Von der Freiheit, Schulden zu machen
Von JAMES K. GALBRAITH *
DER Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank wurden 1944, in der Endphase des Zweiten Weltkriegs, durch die Konferenz von Bretton Woods in die Welt gesetzt. Leiter der britischen Delegation war der Ökonom John Maynard Keynes. Seine weltweite Prominenz, die ihm diese Berufung eingebracht hatte, rührte zum einen von seiner weitsichtigen Kritik des Versailler Friedensvertrags von 1919, zum anderen von seinen revolutionären theoretischen Erkenntnissen und seinen politischen Empfehlungen zur Bekämpfung der Weltwirtschaftskrise in den 1930-Jahren. Wie Robert Skidelsky in seiner dreibändigen Keynes-Biografie1 beschreibt, hatte Keynes in Bretton Woods mit dem US-amerikanischen Finanzminister einen Gegenspieler, der entschlossen war, das praktisch bankrotte Großbritannien einer strengen Finanzaufsicht zu unterwerfen. Bis zum Ende des Krieges hatte US-Präsident Franklin D. Roosevelt den Briten diese Zumutung noch erspart, weil der Lend-Lease Act dem Alliierten den größten Teil der Kriegskosten finanzierte.2 Aber für die Nachkriegszeit standen Fragen von größerer Bedeutung und Reichweite zur Entscheidung an. Aus den Bemühungen, die Keynes damals zum Aufbau einer multilateralen Weltfinanzordnung unternahm, lassen sich auch noch heute wichtige Denkanstöße gewinnen.
Keynes strebte nämlich für die Welt nach 1945 ein System an, in dem die großen Staaten nicht verpflichtet waren, alle auf sozialen Fortschritt – wie zum Beispiel auf Vollbeschäftigung – zielenden Bestrebungen der Erfüllung finanzieller Verpflichtungen unterzuordnen. Ihm schwebte ein mit großzügigen und beschützenden internationalen Finanzinstitutionen einhergehender Freihandel vor. Ein Hauptmerkmal dieses Systems sollte das Prinzip des creditor adjustment sein. Es bedeutet, dass Sanktionen gegen Länder verhängt werden können, die einen Handelsüberschuss erzielen (und nicht etwa gegen Länder, die ein Handelsbilanzdefizit aufweisen). Damit sind die Länder mit aktiver Handelsbilanz vor die Wahl gestellt, entweder diskriminierende Maßnahmen gegen ihren Handel in Kauf zu nehmen oder ihre Inlandsnachfrage und damit das Importvolumen zu erhöhen. Verschuldete Länder dagegen können Überziehungskredite bei einer internationalen Clearing-Institution in Anspruch nehmen. Diese sollte, um das nötige Geld aufzubringen, eine internationale Reservewährung (namens bancor) auflegen.
Die Amerikaner wollten davon nichts wissen. Ihr Idealmodell war die Kombination von Laisser-faire-Wirtschaft und Goldstandard. Die Idee einer internationalen Finanzinstitution, die das Interesse der Schuldner repräsentieren sollte, war der Logik der Wall Street ebenso fremd wie die Idee eines Gefängnisses, das von seinen Insassen betrieben wird. Schulden, die man heute aufnimmt, muss man morgen begleichen, auf Heller und Pfennig. Das Nachkriegsfinanzsystem sollte von den reichen Ländern betrieben werden. Letztlich akzeptierte die US-Regierung die Bretton-Woods-Institutionen IWF und Weltbank, da sie weitaus traditionelleren Regeln folgten, als sich Keynes erhofft hatte. Dafür genehmigten die Amerikaner nach 1945 Großbritannien ein weiteres Darlehen, dessen Konditionen in den Augen von Keynes allerdings unerträglich hart ausfielen.
Im weiteren Verlauf wurde die Lage der Briten dann aber durch zwei Entwicklungen erleichtert. Erstens bedeutete der Marshall-Plan, der mit dem Kalten Krieg kam, in materieller und finanzieller Hinsicht eine erhebliche Entlastung. Zwar wurde die Bedrohung Westeuropas durch die sowjetische Militärmacht ziemlich übertrieben, doch dabei ist zu bedenken, dass das ökonomische und politische System der Sowjetunion damals noch keineswegs so diskreditiert war wie heute. Damit machte die sowjetische Herausforderung den raschen Wiederaufbau einer Nachkriegswirtschaft und die Einführung sozialdemokratischer Reformen zu einem absoluten Muss.
Vor allem die New-Deal-Projekte der Roosevelt-Ära und später auch die Great-Society-Programme unter Lyndon B. Johnson (verbesserte Sozialversicherung und Gesundheitsversorgung, staatliche Förderung des Erziehungswesens und des privaten Hauserwerbs, aktive Kreditmarktpolitik) bewirkten einen langfristigen Transformationsprozess, der die Konsumgewohnheiten der US-amerikanischen Haushalte veränderte und die Vereinigten Staaten zu so etwas wie einer keynesianischen Lokomotive für die übrige Welt machte. In dieser Zeit kann man tatsächlich von Konvergenz reden: In den armen Ländern wuchs die Wirtschaft schneller als in den reichen.
Doch in den 1970er-Jahren war dieses System am Ende, als die Geschäftsbanken wieder die Entwicklungsfinanzierung übernahmen. Die bewiesen innerhalb weniger Jahre, dass Keynes Recht gehabt hatte. In den 1980er-Jahren war die „barbarische Konterrevolution“3 bereits in vollem Gange. Das gesamte System brach zusammen, die Entwicklungsländer versanken in der Schuldenkrise und im Sumpf spekulativ erzeugter Instabilität.
Brasilien bietet Stoff für eine interessante Fallstudie. Das Land hat an die 250 Milliarden Dollar Schulden, seine Wirtschaft steckt in einer tiefen Rezession, und die Handelsbilanz weist einen Überschuss auf. Das Keynes‘sche Rezept wäre da eindeutig: Das Land muss Vollbeschäftigung anstreben und den Handelsbilanzüberschuss reduzieren. Und dieser Kurs müsste zwangsläufig durch eine Emission der internationalen Reservewährung finanziert werden. Der heutige IWF bietet dagegen nur ein 30-Milliarden-Dollar-Darlehen unter der strikten Auflage, dass die brasilianische Inlandsnachfrage weiterhin gebremst bleibt. Dieses Darlehen ist schlichtweg eine Methode, die den Gläubigern die Möglichkeit offen hält, ihr Geld abzuziehen, wenn sich andere Geldanlagen anbieten.
Zudem bekommt Brasilien so viel Geld auch nur deshalb, weil es ein großes Land mit einer wirklich enormen Schuldenlast ist und weil hier die Linke auf potenziell bedrohliche Weise im Kommen ist. Argentinien dagegen, wo sich keine so klaren politischen Strömungen herausbilden, erhält viel weniger Geld, obwohl das Land in den 1990er-Jahren – anders als Brasilien – wegen seiner vorbildlich neoliberalen Wirtschaftspolitik allenthalben gepriesen wurde. Dasselbe zeigt sich am Beispiel Türkei: Auch hier wird ein Land mit exemplarisch neoliberalem Kurs und drückender Schuldenlast nur so weit unterstützt, wie es seiner strategischen Bedeutung und seiner Kooperationsbereitschaft im Irakkrieg entspricht.
Es gibt nur wenige Länder, die so erfolgreiche Entwicklungsstrategien verfolgt haben wie China, das in der ganzen Periode der Globalisierung eine merkantilistische Politik verfolgt und detaillierte Planungsstrategien entwickelt hat. Abzuwarten bleibt allerdings, ob das erfolgreiche chinesische Modell die kürzlich eingegangene Verpflichtung, den Handel gemäß der WTO-Regeln zu liberalisieren, überstehen wird. Indien versucht einen Mittelweg, indem es an Devisen- und Kapitalverkehrskontrollen festgehalten hat und deshalb seit Beginn der 1980er-Jahre ein langsames, aber stetiges Wachstum aufrechterhalten konnte.
Europa will Stabilität um jeden Preis
UND Europa? Hier ist ein Gebiet mit einheitlicher Währung, freiem Handel und unbeschränktem Kapitalverkehr – also fast ein ökonomischer Superstaat, der in vorkeynesianischen Auffassungen befangen ist. Nach den Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts (des so genannten Maastricht-Vertrags) sind die einzelnen Staaten angehalten, ihr akkumuliertes staatliches Haushaltsdefizit auf ein Minimum zu begrenzen, und zwar um jeden Preis. Das heißt vor allem auch ohne Rücksicht auf den jeweiligen Stand der Arbeitslosigkeit (außer bei einer akuten und sehr krassen Rezession) und auf ihre Investitionsbedürfnisse. Die Europäische Zentralbank legt den Zinssatz nach von ihr selbst definierten Kriterien fest (vorrangiges Ziel ist die Preisstabilität).
Das heißt: Die ärmeren Länder der Union können sich nicht abschotten und ihre eigene Industrialisierungspolitik betreiben, wie es China getan hat. Sie können sich auch nicht verschulden, um ihren eigenen, spezifischen Beitrag zur europäischen Entwicklung zu finanzieren, was in den USA alle Einzelstaaten und alle Städte über einen kapitalfinanzierten Haushaltsanteil tun können und auch tun. Zudem können sie nicht – außer in einer extremen Situation – auf das Keynes‘sche Instrumentarium einer makroökonomischen Stabilisierung zurückgreifen oder ihre Währung abwerten, um international konkurrenzfähig zu bleiben.
Deshalb sind sie letzten Endes völlig von den Transferzahlungen aus dem EU-Haushalt abhängig. Der ist zwar groß genug, um den ärmsten Regionen auf die Beine zu helfen, aber zu klein, um die makroökonomische Stabilisierung größerer einkommensschwacher Staaten wie Griechenland oder Spanien zu bewirken – ganz zu schweigen von den neuen Mitgliedstaaten im Osten Europas. In der Rezession, auf die Europa jetzt zusteuert, dürften sich diese Disparitäten eher noch verschärfen. Das heutige Europa ist – wie die Atlantische Allianz von 1945 – der absoluten Herrschaft der Gläubiger unterworfen. Und diese Herrschaft erweist sich, wie es Keynes einst vorausgesagt hat, als eine ökonomische Katastrophe.
Dass die USA von diesen Problemen bis heute relativ unberührt geblieben sind, haben sie drei besonderen Umständen zu verdanken. Erstens fungierte der Dollar jahrzehntelang als internationale Reservewährung, weshalb die USA trotz beträchtlicher Haushaltsdefizite sehr auskömmlich leben konnten. Zweitens genoss das Land lange Zeit den Status eines sicheren Hafens für Geldanleger aus Ländern, die von Vetternwirtschaft, Korruption und instabilen Verhältnissen geplagt waren.
Die dritte Ursache war, dass in den USA innenpolitisch nach wie vor eine grundsätzlich keynesianische Politik betrieben wurde, und zwar auf drei Ebenen. Erstens in einer pragmatischen Politik der Regierung und des Kongresses, in Zeiten konjunktureller Schwäche auf Steuersenkungen zu setzen. Zweitens in der Praxis der Federal Reserve, also der Zentralbank, in solchen Perioden die Leitzinsen zu senken, ohne sich allzu große Sorgen um inflationäre Effekte zu machen. Und drittens in einem umfassenden System staatlicher Ankurbelung des privaten Konsums (insbesondere im Bereich von Wohnungsbau, medizinischer Versorgung, Erziehungswesen und Alterssicherung).
Aber genau diese Vorteile werden in jüngster Zeit – in unterschiedlichem Maße – in Frage gestellt. Zwar wird der Dollar seine privilegierte Stellung nicht so schnell verlieren. Aber die ist keineswegs auf ewig garantiert, insbesondere angesichts der Einführung des Euro, der sich ständig verschärfenden Krise in Japan und der Tatsache, dass die USA mit ihrer Außenpolitik in Verruf geraten sind. Auch die US-Kapitalmärkte haben ihre tadellose Reputation eingebüßt, seit die Spekulationsblase der „new economy“ geplatzt ist und die kriminelle Durchdringung der US-Wirtschaft und das Versagen der großen Wirtschaftsprüfungsunternehmen offenbar geworden sind. Auch die übermäßige Deregulierung hat einen weiten Bereich der gesamten öffentlichen Sozialausgaben auf die Ebene der Einzelstaaten und der Kommunen verlagert, die ihre Ausgaben stark einschränken müssen, da in der gegenwärtigen Rezession ihre Einnahmen schrumpfen.
Sollte das internationale große Geld auch nur beginnen, sich aus den USA zurückzuziehen, würde an den Tag kommen, dass das Land nicht mehr ohne weiteres imstande ist, seine eigene Bedürfnisse finanziell abzudecken. Diese Schwäche würde sich alsbald auf Länder auswirken, die auf die USA als Exportmarkt angewiesen sind, was wiederum deren Fähigkeit, ihre Verschuldung abzutragen, erheblich beeinträchtigen würde. Als Folge davon wären auch der Ruf und die Kreditwürdigkeit von US-amerikanischen Finanzinstitutionen gefährdet, die ja das Bollwerk des internationalen, auf den Dollar gestützten Finanzsystems darstellen. Die Gefahr, dass sich über eine solche Kettenreaktion eine größere Krise entwickelt, ist vielleicht nicht akut, aber auch nicht ganz von der Hand zu weisen.
Zu Beginn des Irakkriegs kam es zwar zu einer Hausse an den Aktienbörsen, doch die war nur eine psychologische Reaktion auf das Ende der Spannungsperiode. Auch das schnelle Kriegsende konnte keine eigenständige Wachstumsdynamik hervorbringen. Und früher oder später stehen uns neue Spannungsperioden bevor, wenn beispielsweise Washington seine Aufmerksamkeit auf Syrien, den Libanon, den Iran oder Nordkorea richten sollte –Konflikte mit durchaus möglichem nuklearem Risiko. Dann aber dürften sich – angesichts der Entscheidung der US-Administration, Bemühungen um atomare Abrüstung einzustellen – immer mehr Anleger die Frage stellen, ob Amerika für ihre Gelder noch der sicherste Zufluchtsort ist.
All diese Überlegungen münden in die entscheidende Frage: Befinden sich die Vereinigten Staaten heute vielleicht schon in einer ganz ähnlichen Lage wie Großbritannien am Ende des Zweiten Weltkriegs? Gibt es nicht eine ganze Reihe struktureller Entsprechungen: ein militärisches Überengagement, eine geschwächte Exportkapazität, eine lange Periode monetärer Dominanz, die sich ihrem Ende nähert, und schließlich Illusionen über die eigene Unentbehrlichkeit auf der weltpolitischen Bühne?
Die Leute, die dieser Tage in Washington über Krieg und Frieden entscheiden, denken natürlich nicht im entferntesten daran, dass ihr Imperium auf finanziellem Treibsand erbaut sein könnte. Doch selbst in den Vereinigten Staaten ist ein politischer Wandel noch möglich. Wenn Bush mit seiner Nachkriegspolitik im Irak scheitert oder wenn er demnächst einen weiteren Krieg beginnen sollte, könnte auch in den USA eine allgemeine Desillusionierung um sich greifen. Wir Amerikaner sind keineswegs ein besonders kriegsbegeistertes Völkchen, und wie lange wir uns auf militärische Unternehmungen einlassen, hängt maßgeblich davon ab, wie viel sie uns kosten. Eine Welle des politischen Wandels könnte am Ende dazu führen, dass sich das US-Militär wieder auf die vorwiegend defensive Rolle zurückzieht, die ihm auch höchstwahrscheinlich selbst am liebsten wäre. Das würde auch die Möglichkeit bieten, uns um die Rekonstruktion unserer Binnenwirtschaft zu kümmern, die auf friedlicheren Prämissen basiert, wie etwa den kollektiven Sicherheitsvereinbarungen in unserer Außenpolitik. Voraussetzung wäre allerdings, dass wir uns die Fähigkeit, unsere eigenen Ressourcen in diesem Sinne zu mobilisieren, nicht allzu sehr durch Rücksichten auf die internationalen Finanzmärkte beschneiden lassen.
Über eine so langfristige Möglichkeit nachzudenken mag heute vielleicht noch müßig erscheinen. Aber sollte eine solche Entwicklung tatsächlich eintreten, werden wir US-Amerikaner – wie auch die übrige Welt – auf eine aufgeklärte, verständnisvolle Haltung der Länder und ihrer Bürger angewiesen sein, die dann das neue privilegierte Finanzzentrum darstellen. Dieses Zentrum wird höchstwahrscheinlich auf dem europäischen Kontinent liegen. Aber die Europäer dürfen dann, wenn und falls es so weit kommen sollte, nicht den Fehler wiederholen, den die USA 1945 gemacht haben. Sie dürfen nicht – wie wir damals – die wichtigsten Entscheidungen und die Schlüsselinstitutionen Leuten ausliefern, die wie Banker denken und agieren.
deutsch von Niels Kadritzke
* Professor an der Lyndon B. Johnson School of Public Affairs an der University of Texas (Austin), Vorsitzender der Vereinigung Economists Allied for Arms Reduction (ECAAR), Direktor des Texas University Inequality Project.