied zu den Bewegungen der 1960er- und 1970er-Jahre propagiert diese Linke nicht die Abschaffung des Staates oder den Klassenkampf, sondern eine stärkere Beteiligung am demokratischen System. Zudem fordert sie die Anerkennung ihrer Traditionen, ihrer eigenständigen Autoritäten und der jeweils lokalen, in ihrer Gemeinschaft wirkenden Kräfte.
Da sie mehr Ähnlichkeit mit sozialen Bewegungen als mit den klassischen Industriearbeitergewerkschaften hat, besitzt diese Opposition ein größeres Potenzial zur Vereinigung verschiedener gesellschaftlicher Kräfte. Denn die Erfordernisse der letzten Jahre haben die sozialen Organisationen Boliviens dazu gebracht, Forderungen im Namen der gesamten Gesellschaft – einschließlich der städtischen – zu erheben: Preissenkungen, Schutz der natürlichen Ressourcen, Umkehrung des Privatisierungsprozesses und anderes mehr.
Bezeichnend ist dabei, dass in der „neuen Linken“ die traditionelle Vorstellung von „Partei“ nicht vorkommt – was allerdings eine zweischneidige Sache ist. Zwar werden damit die Grabenkämpfe und ein steriler, zu Glaubenssätzen geronnener Dogmatismus vermieden. Aber zugleich zeigt sich darin auch eine strukturelle Schwäche, die sich langfristig noch als sehr schädlich erweisen könnte. Denn soziale Bewegungen, so zeigt die Geschichte, werden früher oder später im Sande verlaufen.
W. CH.