Herrliche kleine Kriege
DIE Vereinigten Staaten haben in Lateinamerika nie offizielle Kolonien gehabt – de facto jedoch gab es durchaus Territorien, die von Washington ebenso abhängig waren wie Kolonialgebiete. Vom Beginn des 19. Jahrhunderts an bis in die 1930er-Jahre hinein haben US-Regierungen zudem immer wieder – unter Berufung auf die Monroe-Doktrin von 1823 – bewaffnete Interventionen unternommen. Die führten in der Regel zur Installation von einheimischen Diktatoren, die letztlich als verlängerter Arm Washingtons funktionierten – im Interesse des US-Kapitals und zum Unglück der Völker Lateinamerikas.
Von MAURICE LEMOINE
Am 22. Februar 1927, dem Geburtstag George Washingtons, lud der amerikanische Botschafter in Paris, Myron Herrick, die diplomatischen Vertreter der lateinamerikanischen Länder zu einem Bankett in seine Residenz. „Die Vereinigten Staaten“, so erklärte er in seiner Tischrede, „gieren nicht nach Land […]. Sie haben die vielen und leichten Gelegenheiten, ihr Gebiet auszudehnen, in den letzten vierzig Jahre stets und aus freien Stücken ausgeschlagen. Wer uns imperialistische Absichten unterstellt, kennt die Fakten nicht oder ist unaufrichtig.“1
Das Gedächtnis des Diplomaten dürfte unter dem gutem Wein ein wenig gelitten haben, sonst wäre ihm kaum entfallen, dass sein Land Mexiko aufgeteilt, Kuba an Ketten gelegt, die Philippinen annektiert und Panama aus Kolumbien herausgelöst hatte, dass es Haiti und die Dominikanische Republik kontrollierte und in Nicaragua einmarschiert war.
Bereits am 2. Dezember 1823 hatte US-Präsident James Monroe die Doktrin verkündet, die seither seinen Namen trägt. Während das bröckelnde spanische Weltreich den Briten Appetit machte, verbat sich Monroe jede Einmischung Europas in die Angelegenheiten Amerikas. So hätten eigentlich alle auf ihre Kosten kommen können, hätte sich die US-Außenpolitik nicht – angeblich um kolonialistische Bestrebungen von außerhalb zu bekämpfen – vorgenommen, einen kontinentalen Block unter Vorherrschaft der Vereinigten Staaten zu schaffen.
Ohne auf die Glaubwürdigkeit ihrer Rechtfertigungen zu achten, unternahmen die USA eine Reihe von militärischen Interventionen: 1824 in Puerto Rico, 1831 in Argentinien, 1845 und 1847 in Mexiko, 1857 in Nicaragua, 1860 in der kolumbischen Provinz Panama und erneut in Nicaragua. Kein Wunder also, dass die Regierungen Chiles, Boliviens, Ecuadors, Perus und der Granadischen Konföderation (später Kolumbien) 1847 in Lima über die Problematik dieses Interventionismus konferierten. Im Jahr darauf sollte der Krieg gegen Mexiko ihrer Besorgnis Recht geben, als die USA das halbe Territorium ihres Nachbarn annektierten.
Am Ende des Sezessionskriegs war sich Nordamerika seiner enormen Macht vollends bewusst. Ab 1880 – die Eroberung des Westens war ebenfalls vollzogen – wandte sich das Land energisch gen Süden. Unter Präsident Ulysses Grant (1869–1877) proklamierten die USA lauthals ihren Glauben an die „offenkundige Bestimmung“, den gesamten Kontinent unter ihre Vorherrschaft zu bringen. Noch immer führten sie die „Verteidigung der Demokratie“ im Mund, in der Praxis jedoch betrieben sie die Politik des „Big Stick“ und schickten dazu ihre Marines vor. Auf zunächst punktuelle Militärinterventionen folgten in der Regel eine Invasion und der Aufbau eines Protektorats.
Zwar gab es in Kuba, das im Unterschied zu den anderen lateinamerikanischen Ländern noch immer unter spanischer Kolonialherrschaft stand, einen Aufstand, und seit 1895 führte José Martí einen zweiten Unabhängigkeitskrieg. Am 15. Februar 1898 explodierte unter ungeklärten Umständen der US-Panzerkreuzer USS Maine im Hafen von Havanna. US-Präsident William McKinley nahm den Vorfall zum Anlass, Spanien den Krieg zu erklären. Die spanischen Truppen wurden mühelos besiegt. Nach diesem „herrlichen kleinen Krieg“, wie Theodore Roosevelt ihn nannte, eroberten die USA auch Puerto Rico.2 Im Friedensvertrag von Paris vom 10. Dezember 1898 verzichtete Spanien auch auf Kuba und die Philippinen.
Unter dem Druck der US-Militärverwaltung blieb dem „befreiten“ Kuba keine andere Wahl, als das so genannte Platt-Amendment, das der US-Senat 1901 verabschiedet hatte, in die Verfassung aufzunehmen. Darin verpflichtete sich Havanna, Washington das Recht einzuräumen, in Kuba zu intervenieren, „um die kubanische Unabhängigkeit zu sichern und eine Regierung zu stützen, die Leben, Eigentum und individuelle Freiheit schützt“. Weiter hieß es: „Um die Vereinigten Staaten in die Lage zu versetzen, die Unabhängigkeit Kubas aufrechtzuerhalten und das Leben der dortigen Menschen zu schützen, wie auch zu seiner eigenen Verteidigung, wird die Regierung Kubas den Vereinigten Staaten an Orten, über die mit dem Präsidenten der Vereinigten Staaten Einigkeit zu erzielen ist, Land für Kohleverlade- und Marineeinrichtungen verkaufen oder verpachten.“3 So entstand der Stützpunkt Guantánamo.4 Die Insel verlor ihre Unabhängigkeit, noch bevor sie errungen war. Die USA mischten sich in die Innenpolitik ein (bis hin zum Wahl- und zum Steuersystem), 1906, 1912 und 1917 sogar mit militärischen Interventionen. Die US-Militärverwaltung dauerte bis 1934 an, danach regierten kubanische Kabinette ohne wirkliche Machtbefugnisse.
„Wiederholtes Fehlverhalten oder eine generelle Unfähigkeit, die zur Auflösung des besonderen Zusammenhalts in einer zivilisierten Gesellschaft führt, kann es in Amerika wie auch anderswo erforderlich machen, dass eine zivilisierte Nation eingreift. In flagranten Fällen, wenn die Vereinigten Staaten in der westlichen Hemisphäre mit einem solchen Fehlverhalten oder einer solchen Unfähigkeit konfrontiert sind, können sie sich angesichts der Monroe-Doktrin gezwungen sehen, wie widerwillig auch immer, die Funktion einer Weltpolizei auszuüben.“ Diese Neuauflage der Monroe-Doktrin verkündete Theodore Roosevelt nach seiner Wahl ins Präsidentenamt 1903.
Um die lateinamerikanischen Staaten anzuhalten, ihren „internationalen Verpflichtungen“ nachzukommen, „Gerechtigkeit gegenüber Ausländern“ walten zu lassen, um den „rückständigen Völkern“ „Fortschritt“ und „Demokratie“ zu bringen, landeten die Marines in Mexiko, Guatemala, Nicaragua, Kolumbien und Ecuador an. US-Präsident William Taft schwadronierte 1912: „Die gesamte Hemisphäre wird uns gehören, da sie uns kraft der Überlegenheit unserer Rasse moralisch eigentlich schon jetzt gehört.“
So sank ohne manifeste territoriale Eroberung oder einen erklärten Krieg der Status der unabhängigen Republiken Lateinamerikas noch unter den von US-Bundesstaaten, wo Interventionen der Zentralregierung eigens durch den Kongress genehmigt werden müssen und nur in extremen Ausnahmefällen möglich sind.4 Die Verteidigung nationaler Souveränität galt als Aufstand gegen die vorgebliche Schutzmacht und wurde im Namen einflussreicher Interessen blutig unterdrückt.
Die United Fruit Company etwa hatte sich seit der ersten Konzession in Costa Rica 1878 ein weitläufiges Bananenreich entlang der Atlantikküste Mittelamerikas sowie in Kolumbien und Venezuela herausgeschnitten und verwaltete die Millionen von Hektar wie eigenständige Territorien. Diese Interessen galt es zu schützen. Und Uncle Sam ließ sich nicht lange bitten, zeigte „Goodwill“ und mischte sich militärisch wie diplomatisch in die inneren Angelegenheiten der lateinamerikanischen Republiken ein.
Imperiale Dollar-Diplomatie
GEWISS, in Lateinamerika ging es drunter und drüber; Finanzchaos und chronische Anarchie prägten das Bild. Doch angesichts des Völkermords an den „Rothäuten“ und des Sezessionskriegs konnte sich der große Nachbar im Norden kaum als Moralprediger aufspielen. Entscheidendes Motiv für die USA war dabei auch der Wunsch, einen künftigen Kanal zwischen Atlantik und Pazifik zu kontrollieren. Da Kolumbien zögerte, den USA ein hundert Jahre währendes Nutzungsrecht an der in der Provinz Panama geplanten Wasserstraße einzuräumen, betrieb Washington 1903 eine entsprechende Gebietsabtrennung. Für die einmalige Zahlung von 10 Millionen Dollar sicherten sich die USA im Hay-Brunau-Varilla-Vertrag vom 18. November desselben Jahres zeitlich unbegrenzte Hoheitsrechte über den Kanal und einen acht Kilometer breiten Gebietsstreifen an beiden Ufern. Es folgte der Vertrag von 1926, der in Artikel 6 den Vereinigten Staaten in Kriegszeiten Sonderrechte einräumte, sodass Panama in militärischer Hinsicht praktisch zu einem neuen Bundesstaat wurde.
Am härtesten griff die imperiale „Dollar-Diplomatie“ in Nicaragua durch. Auch hier ging es um die Kontrolle eines Kanals zwischen Atlantik und Pazifik, dessen Verlauf freilich noch nicht feststand. Nach einer ersten Militärintervention (1853) tauchten 1912 abermals US-Kanonenboote vor der Küste des Landes auf. Diesmal war der Widerstand der Liberalen zu brechen, die sich weigerten, eine US-Anleihe zu unterzeichnen, mit der sich Washington die Kontrolle über das Finanzsystem Nicaraguas sichern wollte. An den Schalthebeln der Macht wurde Adolfo Diaz installiert, der die berüchtigte Anleihe sogleich abzeichnete. Er verpfändete die Zolleinnahmen des Landes als Kreditgarantie und akzeptierte die Oberaufsicht eines US-Zollinspektors, der von New Yorker Bankern ernannt und vom US-Außenministeriums bestätigt wurde. Parallel dazu wurde in Managua eine Militärgarnison errichtet, die bis 1925 blieb. 1914 wurde der Bryan-Chamorro-Vertrag unterzeichnet, der den USA das exklusive Recht auf den Bau des Kanals sicherte.
Nachdem sich ein US-Schützling, der Konservative Emiliano Chamorro, an die Macht geputscht hatte, griffen 1927 abermals die US-Marines ein. Erst fünf Jahre später, nach einem langwierigen und höchst ungleichen Kampf, gelang es den „Outlaws“ der „kleinen verrückten Armee“ des Augusto Cesar Sandino, die Besatzer zu verjagen. Unterdessen hatten die Vereinigten Staaten aber eine Nationalgarde aufgebaut, deren jefe director bis 1932 ein General der US-Marines war. Danach wurde er durch Anastasio „Tacho“ Somoza ersetzt.
In Honduras intervenierten die Vereinigten Staaten 1903, 1905, 1919 und 1924, um die „Ordnung wiederherzustellen“, die zumal United Fruit brauchte, um ihre weitläufigen Ländereien, Wälder und Bergwerke bewirtschaften zu können. 1915 erstickte die große amerikanische Demokratie lautlos die kleine Republik Haiti. An der Spitze eines Expeditionskorps landete Admiral William B. Caperton in Port-au-Prince an und zwang der Regierung ein Übereinkommen auf, mit dem das Land scheinbar ganz legal und aus freien Stücken einwilligte, die Zivil-, Steuer- und Militärverwaltung, das Zollsystem und die Staatsbank – an deren Stelle die National City Bank trat – in die Hände der US-Amerikaner zu legen.
Um jeden Widerstand im Keim zu ersticken, rief Caperton im ganzen Land das Kriegsrecht aus. Nicht anders in der Dominikanischen Republik. Auch hier übertrug die Konvention vom 8. Februar 1907 den Invasoren das Recht, die Zolleinnahmen zu verwalten und an ausländische Gläubiger zu verteilen.
Der Demokrat Franklin D. Roosevelt ersetzte die „Politik des großen Knüppels“ 1934 durch die Politik „gutnachbarschaftlicher Beziehungen“. Die „Konferenz für den Erhalt des Friedens“ 1936 in Buenos Aires und die 8. Konferenz der Amerikanischen Staaten 1938 in Lima bekräftigten die absolute Souveränität der Staaten Lateinamerikas. In der Zwischenzeit war es Washington freilich gelungen, überall autoritäre Militärregime an die Macht zu hieven, die den US-Interessen treu ergeben waren. Gutnachbarschaftliche Beziehungen unterhielten die Vereinigten Staaten in der Folgezeit zu den Diktoren Rafael Leonidas Trujillo in der Dominikanischen Republik, Jean Vicente Gómez in Venezuela, Jorge Ubico in Guatemala, Tiburcio Carias in Honduras, Fulgencio Batista auf Kuba und der Somoza-Dynastie in Nicaragua.
deutsch von Bodo Schulze