Waffen sind zum Töten da
Von CH. BISMUTH und P. BARRIOT *
DIE als Massenvernichtungswaffen bezeichneten atomaren, chemischen und biologischen Arsenale (ABC-Waffen, auch Sonderwaffen genannt) gelten als nichtkonventionelle Waffen. Aber was ist der Unterschied zu konventionellen Waffen: der Grad oder die Art ihrer todbringenden Wirkung? Geht es also um Quantität oder um Qualität?
Aus ärztlicher Sicht müssen solche technischen Abstufungen nach Wirkungsgrad oder Funktionsweise von Waffensystemen zynisch und unsinnig erscheinen. Die Zerstörungskraft von massiven Bombardierungen aus großer Höhe – seit fünfzig Jahren fester Bestandteil der Militärdoktrin von so genannten Kulturnationen – ist fast ebenso groß wie die der neuesten ABC-Waffen. Aber selbst die fürchterlichsten konventionellen Waffen sind offiziell kaum geächtet. Noch immer gibt es keine Abkommen und Absichtserklärungen zur Abschaffung von Splitterbomben oder von Antipersonenminen.
Auch Terroristen bevorzugen – nach einem ebenso inhumanen wie pragmatischen Kalkül – bewährte konventionelle Waffen wie selbst gebaute Sprengsätze, Autobomben, Raketenwerfer. Ein Selbstmordattentäter kann mehr Menschen töten als die 39 Scud-Raketen, die der Irak im zweiten Golfkrieg (1991) auf Israel abgefeuert hat. Ein einziger Terrorist kann mit einer SAM-7-Rakete ein startendes Flugzeug abschießen und damit hunderte von Menschen töten; ein einziges entführtes und in ein Hochhaus gelenktes Flugzeug kann tausende umbringen.
Beim Saringas-Anschlag der Aum-Sekte in der U-Bahn von Tokio 1995 starben 12 Menschen, die Anthrax-Briefe in den USA, im Herbst 2001, forderten 5 Todesopfer. Dagegen kamen bei „konventionellen“ Sprengstoffanschlägen in Bali und Grosny 192 bzw. 80 Menschen ums Leben; und Timothy McVeigh brauchte keine „schmutzige Bombe“, um Oklahoma City zu terrorisieren. Die Selbstmordkommandos des 11. September waren nur mit ein paar Messern bewaffnet.
Waffen kann man sinnvollerweise nur nach dem Maßstab klassifizieren, wie viel menschliches Leid sie anrichten. Brandwunden, die durch konventionelle Munition verursacht werden, sind ja keineswegs weniger schlimm als Verätzungen durch chemische Kampfstoffe oder Verbrennungen durch Mikrowellen. Ist der Tod durch Sauerstoffentzug, den eine Bombe wie die „Fuel Air Explosive“ (FAE) – eine Art Gaskammer ohne Wände – verursacht, akzeptabler als eine Zyanidbombe, die bewirkt, dass die Körperzellen keinen Sauerstoff mehr aufnehmen können? Für einen Arzt gibt es keine „konventionelle“ Methode der Vernichtung von Menschen.
Die Wirkungsweise der jüngsten Waffen aus staatlichen Forschungseinrichtungen wird als „geheimes Verteidigungsprojekt“ gehandelt – „geheimes Aggressionsprojekt“ wäre die bessere Bezeichnung. Man möchte die größere Akzeptanz von konventionellen Waffen nutzen. In internationalen Abkommen kommen weder die Mini-Atombomben für den gezielten Einsatz noch die Verwendung starker Mikrowellen oder Laserstrahlen vor. Indem auf die Miniaturisierung und Feinabstimmung dieser Waffen gesetzt wird, verbleiben sie in einer definitorischen Grauzone – womit man einfach die bestehenden Abkommen umgeht. Die Erfinder der „kleinen“ Atombombe B 61-11 (mini-nuke) sprechen immer nur von ihrer schwächsten Version (mit einer Sprengkraft von 0,3 Kilotonnen TNT), von der stärksten Version (mit dem Mehrfachen der Sprengkraft der Hiroshima-Bombe) ist nie die Rede. Wer bestimmt, wo die Grenze des Erlaubten verläuft? Wie unterscheidet sich eine Waffe zur Vernichtung gegnerischer Streitkräfte von einer Waffe zur Vernichtung von Städten? Wann wird eine taktische zu einer strategischen Waffe?
Im Bereich der biologischen Waffen erlaubt der gentechnologische Fortschritt inzwischen die Manipulation des Genoms von Krankheitserregern. Die Wirkung solcher Waffen der „vierten Generation“, deren Weiterentwicklung ausschließlich in staatlichen Forschungseinrichtungen stattfindet, soll nicht sofort erkennbar und klassifizierbar sein. Sie werden wahrscheinlich nicht entwickelt, um Pest- oder Pockenerreger zu verbreiten, sie sollen vielmehr selektiv auf bestimmte Körper- und vor allem auf bestimmte Hirnfunktionen einwirken. Man könnte fast von einer unmerklichen, quasi „natürlichen“ Einwirkung auf Angehörige genau definierter Zielgruppen sprechen, die nur ganz bestimmte Gene zerstört und zum Beispiel das normale Absterben von Zellen (Apoptose) auslöst.
Auch der Entwicklung chemischer Waffen kommt zugute, dass der technische Fortschritt die traditionellen Klassifizierungen obsolet macht. Auf die Militarisierung der Krankheitserreger folgt die Militarisierung der Heilmittel. So ist bereits von einem „Angriffsmedikament“ die Rede, das Antiterroreinheiten einsetzen könnten, eine Art Mittelding zwischen Betäubungsgas und Kampfgas. Vielleicht könnte man die Chemiewaffen von morgen bereits heute in einem Lexikon der Heilmittel finden. Sie gelten als nichttödliche Waffen, aber tatsächlich tritt ihre letztlich todbringende Wirkung in zwei Phasen ein: Der Feind wird zunächst gelähmt und dann exekutiert.
Bei der Beendigung der Geiselnahme in Moskau, die mindestens 170 Zivilisten und 41 tschetschenische Terroristen das Leben kostete, war die entscheidende Frage, welches Gas die staatlichen Einsatzkräfte benutzt hatten – und ob es auf der Liste der Chemiewaffenkonvention (OPCW) stand. Falls es zur Kategorie der Halogene oder Opiate gehörte, war der Einsatz erlaubt, und die Tragödie in dem Theater an der Dubrovka-Straße wäre als eine Art Kunstfehler zu verbuchen – ein Fall falscher Dosierung. Technologische und begriffliche Verfahrenstricks verwischen bei der Klassifizierung der Waffensysteme die Grenzen zwischen Erlaubtem und Verbotenem und ersetzen sie durch eine gleitende Skala des Schreckens. Mit Menschlichkeit und Mitgefühl hat das alles ohnehin nichts zu tun: Man denkt nicht an menschliches Leid, sondern an technische Spitzenleistungen, technische Kategorien sind wichtiger als die Wirklichkeit.
Die Zerstörung einer Industrieanlage kann zu einer (chemischen, radiologischen oder biologischen) Umweltkatastrophe führen, egal, ob diese durch konventionelle Bomben oder andere Waffen verursacht wurde. In den 1990er-Jahren hat die US-Regierung unter Präsident Clinton erwogen, das nordkoreanische Atomkraftwerk Yongbyon zu bombardieren. Während des Golfkriegs von 1991 flogen die Alliierten Luftangriffe gegen die irakische Atomwaffenfabrik in Tuwaitham, das Chemiewerk in Falludschah und die Fabrik für biologische Waffen in Tadschi. Und im Krieg gegen Serbien (1999) hatte die Nato keine Skrupel, die petrochemische Fabrik in Pančevo zu bombardieren. Die chemischen Stoffe, die dabei freigesetzt wurden, waren mindestens ebenso giftig wie gewisse militärische Kampfstoffe.
Dass die Wirkungen von Waffen nicht mehr klar zuzuordnen sind, vereinfacht den verdeckten Einsatz nichtkonventioneller Waffen im Rahmen von Präventivschlägen. Wer will entscheiden, ob Umweltschäden auf abgeworfene Bomben oder die zerstörten Industrieanlagen zurückgehen? Vor allem, wenn man zuvor der internationalen Öffentlichkeit eingebläut hat, dass der angegriffene Staat über ein Arsenal nichtkonventioneller Waffen verfüge. Umgekehrt können Terroristen die gleichen Effekte erzielen, indem sie mit einer klassischen Sprengladung ein Atomkraftwerk, ein isoliertes biotechnisches Labor (P 4-Labor) oder ein Chemiewerk in die Luft jagen.
Wozu also taugt die Klassifizierung von Waffen nach Grundsätzen, die ständig verletzt oder umgangen werden? Mit der Perfektionierung von Mini-Atomwaffen und der Neuauflage eines Raketenabwehrprogramms haben die Vereinigten Staaten sowohl den Vertrag über das Verbot von Antiraketensystemen (ABM) wie den Atomwaffensperrvertrag (NPT) unterlaufen. Auch die Konvention über das Verbot biologischer und toxischer Waffen von 1972 ist praktisch wirkungslos geworden, weil die USA keine Kontrollen auf ihrem Territorium zulassen.1
Ein populäres neues Schlagwort sind auch die „intelligenten Waffen“ mit ihrer „chirurgischen Präzision“, mit deren Hilfe man militärische Ziele angeblich ohne unerwünschte Nebenwirkungen zerstören kann. Aus den jüngsten Kriegen haben wir allerdings die Einsicht gewonnen, dass die Grenze zwischen gezielten Schlägen gegen die Streitkräfte und die Städte des Feindes nicht genau zu ziehen ist. Die Zivilbevölkerung kann also nicht nur in die Schusslinie geraten, sondern auch selbst zum Ziel werden. Bei den Kriegen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist der Anteil der Zivilbevölkerung an den Kriegstoten von 10 auf 90 Prozent gestiegen. Und was den Terror gegen Einwohner betrifft, so ist die „konventionelle“ Bombardierung Dresdens durchaus mit dem „nichtkonventionellen“ Angriff auf Hiroshima vergleichbar.
Nach der in den 1930er-Jahren eingeführten so genannten Mitchell-Doktrin2 waren für das US-Militär massive Luftangriffe die grundsätzliche Voraussetzung für das Vorrücken der Bodentruppen. Ihr strategisches Ziel war die Zerstörung von zivilen Einrichtungen und Industrieanlagen, nicht der gegnerischen Streitkräfte. Zu den Prinzipien der Nato gehört es, Bombardements aus einer Höhe von mehr als fünf Kilometern durchzuführen, damit die eigenen Flugzeuge nicht in Reichweiter der gegnerischen Luftabwehr kommen. Aber aus dieser Höhe lassen sich zivile und militärische Zielen schwer unterscheiden.
Während des Krieges gegen Serbien wurde in der Allianz ganz offen vom „Dresden-Effekt“ gesprochen. Man wollte die Moral der Zivilbevölkerung brechen, indem man ihre Häuser, Brücken, Krankenhäuser, Elektrizitätswerke, Fabriken, Raffinerien, Telefonzentralen und Fernsehstationen in Schutt und Asche legte. Das Prinzip der „legitimen Verfolgung militärischer Ziele“ hat keinen Sinn für Feinheiten wie die Unterscheidung zwischen Angriffen auf gegnerische Truppen und gegnerische Städte. Im April 1999 bombardierte die Luftstreitkräfte der Nato das Gebäude des serbischen Staatsfernsehens (RTS) im Zentrum Belgrads, dabei fanden sechzehn Journalisten den Tod. Offensichtlich galten auch Medienvertreter als „legitimes militärisches Ziel“. Im Golfkrieg von 1991 war die Trinkwasserversorgung des Irak das erklärte Ziel von Angriffen.
Wirtschaftsembargos nehmen grundsätzlich ein ganzes Volk in Geiselhaft, die damit herbeigeführten Versorgungsengpasse sind besonders für die Ärmsten lebensbedrohlich, weil es ihnen an Lebensmitteln und Gesundheitsversorgung fehlt. Berücksichtigt man auch solche Wirkungen, so hat das Embargo gegen den Irak mehr Menschenleben gefordert als die Atombombe in Hiroshima.
Schon deshalb müssen Mediziner Begriffen wie „chirurgische Präzision“ und „begrenzte Kollateralschäden“ mit äußerstem Misstrauen begegnen. Gerade die Forderung, „Kollateralschäden“ möglichst zu begrenzen, macht deutlich, dass die Erhaltung des Wirtschaftspotenzials eines gegnerischen Landes weitaus wichtiger ist als die Vermeidung von Opfern unter der Zivilbevölkerung. Auch hier haben wir es mit einer Begriffsverwirrung zu tun. Wobei anzumerken wäre, dass Angriffe ohne Rücksicht auf unschuldige Opfer gemeinhin als verabscheuungswürdige Terrorakte gelten.
Die neuesten Waffentechnologien sollen uns mit dem Argument schmackhaft gemacht werden, dass sie zum Schutz der Zivilbevölkerung beitragen, weil sie sehr präzise die gegnerischen Streitkräfte bekämpfen können: Störung der Kommunikationssysteme durch Grafitbomben und elektromagnetische Bomben, wirksamere Zerstörung von Bunkeranlagen durch Mini-Atomwaffen, erhöhte Durchschlagskraft der panzerbrechenden Munition durch Verwendung von abgereichertem Uran. Allerdings wirken die Grafitbomben tatsächlich wie ein Schalter, der ein ganzes Land vom Netz nimmt und womöglich auch die Stromversorgung von Krankenhäusern und Entbindungsstationen unterbricht. Welche lebensbedrohlichen Folgen dies für die Patienten haben kann, hat sich 1999 in Serbien gezeigt. Und die langfristigen Gesundheitsschäden für Menschen, die Grafitstaub einatmen und die dem radioaktiven Niederschlag von Minibomben oder der Strahlung von abgereichertem Uran ausgesetzt sind, kann man nur ahnen. Bislang sind diese Fragen, vor allem die möglichen onkologischen Konsequenzen, noch kaum diskutiert worden.
Man sollte nicht vergessen, dass die US-Führung einmal versichert hat, der Einsatz des Entlaubungsmittels „Agent Orange“ im Vietnamkrieg werde die Gesundheit der Bevölkerung nicht beeinträchtigen. Bei dieser Art von Waffen lässt sich nun einmal keine Grenze zwischen „Sachschäden“ und „Personenschäden“ ziehen. Eine Mikrowellenwaffe kann zur Ausschaltung elektronischer Systeme eingesetzt werden, aber bei höherer Intensität könnte sie auch Menschen „verkochen“.
Seit dem 11. September erleben wir die Ablösung einer defensiven, auf Abschreckung beruhenden Militärdoktrin durch ein neues, offensives Konzept. Und wieder hat die Medizin, ob freiwillig oder unfreiwillig, ihren Beitrag zu den Kriegsanstrengungen geleistet. Man kann die Verwirrung, die das Beharren auf dem Recht zur humanitären Intervention und der gleichzeitige Abwurf von Bomben und Lebensmittelpaketen gestiftet hat, auch als ein taktisches Manöver verstehen.
Auch die neueste Waffentechnologie ist Ausdruck wissenschaftlichen Fortschritts. Selbst die klassischen Feuerwaffen scheinen auf wundersame Weise einen regelmäßigen Innovationsschub zu erleben. Der Physiker Edward Teller, maßgeblich an der Entwicklung der Atombombe und der Wasserstoffbombe beteiligt, war überzeugt, dass diese Technologie zur Rettung der freien Welt diene. Heute wetteifern Gentechniker und Physiker darin, die bestehenden ABC-Waffen zu verbessern und sich neue Formen der Apokalypse auszudenken.
Auch Landesgrenzen bieten längst keinen Schutz mehr. Man kann sich gegen die Pocken impfen lassen oder weltraumgestützte Raketenabwehrsysteme einrichten – gegen den Schrecken, den Selbstmordkommandos in unseren Gesellschaften mit ganz konventionellen Waffen verbreiten können, helfen keine wissenschaftlichen Errungenschaften.
deutsch von Edgar Peinelt
* Chantal Bismuth ist Professorin für Medizin, Beraterin für Toxikologie am Fernand-Widal-Krankenhaus in Paris, Ärztin für Wiederbelebungsmedizin. Patrick Barriot ist ehemaliger Leiter der medizinischen Abteilung bei den Sondereinsatzkräften des Zivilschutzes und ist medizinischer Berater der Zivilschutzbehörde.