Großes Aufgebot im integralen Krieg
AM 6.Mai wurden zehn Geiseln der Guerillaorganisation Farc während eines Befreiungsversuchs der Armee durch Genickschuss getötet. Unter den Opfern befinden sich der Provinzgouverneur Gaviria und der ehemalige Verteidigungsminister Echeverri. Die Farc hält zahlreiche Politiker als Geiseln fest, darunter, seit über einem Jahr, die ehemalige Präsidentschaftskandidatin Ingrid Betancourt. Ein Abkommen zum Gefangenenaustausch zwischen Staat und Rebellen wird von der Regierung Uribe noch immer abgelehnt. Der Bürgerkrieg in Kolumbien scheint jedesmal, wenn auf einen Frieden hingearbeitet wird, an einer anderen Stelle neu aufzuflackern. Die Zusammenhänge zwischen Drogenhandel und Politik, zwischen regionalen Interessen und nationaler Sicherheitspolitik sind jedoch nicht so undurchschaubar, wie es von außen oft den Anschein hat. Der entscheidende Faktor sind die paramilitärischen Gruppen, die vom Handel mit Kokain profitieren und ihn teilweise sogar kontrollieren. Die gegenwärtige Konstellation scheint auf die Legalisierung des Paramilitärs und eine Paramilitarisierung der gesamten kolumbianischen Gesellschaft hinauszulaufen.
Von HERNANDO CALVO OSPINA *
In seinem Kampf gegen die Guerillaorganisationen hat der kolumbianische Staat bislang immer versucht, das Sozialgefüge, das die Guerilla tatsächlich, angeblich oder potenziell unterstützt, zu zerstören oder zumindest zu neutralisieren. Der „schmutzige Krieg“, der über die letzten 35 Jahre die Form von Staatsterror angenommen hat, stützt sich „auf zwei Grundpfeiler: die verdeckten oder geheimen Operationen der Streitkräfte und die Aktionen des Paramilitärs. Sie sind das Nervenzentrum des staatlichen Konzepts zur Aufstandsbekämpfung, vor allem das der Streitkräfte.“1
Auf nationaler wie auf internationaler Ebene haben sich angesehene Intellektuelle und einflussreiche Medien die Darstellung des kolumbianischen Staates zu Eigen gemacht. Wie dieser behaupten sie, das Paramilitär sei eine „dritte Partei“ in dem Konflikt, ein unkontrollierbarer „Selbstläufer“. Der geschwächte und machtlose Staat sei zusammen mit der Bevölkerungsmehrheit Opfer der „Gewalttäter“. Das paramilitärische System sei eben die Konsequenz des Zusammenwirkens von Drogenhändlern, irregeleiteten Militärs, Großgrundbesitzern und Bauern, die sich gegen die Übergriffe der Guerilla organisiert hätten.
Dem entgegen erklärte der Jesuit und Menschenrechtsaktivist Javier Giraldo: „Wir, die wir die aktuelle Erscheinung aus historischer Perspektive analysieren, lehnen es ab, das paramilitärische System als ‚dritte Partei‘ in diesem Konflikt zu bezeichnen. Es ist keine dritte Partei. Es ist immer noch dasselbe geheime, illegale Exekutivorgan des Staates, das schon seit Jahrzehnten existiert. Und genau diese historische Perspektive hindert uns daran, den kolumbianischen Staat als einen Rechtsstaat zu betrachten.“2
Als Reaktion auf den Sieg der kubanischen Revolution 1959 entwickelten die Vereinigten Staaten ihre Nationale Sicherheitsdoktrin. Diese wollten sie in ihrer Hemisphäre durchsetzen, um neue Aufstandsversuche zu verhindern oder ihnen zumindest entgegenzutreten. Nach der Logik dieser Doktrin wird der „innere Feind“ zum Bezugspunkt einer ganzen Ideologie, die im Wesentlichen aus Antikommunismus besteht und die Streitkräfte als Beschützer der staatlichen Institutionen betrachtet. So wird die Aufstandsbekämpfung – bei allen je nach Land unterschiedlichen Besonderheiten – zur zentralen Sicherheitsfrage, und „die Vernichtung des ‚inneren Feindes‘ wird zum Ziel, wenn nicht gar zum Endzweck des Staates“.3 In der Zeitschrift der kolumbianischen Armee (1961, Nr. 6) schrieb der damalige Kriegsminister: „Der Hauptfeind, gegen den sich der Einsatz der Streitkräfte [richten muss], befindet sich im Innern, in einem Bereich, der von fremden, marxistisch geprägten Ideologien beherrscht wird, die der Kultur und Zivilisation des Abendlandes widersprechen.“ Eins der ersten Lehrbücher zur Aufstandsbekämpfung definiert den „inneren Feind“ zudem mit simplen und gefährlichen Begriffen: „Jede Person, die in der einen oder anderen Form die Absichten des Feindes unterstützt, muss als Verräter angesehen und als solcher behandelt werden.“4
1962 begannen US-Spezialeinheiten damit, in Kolumbien Antiguerilla-Einheiten aufzustellen und Spezialisten in psychologischer Kriegsführung und in der Einbeziehung von Zivilisten bei paramilitärischen Aktivitäten auszubilden – dasselbe, was sie auch in Vietnam taten. Drei Jahre später, als gerade die ersten Rebellengruppen entstanden waren, erließ die Regierung ein Dekret (Nr. 3398/1965) zur „Nationalen Verteidigung“. Ein Abschnitt ermächtigt das Kriegsministerium, zivile Gruppen zu bilden, die „mit Waffen, deren Gebrauch ausschließlich für die Streitkräfte vorgesehen ist, ausgerüstet werden können“. Damit war die Rechtsgrundlage für das paramilitärische System geschaffen. 1968 wurde das Dekret in das Gesetz Nr. 48 umgewandelt, das bis 1989 in Kraft blieb, bis der Oberste Gerichtshof es für verfassungswidrig erklärte.
1969 erfolgte eine Dienstanweisung der Armee, „die Zivilbevölkerung in militärischer Form zu organisieren, damit sie die Durchführung von Kampfoperationen unterstützt“, und zwar unter „direkter Kontrolle militärischer Einheiten“.5
1976 hieß es in der Zeitschrift der Streitkräfte (Nr. 83): „Wenn ein begrenzter, nicht konventioneller Krieg übermäßige Risiken mit sich bringt, können paramilitärische Techniken eine sichere und nützliche Methode darstellen, die politischen Ziele notfalls mit Gewalt durchzusetzen.“ Wichtig war, dass das Erscheinungsbild der Streitkräfte makellos blieb, und so geschah es dann auch. In jenen Jahren entstanden die Alianza Anticomunista Americana (Triple A – Die Drei A) und weitere phantomhafte, mit Abkürzungen bezeichnete Organisationen, die nun Vertreter der politischen Opposition und systemkritische Persönlichkeiten bedrohten, ermordeten und verschwinden ließen. Später erfuhr man, dass es sich um Spezialeinrichtungen des militärischen Nachrichtendienstes handelte, die von der obersten Führungsspitze organisiert wurden.6
Anfang der Achtzigerjahre nahm die Guerillaorganisation der Farc (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia) Gespräche mit der Regierung Betancurt zur Lösung des Konflikts auf. Die Farc beteiligten sich an der Gründung der Unión patriotica (UP), die ihren Platz als demokratische Partei einnehmen sollte. Gleichzeitig eskalierte der „schmutzige Krieg“ gegen die Gewerkschafts- und Bauernführer. Das war kein Zufall: „Den Grundzügen der Nationalen Sicherheitsdoktrin entsprechend handelte es sich bei den Bemühungen um eine gewaltlose oder politische Lösung des internen Konflikts in Kolumbien in den Augen der Armeeführung um Vorstöße der ‚kommunistischen Guerilla‘ bei deren Kampf um die Macht.“7
Wie in offiziellen Untersuchungen nachgewiesen wurde, zog die Armeeführung lokale Funktionäre der Liberalen und der Konservativen Partei, Großgrundbesitzer und Mafiabosse zum Aufbau krimineller paramilitärischer Strukturen heran. So begann eine der blutigsten und makabersten „Vernunftehen“ der neuesten politischen Geschichte Kolumbiens. Zudem gab die Armee eine weitere interne „Dienstanweisung für den Antiguerilla-Kampf“ heraus (EJC 3-10, vertraulich, 1987). Darin werden subversive Kräfte nach zwei Erscheinungsformen unterschieden: „aufständische Zivilbevölkerung“ und „bewaffnete Gruppe“. Folglich „ist die Zivilbevölkerung eines der wesentlichen Ziele der Armee-Einheiten“.
Mitte der Neunzigerjahre waren durch staatlichen Terror, ausgeübt vom paramilitärischen System – unter Bezeichnungen wie sicariato (Einsatz von Auftragskillern), „Todesschwadronen“ –, ungefähr 25 000 Anhänger der Linken und als fortschrittlich bekannte Persönlichkeiten umgebracht worden oder verschwunden. 3 000 Mitglieder der UP wurden ermordet, darunter zwei Präsidentschaftskandidaten (Jaime Pardo Leal und Bernardo Jaramillo) sowie beinahe alle ihre Bürgermeister, Stadträte und Parlamentarier. Deshalb wurde der kolumbianische Staat vor der Menschenrechtskommission der OAS (Organisation Amerikanischer Staaten) wegen „politischen Völkermordes“ verklagt – so weit haben es nicht einmal die Diktaturen im Süden Lateinamerikas gebracht. Ironie der Geschichte: Während man die legale Opposition abschlachtete, erstarkte die Guerilla.
Human Rights Watch wies in ihrem Jahresbericht 1996 nach, dass CIA und Pentagon mitgeholfen haben, „Nachrichtensysteme“ zu reorganisieren, „die zum Aufbau von Überwachungsnetzwerken führten, um Zivilisten, die im Verdacht standen, mit der Guerilla zusammenzuarbeiten, zu identifizieren und zu ermorden“8 . 1994 erließ die Regierung unter Präsident César Gaviria, dem heutigen Generalsekretär der OAS, ein Dekret (Nr. 35 67 vom 11. Februar) zur Gründung von Verbänden zur „Sicherheit auf dem Land“ (Asociaciones Comunitarias de Seguridad Rural), den so genannten Convivir („Zusammenleben“). Sie sollten nützliche Informationen sammeln und die Aktivitäten aufständischer und paramilitärischer Gruppen verhindern helfen. Die Wirklichkeit zeigte, dass die Convivir-Verbände viele im Dienst von Drogenhändlern und Großgrundbesitzern stehende Auftragskiller-Netzwerke legalisierten und dabei die Zivilbevölkerung als Feigenblatt benutzten.9
Auf internationalen Druck stellte schließlich die Regierung von Präsident Samper im Dezember 1997 eine dem Verteidigungsminister unterstellte Spezialeinheit zusammen, die die Führer der inzwischen AUC (Autodefensas Unidas de Colombia) genannten paramilitärischen Gruppen festnehmen sollte. Nach einem Jahr „glänzten die Ergebnisse vor allem durch Abwesenheit“10 . Der Jesuit Javier Giraldo führt aus: „Die Fahndungsgruppen haben es nicht nur verstanden, ihre Ankunft am jeweiligen Tatort so zu planen, dass die Verbrechen bereits ausgeführt und die Mörder wieder in Sicherheit waren, sondern haben es immer auch hinbekommen, irgendwelche gewöhnlichen Kriminellen zu verhaften, die sie dann als Angehörige des Paramilitärs präsentieren konnten.“
Am 7. Januar 1999 erklärte die Regierung Pastrana ihre Bereitschaft zum Dialog mit den Farc, der militärisch stärksten Guerillagruppe, und signalisierte über andere Kanäle auch der ELN (Ejército de Liberación Nacional – „Nationale Befreiungsarmee“) Dialogbereitschaft. Wie damals bei den Verhandlungsvorbereitungen unter Präsident Betancurt eskalierte daraufhin die paramilitärische Gewalt: 1999 gab es 168 aktenkundige Massaker, bei denen jeweils mehr als drei Menschen zu Tode kamen. Im Jahr 2000 stieg die Zahl auf 236. Insgesamt gab es dabei 1 226 Todesopfer, 297 mehr als 1999.
Auffällig war ein besonderer Umstand, der in den Medien nur andeutungsweise erwähnt wurde: „Aus den Statistiken geht eindeutig hervor, dass die dem Militär zur Last gelegten Fälle von Menschenrechtsverletzungen im gleichen Maße abgenommen haben, wie sich die Zahl der Verbrechen die den AUC zugeschrieben werden, erhöht hat.“11 Der so genannte Defensor del pueblo, eine Art Ombudsman, erläuterte diesen äußerst „sonderbaren“ Sachverhalt: „Es handelt sich um eine neue Form illegaler und unkontrollierbarer Repression, die manche Beobachter sehr zutreffend als ‚delegierte Gewalt‘ bezeichnet haben.“12
Ein weiterer besonderer Umstand hat ebenfalls keine größere Beachtung gefunden: Es kam nur äußerst selten zu Zusammenstößen zwischen der Armee und den paramilitärischen Gruppen, die jedoch für 70 Prozent der zivilen Opfer des Bürgerkriegs verantwortlich sind. Den AUC gehören nach Schätzungen etwa 11 000 Mitglieder an, die über das ganze Staatsgebiet verteilt sind und sich in strategisch und wirtschaftlich wichtigen Gebieten konzentrieren.
Carlos Castaño, Chef einer paramilitärischen Gruppe, meint dazu: „Der Druck der internationalen Gemeinschaft kann vielleicht das Oberkommando beeinflussen, aber an Ort und Stelle wird es niemandem gelingen, Brüder zu entzweien, die sich gegen denselben Feind verschworen haben. Ich habe von der Armee nichts zu befürchten, sie kann mir nichts anhaben.“13 Und die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte bestätigt in ihrem Bericht von 2001: „Die Kommission hat die Aussagen hoher Armeeoffiziere zur Kenntnis genommen, in denen erklärt wird, dass das Paramilitär nicht die Verfassungsordnung verletzen und dass es demzufolge nicht Aufgabe der Armee sei, sie zu bekämpfen. […] Im Gegensatz dazu finden militärische Großoffensiven gegen die Guerillas statt, bei denen gewaltige personelle und logistische Mittel in wochenlangen Feldzügen eingesetzt werden. […] Angriffe auf die paramilitärischen Organisationen beschränken sich im Allgemeinen auf kleinere Gefechte, Durchsuchungen und gelegentliche Festnahmen einzelner Personen.“
Castaño gibt zu, dass er bei der israelischen und der kolumbianischen Armee ausgebildet wurde, dass er freundschaftliche Beziehungen zum hohen katholischen Klerus und zu vielen führenden Politikern Kolumbiens unterhalten hat und dass „die Amerikaner“ seine verbrecherische Organisation „toleriert haben“, obwohl sie sie als „terroristisch“ bezeichneten. Außerdem bestätigt er, dass sich die AUC nicht nur über Drogenhandel finanzieren, sondern auch einen beträchtlichen Teil dieses Geschäfts beherrschen.14 Was ihn nicht daran hinderte, „freundschaftliche Beziehungen“ zur DEA (Drug Enforcement Agency – US-Drogenbekämpfungsbehörde) und zur CIA zu unterhalten und in direktem Kontakt mit der Ermittlungseinheit der kolumbianischen Polizei (Bloque de búsqueda) zu stehen, die in ihrem Kampf gegen den Drogenhandel mit DEA und CIA zusammenarbeitet und so 1993 Pablo Escobar zur Strecke gebracht hat.
Für diese Zusammenhänge gibt es viele Hinweise. Amnesty international hat die amerikanische Regierung um Zugang zu den entsprechenden Geheimarchiven ersucht – und keine Antwort erhalten. Nachdem die Bosse der Drogenkartelle von Medellín und Cali entweder tot oder inhaftiert waren, nutzten die AUC den legalen Freiraum, den ihnen die Convivir-Gruppen boten, und übernahmen die Kontrolle über die Drogenverarbeitung und den Export. Im September 1997 teilte die in Paris ansässige Geopolitische Beobachtungsstelle für Drogen mit, dass das Kokain, das über spanische, belgische und niederländische Häfen nach Europa kam, überwiegend aus den von AUC kontrollierten kolumbianischen Küstengebieten stammte. Auf die kaum bestrittene Tatsache, dass die AUC heute „ein neues militarisiertes mafioses Kartell (…) und die weltweit größten Kokainexporteure“ sind, wird, wie ein Senator bestätigt, nur sehr selten aufmerksam gemacht.15
Eine sechste Division?
NICHT einmal nach der Annahme des so genannten Plan Colombia, der als Beihilfe Washingtons zur Beendigung des Drogenhandels und zur Beseitigung der daran beteiligten Organisationen gilt, hatten die paramilitärischen Gruppen mit Verfolgung zu rechnen. Die US-Regierung beschränkte sich wie gewöhnlich auf offizielle Erklärungen und stellte keine konkreten Forderungen an die kolumbianische Regierung. Angesichts dieser Sachlage meint Javier Giraldo: „Offensichtlich ist die dort formulierte Strategie der militärischen Repression gegen den Drogenhandel reine Fiktion. Sie dient lediglich dazu, die militärische Beteiligung der Vereinigten Staaten am Konflikt in Kolumbien zu tarnen.“
Die paramilitärischen Einheiten sollen in der Strategie der Aufstandsbekämpfung weiterhin eine zentrale Rolle beim Einsatz gegen den „inneren Feind“ spielen. In einer ausführlichen Reportage, die der Journalist Karl Penahaul Anfang 2001 für den Boston Globe schrieb, geht es um Putumayo, eine der in den Plan Colombia einbezogenen Regionen, in der jedoch auch die Guerilla stark vertreten war. Penahaul beobachtete, wie ein paramilitärischer Wachposten „in einem Lebensmittelpaket ‚C‘ der US-Army wühlte und nach Kaugummi und Süßigkeiten suchte. Unsere Fragen, woher die Proviantlieferungen stammten, beantwortete er nicht. Sie waren für die drei Drogenbekämpfungs-Einheiten der kolumbianischen Armee bestimmt, die von Beratern der amerikanischen Spezialstreitkräfte ausgebildet wurden und die ganz in der Nähe kaserniert waren.“
Im August 2002 übernahm Alvaro Uribe Vélez mit 53 Prozent der Stimmen (bei einer Wahlbeteiligung von unter 50 Prozent) das Amt des kolumbianischen Präsidenten. Uribe, ein Großgrundbesitzer, dessen Vater, wie verschiedene Untersuchungen belegen,16 Drogenhändler war, wurde der wichtigste Förderer der Convivir-Gruppen. Über ihn sagt der AUC-Führer, er sei „der Mann, der unserer Philosophie am nächsten steht“.17 Vor seinem Wahlsieg erwähnten mehrere nationale und internationale Presseorgane immer wieder seine offenkundigen Verbindungen mit dem Medellín-Kartell und den paramilitärischen Gruppen. Aus mysteriösen Gründen interessieren diese Themen heute nicht mehr, stattdessen wird Vélez für seine Entscheidung, einen totalen Krieg gegen die Rebellenorganisationen zu führen, in höchsten Tönen gelobt. Der Wissenschaftler und Menschenrechtsaktivist Diego Pérez Guzmán behauptet, Ziel des Präsidenten sei es, „das Vertrauen der ausländischen Investoren in Kolumbien wiederzugewinnen. Deshalb muss er, koste es, was es wolle, die öffentliche Ordnung wieder unter seine Kontrolle bringen.
Wie hoch der Blutzoll unter der unbeteiligten Zivilbevölkerung ist – darauf kommt es ihm nicht an. Auch wenn er die Dinge nicht offen beim Namen nennt: Sein eigentliches Ziel ist die durchgreifende Paramilitarisierung von Staat und Gesellschaft.“18 Im Rahmen von Präsident Uribes Politik der „demokratischen Sicherheit“ sollen bis zu einer Million Kolumbianer als Informanten angeworben werden – nach dem Vorbild der Convivir-Gruppen. 25 000 Landbewohner sollen eine militärische Ausbildung erhalten und danach in ihre Gemeinden zurückkehren, als eine Art Bauernmiliz – was in fataler Weise an die PAC (Patrullas de Autodefensa Civil – „Patrouillen zur zivilen Selbstverteidigung“) in Guatemala erinnert. In Wohn- und Geschäftsvierteln sollen lokale Bürgerwehren entstehen.
Außerdem soll ein konzertierter Plan Transportunternehmen und Taxifahrer in die Sicherung der Städte und Straßen einbinden, während private Sicherheitsunternehmen verpflichtet werden, Informationen weiterzugeben und Dienste zu leisten, die die Streitkräfte von ihnen verlangen. Kein Staatsbürger darf neutral bleiben, denn sonst würde er sich der Gefahr aussetzen, als Kollaborateur der Rebellen zu gelten. Die wenigen staatlichen Institutionen, die bislang noch nicht an der Strategie zur Aufstandsbekämpfung beteiligt waren, wurden bereits in den „integralen Krieg“ einbezogen – einschließlich der Generalstaatsanwaltschaft. Innerhalb eines Jahres wurden fünfzehn Beamte dieser Behörde abgesetzt. Sie hatten Ermittlungen gegen paramilitärische Führer und hohe Befehlshaber der Streitkräfte eingeleitet, die an schweren Menschenrechtsverletzungen beteiligt waren. Darüber hinaus wurden in den Provinzen Sucre, Bolivar und Arauca zwei Sicherheitszonen geschaffen, in denen die von der Verfassung garantierten Rechte keine Geltung mehr besitzen. Hier hat die unmittelbare Befehlsgewalt der Armee die Regionalregierung abgelöst. Es ist somit nicht völlig übertrieben, von einem Staat mit faschistischen Merkmalen zu sprechen.
Während die Verhandlungen der Regierung Uribe mit den Farc und der ELN bald an einem Punkt angelangt waren, wo es weder vor noch zurück ging, hieß dieselbe Regierung die paramilitärischen Gruppen mit offenen Armen willkommen. „Wir dürfen uns dem wiederholten Aufruf zu Dialog und Versöhnung nicht verschließen, den die Regierung des Landes uns auf verschiedenen Wegen hat zukommen lassen …“, heißt es in einem Kommuniqué paramilitärischer Führer, das im November letzten Jahres veröffentlicht wurde. Mit dem Segen Washingtons und nach wochenlangen vorbereitenden Treffen zwischen dem Hochkommissar für den Frieden, Luis Carlos Restrepo, fünf Bischöfen und den paramilitär-Anführern wurden die Verhandlungen für den 27. November vorigen Jahres anberaumt. Am 1. Dezember trat ein Waffenstillstand in Kraft. Mit so viel Wohlwollen wurden nicht einmal die nicaraguanischen Contras behandelt. Inzwischen hat die Regierung eine Untersuchungskommission berufen. Der Waffenstillstand lässt sich bislang ausgesprochen leicht einhalten – schließlich hat die Armee, die über fünf Divisionen verfügt, das Paramilitär, auch „die sechste Division“ genannt, noch kein einziges Mal ernsthaft angegriffen.19 Das kann nicht weiter verwundern, wenn man sich die Bedeutung vor Augen hält, die das paramilitärische System inzwischen erreicht hat. Und so ist es auch nur folgerichtig, dass es eine neue Rolle zugebilligt bekommen soll. Ziel der Verhandlungen ist ein Straferlass für Paramilitär-Mitglieder. Das würde es ihnen erlauben, ganz legal in einem der zahlreichen Apparate unterzutauchen, die derzeit aufgebaut werden und in denen sie ihrer bisherigen Beschäftigung weiter nachgehen werden.
Aber sie hätten einen Straferlass auch streng juristisch genommen nicht verdient: Da sie, wie sie selbst erklären, ihren Kampf zum Schutz der staatlichen Institutionen geführt haben – ihre Anführer nennen das die „Organisation eines Parallelsystems“ – und da dieser Kampf wesentlicher Bestandteil der Aufstandsbekämpfung ist, gibt es keinen denkbaren politischen Status für sie. Nach internationalem Recht und nach der kolumbianischen Verfassung kann ein solcher Status nur Personen zuerkannt werden, die einen Staat bekämpfen, der das Volk politisch, ökonomisch und sozial unterdrückt. Diese Definition trifft aber nur auf die Guerilla zu.
Doch die Regierung von Präsident Uribe hält unerschütterlich an ihren Entscheidungen fest. Sie verlässt sich auf die Unterstützung der Streitkräfte, der mächtigen Wirtschaftsverbände und der Massenmedien, die den Präsidenten zum „Mann des Jahres 2002“ erklärt haben.
Vor allem aber findet Uribe Rückendeckung bei der Bush-Administration, die vor kurzem ihre Zustimmung gegeben hat, dass das Geld für die Drogenbekämpfung im Rahmen des Plan Colombia künftig in den Kampf gegen die Guerilla gesteckt werden kann. De facto war es zu dieser Mittelübertragung bereits vorher gekommen, und zwar im Widerspruch zu den Beschlüssen des US-Kongresses. Siebzig Angehörige US-amerikanischer Spezialeinheiten sind bereits als Ausbilder einer Armee-Sondereinheit in der Provinz Arauca, dem größten Erdölgebiet des Landes, in unmittelbarer Nähe der venezolanischen Grenze eingetroffen.
„Sie haben eine großartige Strategie im Kampf gegen Unsicherheit und Terrorismus entwickelt.“ Mit diesen Worten wandte sich US-Außenminister Colin Powell bei seiner Kolumbienreise im Dezember an Präsident Uribe. Ihm ist offenbar entgangen, dass die paramilitärische Bewegung in der „großartigen Strategie“ einen entscheidenden Platz einnimmt. Und er hat vielleicht vergessen, dass seine Regierung die Auslieferung der paramilitärischen Führer wegen Drogenhandels beantragt hat, ja mehr noch: dass sie die AUC in die Liste der terroristischen Organisationen aufgenommen hat.
deutsch von Ulrich Kunzmann
* Kubanischer Journalist. Zuletzt erschien auf Deutsch „Im Zeichen der Fledermaus. Bacardi und der geheime Krieg gegen Kuba“, Papyrossa Verlag 2002.