16.05.2003

Vichy – Von einer Macht zur anderen

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Vichy – Von einer Macht zur anderen

Am 10. November 1942, drei Tage nach der Landung der Amerikaner in Nordafrika, ließ Pétains Stellvertreter, Admiral Darlan, in Afrika alle Kampfhandlungen auf Seiten Nazi-Deutschlands einstellen. Am 11. November besetzten die deutschen Truppen Südfrankreich, und am 12. November kam es zu dem geheimen Darlan-Clark-Abkommen, das den Alliierten unter anderem die freie Nutzung der Häfen und Verbindungswege in Nordafrika überantwortete. Am 27. November versenkte sich die französische Kriegsflotte vor Toulon. Vichy war umgeschwenkt.

Von ANNIE LACROIX-RIZ *

ES ist ein wenig bekanntes Kapitel der Geschichte des Zweiten Weltkriegs, dass Washington 1941/42 plante, Frankreich – wie die künftigen Besiegten Italien, Deutschland und Japan – einer Protektoratsverwaltung zu unterstellen und dem American Military Government of Occupied Territories (Amgot) zu überantworten. Wäre das Darlan-Clark-Abkommen vom 22. November 1942 (ein geheimes französisch-amerikanisches Waffenstillstandsabkommen) nach dem Krieg in ganz Frankreich umgesetzt worden, hätte eine US-Militärregierung sämtliche Souveränitätsrechte, einschließlich dem der Münzprägung, in den besetzten Gebieten abgeschafft.

Amerikanische Historiker haben die Existenz dieses Plans darauf zurückgeführt, dass Franklin D. Roosevelt den „Diktator-Lehrling“ Charles de Gaulle hasste und Frankreich einen zweiten Pétain ersparen wollte. Diese These, der zufolge der amerikanische Präsident nichts als universelle Demokratie im Schilde führte, ist ebenso verführerisch wie verkehrt.1

Die Vereinigten Staaten fürchteten damals vor allem, dass sich Frankreich, obgleich durch die Niederlage vom Juni 1940 geschwächt, ihren Ansichten in zweierlei Hinsicht widersetzen könnte – zumindest wenn De Gaulle an die Macht gelangen würde, der Frankreich wieder zu einem souveränen Staat machen wollte. Zum einen, so die amerikanische Befürchtung, könnte Paris wieder als Störenfried auftreten, wie sie dies bereits in den Jahren nach 1918/19 gegenüber Washingtons Deutschlandpolitik getan hatten. Zum anderen würde Frankreich sein an Rohstoffen und strategischen Stützpunkten reiches Empire niemals aufgeben wollen, während die Vereinigten Staaten bereits im September 1899 „offene Türen“ für ihre Waren und ihr Kapital in allen Kolonialreichen gefordert hatten.2

Aus diesem Grund legten die Vereinigten Staaten ihr Veto gegen De Gaulle ein –vor allem seit sich unter seinem Namen die Résistance vereinigte – und behandelten die Regierung in Vichy mit einer Mischung aus Wohlwollen und Strenge. Wie die in Washington so beliebten Regime Lateinamerikas hielt die US-Administration das Vichy-Regime für fügsamer als eine Regierung mit starkem Rückhalt in der Bevölkerung.

Die französischen Eliten konnten der Perspektive eines amerikanischen „Vichy ohne Vichy“ einiges abgewinnen. Schließlich hatte ihnen Vichy ihre Privilegien zurückerstattet und die Reformen des republikanischen Ancien Régime rückgängig gemacht. An einem bruchlosen Übergang von der „deutschen Ära“ zur Pax Americana konnte ihnen also nur gelegen sein.

Seit Dezember 1940, also ein Jahr vor ihrem Kriegseintritt, bereiteten die Vereinigten Staaten eine Landung in Nordafrika vor. Die Führung der geplanten Operation oblag Robert Murphy, dem US-Sonderbeauftragten für Nordafrika und künftigen Sonderbotschafter der Militärregierung in der amerikanischen Besatzungszone in Deutschland (Omgus), der für die Gaullisten ein rotes Tuch war. Murphy versuchte, diverse verstreute Kräfte um General Maxime Weygand zu sammeln, der bis November 1941 als Generalbevollmächtigter der Vichy-Regierung für Nordafrika fungiert hatte und in Frankreich als Symbol der Niederlage von 1940 galt.

Die Sache ging schief, und so wandte sich Washington kurz vor der Landung am 8. November 1942 an General Henri Giraud, und danach an Admiral François Darlan, der sich damals in Algier aufhielt. Dieser Herold der staatlichen Kollaboration hatte von Februar 1941 bis April 1942 an der Spitze der Vichy-Regierung gestanden und blieb auch nach Pierre Lavals abermaliger Regierungsübernahme im Dunstkreis von Marschall Pétain.3

Am 22. November 1942 ließ US-General Mark W. Clark den „gewendeten“ Admiral ein außerordentliches Abkommen unterzeichnen, das Nordafrika den Amerikanern unterstellte und Frankreich zu einem Vassallenstaat mit Kapitalulationsauflagen erklärte.4 Die Amerikaner maßten sich „exorbitante Rechte“ über den „territorialen Fortsatz Frankreichs“ an: die Umgruppierung französischer Truppen, die Kontrolle über Häfen, Flughäfen, Befestigungsanlagen, Waffenlager, Telekommunikation und Handelsmarine; Recht auf Beschlagnahmung; Recht auf Steuerbefreiung; Exterritorialitätsrechte; Verwaltung der von den Amerikanern festgelegten militärischen Zonen. Andere Bereiche wie öffentliche Ordnung, Verwaltung, Wirtschaft und Zensur sollten „gemischten Ausschüssen“ übertragen werden.

Auch Laval arbeitete an einer Zukunft an der Seite Amerikas, obwohl er noch immer verkündete, den Sieg Deutschlands zu wünschen (22. Juni 1942). Sekundiert von seinem Schwiegersohn René de Chambrun, einem kollaborationistischen Wirtschaftsanwalt, der die amerikanische und französische Staatsbürgerschaft besaß, glaubte Laval an einen deutsch-britisch-amerikanischen Separatfrieden gegen die Sowjets und daran, dass Washington ihm für die Nachkriegszeit eine führende Rolle zugedacht hatte.5 Doch eine Unterstützung Lavals war mit den Kräfteverhältnissen in Frankreich ebenso unvereinbar wie besagter „Separatfriede“ mit der Rolle, die die Rote Armee bei der Zerschlagung der deutschen Wehrmacht spielte.

Nach der Ermordung von Darlan am 24. Dezember 1942, bei der die Gaullisten ihre Hand im Spiel hatten, wandte sich Washington erneut Giraud zu, der De Gaulle im Comité Français de Libération Nationale (CFLN), gegründet am 3. Juni 1943, kurze Zeit als zweiter Mann zur Seite stand. Vor allem nach Stalingrad schlossen sich dem Vichy-General hohe Beamte an – wie Vichys Direktor für Außenfinanzen und Devisenwirtschaft, Maurice Couve de Murville, aber auch Industrielle wie der alte Cagoulard6 Lemaigre-Dubreuil, der seit 1941 Kontakte zu Deutschen und Amerikanern pflegte, und Bankiers wie Alfred Pose, Direktor der Banque Nationale pour le Commerce et l‘Industrie und Anhänger Darlans. Die amerikanische Option verkörperte kein Geringerer als Pierre Pucheu, der zu dieser Zeit nach Algier kam und sich Giraud anschloss.

Dieser Mann war eine Symbolfigur des Vichy-Regimes – und was für eine: unter Darlan Industrie-, dann Innenminister, Bevollmächtigter der Bank Worms und des Schwerindustrie-Ausschusses, vor dem Krieg Führungspolitiker und Sponsor des rechtsextremen Parti Populaire Français von Jacques Doriot, danach Fürsprecher der Wirtschaftskollaboration und der antikommunistischen Repression im Dienst der deutschen Besatzer. (In seiner Eigenschaft als Innenminister erstellte er die Liste der Geiseln, die im Internierungslager Châteaubriant erschossen wurden, gründete die Sonderabteilungen und Ähnliches mehr.)

Doch Giraud ließ den Mann fallen. Im Mai 1943 wurde Pucheu verhaftet, zum Tode verurteilt und im März 1944 in Algier hingerichtet. De Gaulle ließ Pucheu nicht nur um den französischen Kommunisten zu Gefallen über die Klinge springen. Vielmehr handelte es sich um eine Warnung an die Adresse der Briten und Amerikaner. De Gaulle säte Angst und Schrecken unter denjenigen, die erwarteten und wünschten, dass die Amerikaner die Rolle des deutschen „Bollwerks“ übernähmen. „Der französische Bourgeois“, scherzte ein Polizist im Februar 1943, „war schon immer der Auffassung, der amerikanische oder britische Soldat habe ihm im Fall eines bolschewistischen Siegs zu Diensten zu sein.“7

In Washington wurde De Gaulle einerseits als rechtsgerichteter Diktator, andererseits als Marionette der Kommunistischen Partei Frankreichs und der Sowjetunion dargestellt. Dennoch musste die US-Administration auf die Einführung des Dollars in den „befreiten Gebieten“ verzichten und am 23. Oktober 1944 (im Verein mit London) die Provisorische Regierung der Französischen Republik anerkennen – eine Entscheidung, die lange hatte auf sich warten lassen. Die Sowjetunion hatte die „Regierung des wahren Frankreich“ schon zweieinhalb Jahre früher anerkannt, das Comité Français de Libération Nationale direkt nach seiner Gründung. Nun waren seit der Befreiung von Paris bereits zwei Monate vergangen, und De Gaulle schickte sich an, als Gegengewicht zur amerikanischen Hegemonie mit Moskau einen „Freundschaftsvertrag zur gegenseitigen Unterstützung“ zu unterzeichnen, den er als „guten und schönen Bündnisvertrag“8 bezeichnete und am 10. Dezember 1944 in Paris paraphierte.

Frankreich, das bei den Beschlüssen von Jalta im Februar 1945 außen vor geblieben war, war von den USA abhängig und integrierte sich vollständig in deren Einflussbereich. Doch sein innerer und äußerer Widerstand verhinderte, dass es auch Protektorat wurde.

deutsch von Bodo Schulze

* Professorin für Zeitgeschichte an der Universität Paris-VII. Autorin von „Le Choix de Marianne: Les relations franco-américaines de 1944 à 1948“, Paris (Éditions sociales) 1986, sowie „Les Protectorats du Maghreb entre la France et Washington du débarquement à l‘indépendance 1942–1956“, Paris (L‘Harmattan) 1988.

Fußnoten: 1 Frank Costigliola, „France and the United States. The Cold Alliance Since World War II“, New York (Twayne Publishers) 1992. 2 William A. Williams, „The Tragedy of American Diplomacy“, New York (Dell Publishing) 1972; 1. Auflage 1959. 3 Robert O. Paxton, „Vichy France. Old Guard and New Order, 1940–1944“, New York (Knopf), 1972. 4 Jean-Baptiste Duroselle, „L‘Abîme 1939–1945“, Paris (Imprimerie nationale) 1982, und Annie Lacroix-Riz, „Industriels et banquiers français sous l‘Occupation“, Paris (Armand Colin) 1999. 5 Seit 1942 ein Leitmotiv von Pierre Nicolle, „Journal dactylographié 1940–1944“, PF 39 (Haute Cours de Justice), Archive der Polizeipräfektur. Das maschinengeschriebene Tagebuch spricht eine deutlichere Sprache als die bereinigte Druckversion, die unter dem Titel „Cinquante mois d‘armistice“ 1947 in zwei Bänden beim Pariser Verlag André Bonne erschien. 6 Die Cagoule (von frz. cagoule – Kapuze; Kappe mit Augenschlitzen) war ein rechtsextremistischer Geheimbund der Zwischenkriegszeit in Frankreich. 7 Brief Nr. 740 des Polizeikommissars an den Präfekten von Melun, 13. Februar 1943, F7 14904, Archives Nationales. Dazu Richard Vinen, „The politics of French business 1936–1945“, Cambridge University Press 1991. 8 Notiz des stellvertretenden Direktors im Außenministerium, Paris, 25. Oktober 1944, sowie Vertrag in acht Artikeln, in: „Europe URSS 1944–1948“, Bd. 51, Archiv des Außenministeriums.

Le Monde diplomatique vom 16.05.2003, von ANNIE LACROIX-RIZ