Immer neue Gesetze für die Gipsy Kings
DIE Lebensbedingungen der Fahrenden – die Jenischen, die Manouche, die Gitanos, die Sinti, die Roma – sind von Land zu Land sehr unterschiedlich. Die extremste Ausgrenzung erleben sie derzeit in den Ländern Ost- und Mittelosteuropas. In Deutschland leben die meisten der Sinti schon seit Generationen in festen Häusern, doch mit dem Unterwegssein im Wohnwagen ist es deshalb nicht endgültig vorbei. In Frankreich, das als einziges europäisches Land Fahrende zwingt, eine „Wanderbuch“ zu führen, wurde die Situation in den letzten Jahren durch Gesetze immer wieder neu geregelt. Der Status als Sesshafte, Halbsesshafte oder Nichtsesshafte hängt auf vertrackte Weise von Bürokraten, politischen Konstellationen im Stadtrat und der Haltung von Bürgerinitiativen ab. So ist es auch im südfranzösischen Arles, zu dessen Einwohnern eine für ihre Musik weltbekannte Familie gehört: die Gipsy Kings.
Von CHANTAL AUBRY *
Auf dem Rastplatz von Arles stehen an die sechzig Wohnwagen hintereinander aufgereiht, auf halbem Weg zwischen dem Antikenmuseum und den Sozialwohnungen des Stadtviertels Barriol. Es herrscht das übliche rege Treiben: Die Frauen putzen, die Männer plaudern, Autos kommen an und fahren weg, denn um diese Zeit werden die Kinder von der Schule abgeholt. Es gibt nur ein Thema im Lager: Ende November 2002 wurde der Grundstein für die zukünftige Siedlung gelegt, gleich nebenan. Und seither können die Bewohner zuschauen, wie die Arbeiten voranschreiten.
Der Abschluss der Bauarbeiten ist für Dezember 2003 vorgesehen, dann sollen 47 Einfamilienwohnungen übergeben werden. „Sieben Jahre habe ich darum gekämpft“, erläutert stolz Pfarrer Antonio Hernandez, Präsident der Association des Tsiganes (Zigeunerverband) von Arles und Pfarrer der evangelischen Pfingstgemeinde Vie et Lumière (Leben und Licht), der die meisten im Lager angehören. „Mit der Zeit schenkte man mir Gehör. Wir mussten einen Verein gründen. Viele glaubten nicht an ein Resultat. Mit den Sesshaften zu sprechen war nicht leicht. Mir ist es aber gelungen!“
Begonnen wurde das Projekt im Jahr 1996, als sich die Stadt Arles (damals noch unter dem sozialistischen Bürgermeister Michel Vauzelle) nach mehreren Jahren Verzögerung dazu durchrang, „die Sache“ endlich anzugehen. „Die Sache“, das war die soziale Lage der Fahrenden und zuallererst die Umsetzung des Besson-Gesetzes vom 31. Mai 1990, welches allen Einwohnern das Recht auf Wohnraum garantiert. Darum kümmerten sich der kommunistische Dezernent für Stadtplanung, Henri Tyssère, und die Umweltdezernentin Catherine Levrault von den Grünen.
Für eine Stadt, deren Finanzlage notorisch angespannt ist, war das Ganze ein Kraftakt, denn es ging um drei Aufgaben: die Einrichtung von Stellplätzen für Durchreisende, die Förderung eines Mietwohnungsprogramms für die sesshaft gewordenen Familien katalanischer Fahrensleute, die seit mehreren Generationen in Arles leben; und schließlich die Bereitstellung von Grundstücken für einige halbsesshafte und sozial schwache Roma- oder Manouche-Familien.
Philippe Lamotte, damals Leiter des Amtes für Stadtentwicklung und Wohnungswesen, übertrug das Projekt einem Marseiller Planungsbüro, das im Februar 1998, nach eingehender Information bei den Familien und nachdem ein geeignetes Gelände gefunden war, Entwürfe vorlegte. Zwar stand Barriol alsbald als Standort des Ansiedlungsprojektes fest, und auch Finanzierungsmöglichkeiten waren gefunden, doch die verschiedenen für die Stellplätze in Frage kommenden Örtlichkeiten stießen allesamt auf Widerstand bei der Bevölkerung. Zumal die Anliegerverbände (Hoteliers, Verbrauchermärkte) waren grundsätzlich gegen eine Ansiedlung von Fahrenden.
Im Zuge der Auseinandersetzungen innerhalb der Vereinigten Linken vor Ort änderte sich die Zusammensetzung des Magistrats, sodass das „heiße Eisen“ in die Obhut des äußerst vorsichtigen neuen kommunistischen Bürgermeisters Hervé Schiavetti gelangte. Die Verhandlungen zogen sich nun in die Länge, weshalb Arles – wie so viele andere Städte in Frankreich – bis heute über keinen Stellplatz für Durchreisende verfügt. Und das, obwohl sich die altprovenzalische Stadt gerade mit ihrem Ansiedlungskonzept hervorgetan hatte.
Weder den Wähler verärgern noch die Menschen, die aufgenommen werden sollen, an entlegene Orte verbannen, wo es keinerlei wirtschaftliche und soziale Einbindung gibt – darin besteht nach wie vor und mehr denn je die Quadratur des Kreises. „Auch wenn wir den vom Besson-Gesetz vorgesehenen Termin zum 1. Januar 2004 nicht einhalten können, steht doch zumindest das Gelände fest“, versichert David Grzyb, der neue Dezernent für Stadtentwicklung, der heute für den Vorgang zuständig ist. Bleibt noch, die Anwohner zu überzeugen.
„Die Stellplätze für die Fahrenden sollten in einer möglichst normalen Umgebung liegen“, räumt Schiavetti ein. „Doch die öffentliche Meinung hat wegen der Bräuche und des Rufs dieser Leute wenig Vertrauen. Unsere Haltung ist per definitionem widersprüchlich, aber wir bemühen uns, die unterschiedlichen Meinungen zusammenzubringen und jeden anzuhören.“
Dieser „widersprüchlichen Haltung“ kann kein gewählter Vertreter, wenn er auch nur ein Mindestmaß an politischem Ehrgeiz besitzt, entkommen. Stärker noch als mit dem Widerstand der Anwohner muss er sich mit dem der Hoteliers und der großen Verbrauchermärkte auseinander setzen, die sich in den Gewerbegebieten angesiedelt haben, in deren Nähe meist die vorgesehenen Stellplätze für Durchreisende entstehen sollen.
In Arles werden die seit mehreren Generationen sesshaft gewordenen katalanischen Fahrenden bereitwilliger geduldet als anderswo. Einige von ihnen leben sogar im Stadtzentrum, in den alten Stadtvierteln La Roquette oder in den Sozialwohnungen des Viertels Barriol. „Die Haltung der Arlesianer ist sehr ambivalent“, merkt Séverine Lhez vom Verband Yaka de Gitana an, der eine unentbehrliche Vermittlerrolle bei allen Umsiedlungsmaßnahmen gespielt hat und auch weiterhin spielt.1 „Es gibt Rassismus wie überall sonst auch, aber der musikalische Erfolg einer der hiesigen Familien (weltbekannt als die Gipsy Kings) und die allgemeine Freude am Flamenco dämpfen die Ablehnung teilweise. Doch auch hier bei uns wird die Andersartigkeit als bedrohlich wahrgenommen.“
Obwohl Arles in der Nähe von Les Saintes Maries de la Mer, einem bedeutenden und traditionellen Pilgerort der Zigeuner liegt, ist es nicht der am häufigsten aufgesuchte Rastplatz (die große Durchgangsstation der Region liegt bei Miramas, ist allerdings sehr heruntergekommen).
Der Mikrokosmos Arles scheint von der Sicherheitshysterie, die den Rest Frankreichs in Unruhe versetzt, fast verschont zu sein. „Natürlich müssen sich alle Volksvertreter mit den Problemen der öffentlichen Sicherheit auseinander setzen“, versichert Schiavetti seinerseits. „Aber auch der nationale Aufwind der Rechten ändert auf der kommunalen Ebene zunächst nicht sonderlich viel. Arles ist ein Immigrationsgebiet, das sich durch eine hohe Integrationsfähigkeit auszeichnet. Es absorbiert alles, auch die Fahrenden.“
Auf ähnliche Integrationsbemühungen stößt man in Martigues, genauer: in der Gemeinde Bargemont, einer Siedlung von neununddreißig im Jahr 1995 fertig gestellten Häusern, in denen ebenfalls schon lange sesshafte Manouche-Familien untergebracht sind. Freilich liegt der Komplex einige Kilometer von der Innenstadt entfernt im Pinienwald, ausgestattet mit großen Stellplätzen für Durchreisende und einem gesonderten Stellplatz für die Wohnwagen der Dauermieter.
„Die Stadtverwaltung hat daran festgehalten, die Häuser so zu bauen ,wie alle anderen hier‘ “, präzisiert der Leiter des Wohnungswesens, Pierre Cerdan, nachdrücklich und geht damit auf Distanz zu dem Konzept des so genannten angepassten Wohnens, wie es andernorts und vor allem bis zu einem gewissen Grad in Arles umgesetzt wurde.
„Mit einem solchen Paternalismus erzeugt man nur neue Diskriminierung; bei uns haben die Leute gelernt, ihre Miete, ihr Wasser, ihre Elektrizität zu zahlen wie jedermann“, bekräftigt Denis Klumpp, der Leiter der Association régionale d‘études et d‘actions auprès des Tziganes (Areat2 ), die mit einem in der Innenstadt eingerichteten Sozialzentrum den Familien als Anlaufstelle dient und die Verwaltung der Stellplätze für Durchreisende übernommen hat. Eine Verwaltung, die den Ruf hat, hart durchzugreifen, und die auf diese Weise zu vermeiden sucht, dass die Stellplätze, die für Durchreisende vorgesehen sind, beschädigt oder missbräuchlich von Halbsesshaften in Beschlag genommen werden.
„Wir wissen ganz genau, dass vor allem die unzureichende Ausstattung der Stellplätze und die schlechten Unterbringungsbedingungen zur Verunsicherung eines großen Teils der umherziehenden Bevölkerung führen“, erklärt Klumpp. „Das Sarkozy-Gesetz3 hat zumindest den Vorteil, dass die Stadtverwaltungen nun gezwungen sind, endlich Stellplätze für Durchreisende zu schaffen. Nur so können die Kommunen künftig die Fahrenden völlig legal fortschicken, wenn diese außerhalb der dafür vorgesehenen kommunalen Grundstücke campieren.“
Bloße Theorie? Allzu übertrieben optimistische Erwartungen? Das Gesetz vom Juli 2000 – das so genannte zweite Besson-Gesetz, benannt nach dem damaligen Wohnungsbauminister –, das die Schaffung von Stellplätzen zwingend vorschrieb, hatte die zögerlichen Stadtverwaltungen keineswegs dazu bewogen, tatsächlich solche Plätze für Durchreisende zu schaffen.
Ein paar Kilometer entfernt ist der Tonfall erheblich aggressiver: „Ich habe für diese Leute nichts übrig. Sie leben auf unsere Kosten, sie leben vom Diebstahl, es wird Zeit, dass das aufhört.“ Diese Beschimpfungen an die Adresse der Fahrenden („Landplage“ heißt es an anderer Stelle) stammen aus dem Mund von Paul Girot de Langlade, dem Präfekten des Departements Vaucluse. Die Worte klingen wie ein Freibrief für forcierte Vertreibungen und spiegeln recht gut das neue politische Klima. Man erkennt den Kontext – das Sarkozy-Gesetz. Die Tatsache, dass Innenminister Sarkozy später versuchte, die Äußerungen von Girot de Langlade abzumildern, ändert kaum etwas am Kern des Problems.
Nachdem den Fahrenden 1969 in Frankreich ein Rechtsstatus zugesprochen worden war, hatte sich ihre Lage langsam verbessert, doch heute, unter dem ökonomischen Druck und dem verschärften Sicherheitsbedürfnis der jüngeren Zeit, hat sie sich wieder so sehr verschlechtert, dass alle Verbände zu Recht beunruhigt sind. Seit September 2002 versuchen diese mit Anträgen und Demonstrationen gegen die Artikel 19 und 19 a des Sarkozy-Gesetzes vorzugehen, das – indem es besonders harte Sanktionen bei Verstößen gegen das Rastverbot vorsieht – die bloße Existenz der Fahrenden letztlich wieder zu einem Delikt macht – zumal wenn es keine offiziellen Stellplätze gibt. Deshalb entstand denn auch das aus äußerst verschiedenen Verbänden zusammengesetzte „Bündnis des 24. September“, an dem sich verschiedene gesellschaftliche Gruppen beteiligten.4
Am 11. und 27. Januar 2003 organisierten die Fahrenden Demonstrationen in Paris und in mehreren Städten Frankreichs, bei denen sich über 5 000 Personen versammelten.
Mit der besonders umstrittenen Frage der Stellplätze für Durchreisende stehen auch die Grundrechte einer äußerst verunsicherten Bevölkerungsgruppe als Ganzes auf dem Spiel: der Zugang zu Bildung, zum Gesundheitswesen, zu Wohnungen, zu Beschäftigung, der Kampf gegen Ausgrenzungen und Diskriminierungen aller Art, letztlich die Wahrung einer Lebensweise und Tradition, die das Frankreich des Herrn Sarkozy am liebsten von der Bildfläche verschwinden sähe.
Seit sie als Gruppe schlicht mit Delinquenten gleichgesetzt wurden, äußern sich die Fahrenden zunehmend besorgt: „Seit letzten Sommer fühle ich mich nicht gut, ich sorge mich um unsere Kinder“, bekundete ein Teilnehmer der Demonstration am 11. Januar. „Wir sind nicht für die Missstände in diesem Land verantwortlich. Wir wollen nicht den Verfolgungen ausgesetzt sein, die unsere Eltern haben erleben müssen.“ Ein anderer ergänzte: „Die Sesshaften müssen begreifen, dass die Zeichen, die hier und da aufleuchten, für niemanden Gutes verheißen.“
„Die verbalen Entgleisungen verweisen vor dem Hintergrund der eingeschränkten Grundrechte auf ein zunehmend angespanntes Klima, und das betrifft die Bevölkerung als Ganzes, auch wenn sie sich dessen vielleicht noch nicht bewusst ist. Vorerst dienen lediglich die Fahrenden und einige andere so genannte marginalisierte Bevölkerungsgruppen als Sündenbock“, warnt José Brun vom Verband „Regards“, der außerdem das Projekt einer Siedlung der Fahrenden in Indre-et-Loire leitet.
„Es wird immer schwieriger, Grundstücke zu finden und Finanzierungsmöglichkeiten aufzutun. Kein Projekt kommt mehr durch. Alles wird blockiert. Demnächst wird man uns nur noch dunkle Wälder, Überschwemmungsgebiete oder Gelände, die niemand haben möchte, überlassen.“
Das Gesetz zur inneren Sicherheit (das Sarkozy-Gesetz) geht in seinen Artikeln 19 und 19 a ausdrücklich auf die umherziehende Bevölkerung und auf die Anwendung des Besson-Gesetzes vom 5. Juli 2000 ein, das verspätet verabschiedet und bereits umstritten war, bevor es von einer kleinen Zahl von Bürgermeistern, vor allem in der Ile-de-France, umgesetzt wurde.
Diesem zweiten Besson-Gesetz zufolge sollten alle Departements in den folgenden 18 Monaten (spätestens also bis zum 1. Januar 2002) einen Plan für die Stellplätze der Durchreisenden entwerfen, der dann vom Präfekten und vom Präsidenten des Generalrats des Departements in Absprache mit den Vertretern der betroffenen Kommunen (solchen von mehr als 5 000 Einwohnern) sowie den Fahrenden und ihren Verbänden in einer Beratungskommission5 detailliert ausgearbeitet werden sollte. Im Falle der Nichteinhaltung der Fristen war der Präfekt theoretisch ermächtigt, eigenmächtig den Plan zu entwerfen und das vorgesehene Gelände für Stellplätze im Namen und auf Kosten der Kommune zu schaffen.
Nichts dergleichen ist passiert. „Die Maßnahmen für die Stellplätze für Durchreisende sind in vollem Gange“, versichert man im Wohnungsbauministerium. „Die Absprache mit den Bürgermeistern ist dringend notwendig, da ohne die Mitarbeit von ihrer Seite jegliche Realisierung unmöglich wäre. Aber jetzt müssten die Pläne der Departements bis Ende Februar unterzeichnet werden. Der Minister hat es gefordert. Es ist der Wille der Regierung, sie zu verwirklichen.“ An Ort und Stelle glaubt jedoch niemand daran – das Sarkozy-Gesetz scheint die Abneigung der Bürgermeister gegenüber dem Besson-Gesetz noch zu verstärken.
Aber schon dieses wurde fast nirgends umgesetzt. So schuf man innerhalb von zehn Jahren in der Region Paris lediglich 560 Rastplätze, obgleich zwischen 6 000 und 8 000 erforderlich gewesen wären. Auf dem ganzen französischen Staatsgebiet stehen zurzeit lediglich 10 000 Rastplätze zur Verfügung (nach Angaben von Areat 8 000), obwohl 60 000 erforderlich wären (nach Angaben von Areat 30 000). Die Unterschiede in den Zahlen resultieren daraus, dass die Schätzung der Anzahl der Fahrenden selbst zwischen 300 000 und 800 000 Personen schwankt – je nach Verband, denn die als diskriminierend angesehene Volkszählung wurde nicht anerkannt.
Die unzureichende Anzahl von Rastplätzen für Durchreisende hatte zur Folge, dass ausgerechnet jene Bürgermeister, die sich engagiert gezeigt hatten, häufig deutlich mehr Probleme bekamen als jene, die überhaupt nichts taten und keine Rastplätze bereitstellten. Denn auf den wenigen eingerichteten Rastplätzen gab es einen übermäßigen Andrang, was zu Spannungen mit den Einwohnern führte, zu Problemen mit dem Schulbesuch, wildem Anzapfen von Wasser- und Elektrizitätsleitungen, Sachbeschädigungen: An solchen Folgeerscheinungen ist abzulesen, wie mangelhaft die Verwaltung das Problem der Fahrenden behandelt. Wegen fehlender Wohnwagenstellplätze können Kinder nicht zur Schule gehen, weshalb den Familien auch das Kindergeld verloren geht.
Der zweite wichtige Aspekt, der der Ansiedlung, hängt zur Zeit, wie man in Arles gesehen hat, einzig und allein vom politischen Willen vor Ort ab, die einzige Finanzierungsmöglichkeit ist das Gesetz für Solidarität und Stadterneuerung (das so genannten Gayssot-Gesetz, das am 13. Dezember 2000 verabschiedet wurde6 ), auf das man insbesondere in der Region von Paris rekurriert.
In allen bereits realisierten Projekten taucht die Frage nach „vertrautem Gelände“ und gemischter Siedlungsweise auf. „Das ist ein neuer Plan, um gegen die Marginalisierung zu kämpfen“, erläutert man im Wohnungsbauministerium. „Während einer gewissen Übergangszeit müssen die Fahrenden sesshaft werden, dann können sie verschiedene Rechte, den Schulbesuch und medizinische Versorgung einfordern. Doch es geht nicht um eine vollständige Sesshaftwerdung, bei der man sich nicht mehr vom Fleck rühren darf, sondern um einen Anlegehafen, einen geografischen Ankerpunkt, den man bei Bedarf ansteuern kann. Eine Wohnung zu haben bedeutet nicht, das Fahren aufgeben zu müssen.“
Der unabhängige Architekt und Planer eines der ersten Projekte einer erfolgreichen Ansiedlung in Toulouse (Ramonville, 1989), Luc Monnin, ist weit radikaler: „Die Sesshaftigkeit ist eine räumliche, jedoch keine soziale Realität“, versichert er. „Sie ist die Antwort auf eine Pathologie, auf eine psychologische Stresssituation, auf mangelnde Hygiene, auf schlechte Lebensbedingungen. Ist diese besondere pathologische Reaktion auf den Zustand der Gefährdung ausgeheilt und hat man sie korrekt wieder angesiedelt, finden die Fahrenden zu ihrer Gewohnheit des Fahrens zurück. Sobald das Problem des Überlebens überwunden ist, sind sie wieder in der Lage, mehrere Monate im Jahr herumzureisen.“
Mithin: jene Nomadenkultur aufrechtzuerhalten, die an vielfältige Tätigkeit und jahreszeitliche Rhythmen gebunden ist – auch wenn manche der traditionellen Tätigkeiten (Alteisenhandel, Korbflechterei und Berufe, die im Zusammenhang mit der Obsternte stehen) verschwinden und durch neue Tätigkeiten wie Fassadenreinigung, Malerarbeiten, Reparatur von Werkzeugen und chirurgischen Geräten etc. abgelöst werden.
Letztlich bleibt jedoch bestehen, dass entgegen dem republikanischen Staatsbürgerbegriff die Nomaden als eine Minderheit im Staat behandelt werden. Und dass Frankreich fast das einzige westliche Land ist, das den Umherziehenden Verwaltungsdokumente wie den alle drei Monate zu erneuernden Wanderpass bzw. das Wanderbuch aufzwingt, die besondere Informationen wie die Hautfarbe oder den Namen der Eltern enthalten.
Eine Diskriminierung in der Diskriminierung, die, wie die Soziologin Jacqueline Charlemagne erläutert, „Unterschiede innerhalb dieser Population selbst schafft: zwischen denen, die in einem Status extremer Unsicherheit leben (Saisonarbeiter, fliegende Händler) und einen Wanderpass besitzen, und denjenigen, die weniger marginalisiert sind (und einen Gewerbeschein haben oder Lohn empfangen) und die in den Genuss des Wanderbuches kommen.“
Erschwerend kommt hinzu: die Lage der Roma-Minderheiten in den künftigen EU-Mitgliedstaaten, die durch Hunger und Armut gekennzeichnet ist, wie eine jüngst vom Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) in Auftrag gegebener Studie aufdeckte (siehe Kasten). Der Zustrom dieser Menschen hat den ohnehin fragilen Status der Fahrenden in Frankreich weiter angekratzt. Er liefert den Vorwand, dass die verschiedenen Gruppen der Fahrenden mittels althergebrachter Klischees in einen Topf geworfen werden: In den Stereotypen erkennen sich weder die Umherziehenden noch die Sesshaften noch die Halbsesshaften, die allesamt seit Generationen französischer Nationalität sind. Hinzu kommen durch den Zustrom auch Konflikte zwischen den Gemeinschaften – und dies in einem Moment, in dem es wichtig wäre, sich miteinander zu verbünden.
Öffnung nach außen
EBENSO hat das Phänomen der Pfingstbewegung,7 die in den letzten zwanzig Jahren an Bedeutung gewann, die früheren Gewichte stark verschoben. „Der Verband Vie et Lumière hat eine enorme Macht“, räumt José Brun ein. „Er ist als einziger in der Lage, 70 000 Personen bei einer einzigen Versammlung zusammenzubringen. Seine Macht besteht im Unterschied zur katholischen Kirche, die den Zug verpasst hat, darin, dass alle ihre Pfarrer Fahrende sind.“ Vie et Lumière hat in Frankreich nicht weniger als 1 300 Pfarrer (von denen keiner sesshaft ist), die alle von der protestantischen Föderation Frankreichs anerkannt sind. Die einen halten sie für sektiererisch, die anderen für mafios; eine derartige Polarisierung bringt in jedem Fall eine Gefahr mit sich: die des kulturellen und geistigen Rückzugs – dort, wo die Öffnung notwendiger wäre denn je.
So misstrauen die Pfarrer dem öffentlichen Schulsystem – auch wenn sie vorgeblich zum Schulbesuch ermutigen –, denn sie fürchten, dass dadurch die Öffnung zur Außenwelt begünstigt wird. Die meisten möchten ihren Einfluss auf die Gruppen unter ihrer Obhut nicht geschmälert wissen. Gegenüber der jungen und offeneren Generation gebärden die Pfarrer der alten Generation sich häufig fortschrittsfeindlich. Sie hüten sorgfältigst die eigenen Bräuche und ihre Kultur und fürchten, dass die Frauen und die jungen Mädchen durch den Schulbesuch zu viel Selbstständigkeit gewinnen könnten, was für die Gruppe eine große Herausforderung wäre.
Auf der anderen Seite repräsentieren junge Leute wie Vincent Ritz und José Brun, 31, vom Verband „Regards“ oder Céline Larrivière von dem nur aus Fahrenden bestehenden Verband Les gens du voyage (Menschen auf Reisen) eine wenn auch unsichere, so doch reale Zukunft. „Wir wollen zeigen, dass es uns gibt, einen anderen Blick befördern, unsere Sichtweise ausdrücken, auch wenn unsere Auffassungen mitunter unbequem sind.“ Die häufigste Kritik an diesen jungen, nicht subventionierten Verbänden („Das garantiert unsere Unabhängigkeit“) lautet, sie seien nicht repräsentativ: „Wir reden von Legitimität, nicht von Repräsentativität“, antworten sie. „Es ist an uns, die Planer und Führungspersönlichkeiten von morgen zu erziehen.“
Trotz der vielen Hindernisse sind sie optimistisch, dass ein gemeinsames Vorgehen sinnvoll ist, auch gemeinsam mit Vie et Lumière. „Man darf sich an dem zunehmenden Protestantismus nicht stören. Das wichtigste ist, dass die wesentlichen Merkmale unserer Kultur erhalten bleiben, dass wir unsere Identität bewahren und uns gleichzeitig der Außenwelt öffnen. Die Unterschiede auf sich beruhen zu lassen, gemeinsam voranzukommen, alle Rassenmischungen zuzulassen, alle Zigeuner zu vereinigen, ob sie nun Fahrende, Sesshafte oder Halbsesshafte sind, ob sie Manouches, Roma, Gitanos, Jenische oder Sinti sind, ob sie im Norden oder im Süden Frankreichs wohnen, ob sie katholisch, protestantisch oder areligiös sind. Ohne die Nützlichkeit jener Verbände zu verkennen, die seit langem unter den Fahrenden arbeiten. Aber auch nicht ohne deren Neopaternalismus in Frage stellen zu dürfen.“ Niemand soll es zukünftig wagen, die Fahrenden als „Hühnerdiebe“ zu bezeichnen – außer sie tun es selbst, zum Spaß.
deutsch von Petra Willim
* Journalistin, Paris.