Der starke Mann vom Chaparé
MIT den Protesten der Coca-Bauern gegen die Vernichtung ihrer Existenzgrundlage stieg der Stern des Gewerkschaftsführers Evo Morales. Als Chef der neu gegründeten „Bewegung zum Sozialismus“ ging er bei den letzten Präsidentschaftswahlen als Zweiter durchs Ziel. Morales ist einer der linkspopulistischen Führer indigener Herkunft, die in mehreren Ländern Lateinamerikas an der Spitze sozialer Bewegungen stehen und den Sprung ins politische Establishment geschafft haben. Doch realpolitisch fehlen dem Oppositionschef sowohl langfristige Perspektiven wie geeignete Mittel.
Von WALTER CHÁVEZ *
Am 6. August 2002 wurde Gonzalo Sánchez de Lozada, Chef der Mitte-rechts-Partei Movimiento Nacionalista Revolucionario (MNR), zum zweiten Mal ins Amt des Präsidenten der Republik Bolivien eingeführt. Mit knapp 22 Prozent der Stimmen und einer anschließenden Stichwahl im Parlament hatte er die Wahlen für sich entschieden. Weil er lange in den USA gelebt hat, spricht er besser Englisch als Spanisch. Bei seinem Besuch in Washington am 14. November erklärte er, die Vereinigten Staaten seien die „Hoffnung der Zukunft“. Dann setzte er sich mit Vertretern des Internationalen Währungsfonds (IWF) zusammen, um letzte Hand an die Wirtschaftspläne für Bolivien zu legen.
Als Erstes präsentierte er einen „Plan Bolivien“, dessen vorrangiges Ziel es ist, 200 000 Arbeitsplätze zu schaffen, unter anderem im Rahmen des Aufbaus eines landesweiten Straßennetzes.1 Um jedoch die nötigen Kredite über 5 Milliarden Dollar zu erhalten, musste seine Regierung Sofortmaßnahmen zur Ankurbelung der Wirtschaft ergreifen. Der IWF bestand auf seinen altbekannten Rezepten und entsandte eine Kommission nach La Paz. Sie traf Anfang Februar 2003 ein, um einen drastischen Abbau des Haushaltsdefizits einzuleiten, das über 8,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts beträgt.
Um den IWF-Dogmen Genüge zu tun, zog die Regierung zwei Lösungen in Betracht: Die Steuern auf Brennstoff, insbesondere Benzin, zu erhöhen oder die Einkommen der Bevölkerung, einer der ärmsten Lateinamerikas, abzuschöpfen. Eine Besteuerung von Unternehmensgewinnen oder Privateigentum kam nicht in Frage. Sánchez de Lozada entschied sich für die zweite Lösung und brachte im Parlament einen Gesetzentwurf ein, der vorsah, auf alle Einkommen über 840 Bolivianos (110 Euro) 12,5 Prozent Steuern zu erheben. Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
Am 13. Januar war es der Sozialbewegung2 gelungen, die Straße zwischen Cochabamba und Santa Cruz zu blockieren, dort, wo sich die Coca-Region Chaparé befindet.3 Die Protestaktion gegen die zwangsweise Vernichtung „unzulässiger Anpflanzungen“ wurde brutal unterbunden. Dabei kamen auf Seiten der Landbevölkerung fünfzehn Menschen ums Leben. Auch wenn der Aktion kein großer Erfolg beschieden war, zwang sie die Regierung immerhin zu Zugeständnissen. Am 20. Januar stellte Oppositionschef Evo Morales, Anführer des Movimiento al Socialismo (MAS), der bei den Wahlen einen spektakulären zweiten Platz errungen hatte, dem Präsidenten ein Ultimatum, entweder die Forderungen der Sozialbewegung zu erfüllen oder zurückzutreten. Am 11. Februar erhob sich jedoch zunächst einmal eine Spezialeinheit der Polizei, die GES (Grupo Especial de Seguridad). Von ihren zahlreichen Forderungen fand vor allem eine breite Unterstützung in der Bevölkerung: die nach der Wiederabschaffung der gerade eingeführten Steuer.
Zu Beginn des Aufstands des GES befand sich die IWF-Delegation noch in La Paz.4 Von den Fenstern ihres Fünfsternehotels aus konnten ihre Mitglieder hören und sehen, wie der Unmut der Bevölkerung sich Luft machte. Der Protest sollte sich zu einer Revolte auswachsen, die die Grundfesten der staatlichen Macht erschütterte. Im Lauf des Konflikts sammelten sich spontan Arbeiter, Studenten, Arbeitslose und unzufriedene Bürger um die rebellischen Polizisten. Ihnen gegenüber stand die Armee, die vor allen öffentlichen Gebäuden private Wachdienste postierte und zum letzten Rückhalt der herrschenden Klasse und der staatlichen Institutionen wurde. Allein in zwei Tagen kamen 33 Menschen ums Leben, mehr als 200 erlitten Schussverletzungen.
Während die Auseinandersetzungen in den Straßen weitere Opfer forderten, meldete sich am 19. Februar Sánchez de Lozada im Fernsehen zu Wort und gab nach einem nervösen „Gott schütze Bolivien“ lakonisch bekannt: Das Steuergesetz werde zurückgenommen und das Volk möge doch Ruhe bewahren. Die Proteste dauerten noch 30 Stunden an, dann erst fand die Stimme des Präsidenten Gehör.
Seit vier Jahren befindet sich das Land in der Krise, und sie verschärft sich ständig – in erster Linie, weil das 1985 durch die MNR eingeführte Wirtschaftsmodell immer deutlicher an seine Grenzen stößt. Nachdem man die Staatsunternehmen privatisiert hatte,5 die Inflation gestoppt und alles auf den Zustrom ausländischen Kapitals ausgerichtet war, vermochten die darauf folgenden Regierungen nicht, das Abfließen des geringen Kapitalüberschusses ins Ausland einzudämmen.
Die internationalen Kreditinstitute, die dem Land enorme Summen für die Tilgung seiner Auslandsschulden abverlangen, haben neue Kredite verwehrt. Gleichzeitig sind die beiden Säulen der bolivianischen Wirtschaft, der Ölkonzern Yacimientos petrolíferos fiscales de Bolivia (YPFB) und die aus Coca-Anbau und Drogenhandel stammenden Gelder (jährlich etwa 500 Millionen Dollar) eingebrochen: Der YPFB-Konzern wurde zerschlagen und privatisiert, die radikale Vernichtung der Coca-Kulturen gemäß den Forderungen der USA angeordnet.6
Es gibt in Bolivien keinen wirklichen Binnenmarkt: Die rasante Konzentration des Reichtums und die Verarmung eines Großteils der Bevölkerung haben die Wirtschaft völlig ausgezehrt, sodass sich der Produktivsektor des Landes heute auf rund 550 000 bäuerliche Haushalte mit Subsistenzwirtschaft, 770 000 Betriebe des informellen Sektors in den Städten und kaum mehr als 550 Wirtschaftsunternehmen im eigentlichen Sinne beschränkt.7 11,95 Prozent der aktiven Bevölkerung sind arbeitslos,8 und das durchschnittliche Monatseinkommen stagniert bei 420 Bolivianos (etwa 55 Euro).
Seit 1985 ruht das politische System im Wesentlichen auf den traditionellen Parteien und ihren wechselnden Bündnissen zum Erhalt der Regierungsfähigkeit: Abkommen zwischen Parteien, die, von Minderheiten gewählt, das Aufkommen alternativer Programme (die es freilich noch nicht gibt) verhindern wollen. Die Politik liegt vorwiegend in den Händen von Eliten (Grundbesitzer, Unternehmer, Vertreter internationaler Konzerne, Technokraten), die gemeinsame Interessen verfolgen. Man hat sich in einem neoliberalen Konsens eingerichtet, den die Medien ohne Einschränkung unterstützen. Gleichzeitig wurde durch die Schwächung von Berufsverbänden und Gewerkschaften eine Entpolitisierung und Demobilisierung der Gesellschaft sowie die Aushöhlung der sozialen Grundsicherung betrieben.
Dieses System hat bis 1999 – man möchte fast sagen: perfekt – funktioniert. Die dramatischen Ausmaße der Krise wurden erst mit der Zeit erkennbar, weil die makroökonomischen Indikatoren lange stabil blieben, die Inflation sich in Grenzen hielt (ein Beleg für die Konzentration der Nachfrage) und weil die Bevölkerung nicht wie früher Schlange stehen musste, um sich mit Lebensmitteln zu versorgen.
Die sozialen Bewegungen betraten die nationale Bühne im April und September 2000. In einer ersten Phase schlossen diese Kräfte praktisch alle durch das System Benachteiligten ein: Indios, Bauern, verarmte Städter. Dieses einfache Volk, das Straßen und Wege blockierte, artikulierte sich bis dahin vor allem als Widerstandsbewegung. Aufgrund einer klarer definierten politischen Aktion bot es sich plötzlich als Träger möglicher Veränderung an. So geschah es im Falle der Bewegung Movimiento al Socialismo (MAS) mit dem Coca-Bauern Evo Morales an der Spitze und der von Felipe Quispe geführten, den Aymará eng verbundenen Indigenen-Bewegung Movimiento Indígena Pachacuti (MIP).
Diese gesellschaftlichen Kräfte konnten an Relevanz gewinnen, weil sie dem Staat auf dem Altiplano9 mit der Forderung nach mehr politischer Mitbestimmung und Anerkennung der Gewerkschaftsorganisationen entgegengetreten sind. Im September 2000 hatten sie außerdem im Kampf gegen eine Tochterfirma des US-Multis Bechtel, die die Trinkwasserpreise drastisch erhöhen wollte, einen wichtigen Erfolg zu verbuchen.
Bei der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen im Juni 2002 verhinderte nur ein in letzter Minute geschlossenes Bündnis zwischen MNR und dem sozialdemokratisch ausgerichteten Movimiento de la Izquierda revolucionaria (MIR) den Sieg von Evo Morales (MAS). Immerhin hat der MAS fünfunddreißig Abgeordneten- und Senatorensitze errungen, was eine historische Erneuerung der Legislative bedeutet: In einem Land, das bis dato von Weißen und Mestizen regiert wurde, sind fortan 20 Prozent der Kongressmitglieder Indios.
Dieser Sieg bleibt jedoch rein symbolisch. Gegen den erbitterten Widerstand der offiziellen Mehrheitskoalition vermochte der MAS in sieben Monaten kein einziges Gesetz zugunsten der von ihm vertretenen gesellschaftlichen Gruppen durchzusetzen. Die etablierten Parteien rückten gegenüber der Sozialbewegung enger zusammen. Folge dieser Blockadepolitik waren die Ausschreitungen, die am 13. Januar ihren Anfang nahmen.
Morales hatte damals in einer Botschaft an die Nation offen verkündet, dass er angesichts der Unmöglichkeit, das politische System auf parlamentarischem Wege zu verändern, gewillt sei, die Straße zu mobilisieren. Darin sehe er das einzige Mittel, die bolivianische Regierung daran zu hindern, die fossilen Energievorräte (vor allem die Gasvorkommen, die gerade an die multinationale Pacific LNG verkauft werden sollten) dem ausländischen Kapital auszuliefern, die vollständige Vernichtung der Coca-Pflanzungen im Chaparé voranzutreiben und das Land in die Gesamtamerikanische Freihandelszone (FTAA) zu führen. Dies sind die drei Hauptgründe für die soziale Mobilisierung und die von Polizei- und Streitkräften brutal geräumte Straßenblockade.
Die Gewalt, mit der Sánchez de Lozada versucht hat, die Bewegung zu zerschlagen, wurde indes zum einigenden Faktor eines Widerstands, an dem die mächtige Central Obrera Boliviana (COB, die Dachorganisation der bolivianischen Gewerkschaften), die Provinzverbände der Gewerkschaften und die „Koordination zur Verteidigung des Wassers und des Lebens“ beteiligt sind. Diese organisieren, Seite an Seite mit MAS und MIP, den gewerkschaftsübergreifenden so genannten Führungsstab des Volkes, der einmal mehr den Rücktritt des Präsidenten forderte. Dieses Vorgehen führte im Wesentlichen zu dem schleichenden Legitimitätsverlust der Regierung, der in den Ereignissen vom 12. Februar gipfelte. An diesem Tag musste der Präsident den Palacio Quemado, den Regierungspalast, verlassen. Seine Minister suchten das Weite, während die Menge sich anschickte, alles zu plündern. Mit dem Aufstand der Polizei war ein gefährliches Machtvakuum entstanden. Die Regierung hielt sich nur noch mit Hilfe des Militärs.
Der alte Salpeterkrieg und das Erdgas
ALS die erste Angst vorüber war, begann die politische Macht sich wieder zu konsolidieren. Aber selbst der Präsident des Unternehmerverbandes, Carlos Calvo, forderte eine Änderung am wirtschaftlichen Modell. Formal tat Sánchez de Lozada dem Genüge, indem er am 19. Februar sein Kabinett umbildete. Er entließ vier seiner sechzehn Minister und versprach im Übrigen, auf sein Gehalt zu verzichten und das der Minister zu kürzen. Das Programm der guten Absichten fand seine Krönung in der Ernennung eines Staatssekretärs für die Überprüfung der Privatisierungen. Der IWF trug zu der fragilen Befriedung dadurch bei, dass er für das laufende Jahr nicht 3,1 Prozent Abbau des Haushaltsdefizits verlangt, sondern nur noch 2,1 Prozent, und auch die Alternativlösung, die Erhöhung der Mineralölsteuern, bleibt in der Schublade.
Diese Schachzüge sind jedoch kein Garant für eine Stabilisierung der Lage. Die sozialen Bewegungen sind unverändert kampfbereit, und man hat schon einen größeren Konflikt für den Fall vorausgesagt, dass Sánchez de Lozada den Verkauf der Erdgasvorräte an Pacific LNG verkündet – „ein Mega-Entwicklungsprojekt“, wie der Präsident behauptete. Doch der Preis, zu dem das Gas verkauft werden soll, die armseligen Gewinne, die dem Land daraus erwachsen, und die Unfähigkeit der Regierung, eine wirkliche Entwicklungsstrategie vorzulegen, sind Gegenstand heftiger Debatten.
Außerdem hat Pacific LNG laut Projektstudie die Absicht, das Gas per Fernleitung über einen chilenischen statt einen peruanischen Hafen zu exportieren, obwohl die Behörden in Lima Bolivien viel vorteilhaftere Bedingungen anbieten als die chilenischen. An diesem Punkt wird die Loyalität der Streitkräfte zur Regierung möglicherweise an ihre Grenzen stoßen. Die meisten Offiziere und viele Bürger lehnen das Projekt wegen eines alten Streits mit Chile ab, der auf den Salpeterkrieg (1879–1883) zurückgeht, der für Bolivien mit dem Verlust seines Zugangs zum Meer geendet hatte.
Besonders dubiose Machenschaften kamen ans Licht, als die Regierung die Firma Intec damit beauftragte, in einer „unparteiischen“ Studie zu klären, wie dieses Gas zu den für Bolivien günstigsten Konditionen in die USA exportiert werden könne. Unabhängige Wissenschaftler fanden heraus, dass Intec, für die Durchführung der Studie von der amerikanischen Trade Development Agency mit 386 000 Dollar bedacht, nicht nur eng mit dem Bechtel-Konzern zusammenhängt, sondern auch Verbindungen zu Repsol-YPF, British Gas und BP Amoco besitzt, aus denen sich die Unternehmensgruppe Pacific LNG zusammensetzt.10
Warum ist Sánchez de Lozada nicht schon am 13. Februar zurückgetreten? Die Antwort verrät ein kurzer Blick auf die Schwachstellen der Sozialbewegung. Wenngleich sie örtlich stark ist und über regionale Strukturen verfügt, hat sie es nicht geschafft, landesweit Fuß zu fassen. Auch sieht es so aus, als hätte sie ihr ganzes Entwicklungspotenzial bereits ausgeschöpft. Ihre Argumentation wird von Mal zu Mal radikaler, aber nicht innovativer. Dank ihrer quantitativen Stärke kann sie zwar das Land lähmen und den Staat schachmatt setzen. Aber infolge ihrer strukturellen Schwäche und des von Willkür und mangelnder Erfahrung bestimmten Handelns ihrer Anführer hat sie es bislang nicht vermocht, ein alternatives Wirtschafts- oder Strategiekonzept zu entwickeln. Mit ihrem wachsenden Hang zu offener Konfrontation hat sie sich von den Ereignissen vom 13. Februar überrollen lassen. In Wirklichkeit war es nämlich die revoltierende Menge, die die Regierung beinahe gestürzt hätte.
Bolivien ist hin und her gerissen zwischen einem abgewirtschafteten System und einem anderen, das noch keine Gestalt angenommen hat. Während der Präsident im Fernsehen verkündet, dass nur er allein das Land werde retten können, hört man von der Opposition, dass „nach ihm kein Land mehr“ übrig sein werde. Den traditionellen Parteien gelingt es nicht mehr, ihre Gefolgschaft zu sammeln. Die einheimischen Unternehmen und die städtische Mittelschicht befinden sich in einer Art Niemandsland. Und der einzige große Sieg der Sozialbewegung liegt darin, in der öffentlichen Meinung die Einsicht durchgesetzt zu haben, dass es in Wirklichkeit zwei Gewalten gibt: die staatlichen Institutionen und die Gewerkschaften und Verbände.
So bescheiden diese Entwicklung sich ausnimmt – immerhin bereitet sie den Mächtigen des Landes und ihrem großen Sponsor im Norden einiges Kopfzerbrechen. In einem Bericht, den US-Botschafter Greenlee am 28. März der bolivianischen Regierung übergeben hat, wurde behauptet, dass es Pläne für einen Staatsstreich im April gebe, hinter dem die MAS-Abgeordneten Evo Morales und Filemón Escobar stünden. Noch beunruhigender ist, dass Greenlee – der 1988 Station Chief der CIA in Bolivien war – hinzufügt, eine Gruppe innerhalb des MAS habe die Absicht, Evo Morales und Filemón Escobar während des Putsches zu ermorden.
Wollte man, um Verwirrung zu stiften, die Verhaftung oder Ermordung von Evo Morales vorbereiten? Oder gar, wie Manfred Reyes, Führer der Oppositionspartei Nueva Fuerza Republicana (NFR) behauptet hat, einen Staatsstreich von oben?
deutsch von Christian Hansen
* Journalist, Mitherausgeber der bolivianischen Ausgabe von Le Monde diplomatique.