Wer wen verurteilen darf und warum
Von ANNE-CÉCILE ROBERT
MÜSSEN sich die Leute, die gegen den Irak Krieg führten, eines Tages vor einem Gericht verantworten? Vor welchem internationalen Gericht könnten Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen der Kriegsparteien im Irak verhandelt werden? Wahrscheinlich wird sich keines finden, denn die Vereinigten Staaten und Großbritannien sind – wenngleich in unterschiedlichem Maße – als souveräne Staaten geschützt.
Das bedeutet jedoch nicht, dass sich die Länder und ihre politisch Verantwortlichen auf ewig jedweder Sanktion entziehen können. Das internationale Recht hat erhebliche Fortschritte gemacht, zumal im Strafrecht. Trotz der Ereignisse im Irak verpflichten sich tendenziell immer mehr Staaten auf gemeinsame Regeln. Und für das Funktionieren einer internationalen Justiz bedarf es keineswegs eines vollkommenen Verzichts aller Staaten auf ihre Souveränität; wichtiger ist vielmehr ein dialektisches Zusammenspiel von nationaler Souveränität einerseits und einem übergeordneten Recht andererseits, welches die Verletzung internationaler Vorschriften unter Strafe stellt.
Das internationale Strafrecht bietet unter bestimmten Bedingungen die Möglichkeit, Staatschefs und amtierende Politiker vor Gericht zu stellen, wie die Verhaftung von General Augusto Pinochet 1998 in Großbritannien gezeigt hat. Auch wenn es letztendlich nicht zum Prozess kam: Verhaftet wurde der chilenische General auf Initiative eines spanischen Richters und obwohl er als Senator an sich Immunität besaß.
Der Amtseid der Richter des neu gegründeten Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) vom 11. März dieses Jahres bestätigt einmal mehr das Fortschreiten des internationalen Rechts. Nach dessen Statut gilt das Immunitätsprinzip nicht mehr uneingeschränkt, denn anders als der 1946 als UN-Organ gegründete Internationale Gerichtshof (IGH), der nur Streitfälle zwischen Ländern entscheiden kann, wird der IStGH künftig auch einzelne Personen verurteilen können, wie bereits geschehen durch die Ad-hoc-Gerichte, die nach den Bürgerkriegen in Exjugoslawien1 und Ruanda eingerichtet wurden. Die Zuständigkeit des IStGH beschränkt sich auf Völkermord, Verbrechen gegen die Menschheit, Kriegsverbrechen und Angriffsverbrechen2 , gleich in welchem Land, sofern sie nach Inkrafttreten der Gründungsurkunde am 1. Juli 2002 begangen wurden.
Trotzdem gründet sich die internationale Rechtsordnung auch weiterhin auf das Souveränitätsprinzip, und Staaten wie politische Führer verfügen nach wie vor über wirksame Schutzinstrumente. So kann der IStGH nur intervenieren, wenn der Staat, auf dessen Boden das Verbrechen begangen wurde, das Statut ratifiziert hat oder wenn der Angeklagte Angehöriger eines Staates ist, der das Statut ratifiziert hat.3 Großbritannien hat die Gründungsurkunde bereits 2001 ratifiziert, die Vereinigten Staaten unter George W. Bush hingegen zogen ihre Unterschrift zurück, nachdem Bushs Vorgänger Bill Clinton sie kurz vor dem Ende seiner Amtszeit noch hatte ratifizieren wollen. Russland, China, Israel und die Türkei haben das Dokument ebenfalls nicht unterzeichnet.
Trotzdem – und das ist ein Novum – gewährt die Nichtratifizierung den Regierenden keinen absoluten Schutz. Es reicht, wenn das Verbrechen in einem Land begangen wurde, das die Zuständigkeit des Gerichtshofs anerkennt.4 Außerdem ist jeder Unterzeichnerstaat gehalten, mit dem IStGH zu kooperieren, ihm also alle Angeklagten auszuliefern, die sich auf seinem Hoheitsgebiet aufhalten. Angeklagte Verbrecher sind somit zumindest dazu verurteilt, im eigenen Land zu bleiben, wogegen Washington sich in jüngster Zeit um den Abschluss bilateraler Abkommen bemüht, in denen die fremden Regierungen sich verpflichten sollen, dem IStGH keine US-Staatsbürger zu überstellen. Eine Verhandlung der amerikanischen und britischen Kriegshandlungen wäre somit nur möglich, wenn Irak zu den Unterzeichnerstaaten gehören würde. Dies ist bedauerlicherweise nicht der Fall.
Der britische Premierminister Tony Blair und seine Mannschaft könnten sich zwar als Vertreter eines Unterzeichnerstaats eines Tages vor dem Strafgerichtshof wiederfinden. Allerdings hat der IStGH nur eine subsidiäre Zuständigkeit, das heißt, er kann nur dann aktiv werden, wenn die nationale Justiz „nicht willens oder in der Lage ist, die Ermittlungen ernsthaft durchzuführen“. Dies ist schwerlich nachweisbar. Gleichwohl zwingt diese Klausel die britische Justiz dazu, gegen mögliche Verantwortliche zu ermitteln.
Der Internationale Gerichtshof (IGH) kann seinerseits darüber befinden, ob der Einsatz von bewaffneter Gewalt seitens eines Staates zulässig war und ob dieser das Kriegsrecht respektiert hat. So ist der Gerichtshof derzeit mit einer Klage Jugoslawiens gegen die Nato-Intervention im Kosovo 1999 befasst, die – genau wie der Einsatz im Irak – ohne Mandat des UN-Sicherheitsrats erfolgt war. Aber auch der IGH kann nur tätig werden, wenn der betreffende Staat die Zuständigkeit des Gerichts entweder für alle Rechtsstreitigkeiten oder aber für einen bestimmten Streitfall anerkannt hat.5
Die Vereinigten Staaten unterwarfen sich der Gerichtsbarkeit des IGH 1946, widerriefen ihre Entscheidung jedoch im Jahr 1986, nachdem der IGH sie auf Ersuchen Nicaraguas wegen „militärischer und paramilitärischer Aktivitäten“ gegen das mittelamerikanische Land verurteilt hatte. Die USA können also wegen keiner Irak-Operation vor dem IGH belangt werden. Großbritannien hingegen riskiert ein Verfahren, sollte ein Land, das den IGH anerkennt, Anzeige erstatten. Es ist das einzige ständige Mitglied des Sicherheitsrats, das die Zuständigkeit des Internationalen Gerichtshofs allgemein anerkannt hat.6
Doch selbst wenn der IGH Großbritannien verurteilen würde, besäße er kein Zwangsmittel, um das Urteil zu vollstrecken oder weitere Verstöße zu unterbinden, so wie er dem Urteil gegen die USA in Sachen Nicaragua nicht zu Geltung verhelfen konnte. Denkbar wäre zwar eine Anrufung des Sicherheitsrats, doch ein Veto Großbritanniens würde jede Entscheidung blockieren.
Die Schutzfunktion der Staatssouveränität ist weder erstaunlich noch per se negativ. Sie ist nicht einfach ein Überbleibsel vergangener Zeiten, sondern wirkt nach wie vor stabilisierend in der „anarchischen“ Weltgesellschaft. Der Grundsatz der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten – nach dem Ende des Kalten Kriegs wurde er im Namen der Menschenrechte zu Gunsten des Sicherheitsrats aufgeweicht – entstand Anfang des 20. Jahrhunderts mit dem erklärten Ziel, willkürliche Interventionen durch die Großmächte zu unterbinden. Aus demselben Motiv sind unter der UN-Charta alle Kriege mit dem Ziel, in einem fremden Staat einen Regimewechsel herbeizuführen, rechtswidrig. Genau das aber war einer der entscheidenden Beweggründe der amerikanisch-britischen Intervention im Irak.
Eine neue Form des Kolonialismus
AUCH der (von humanitären Organisationen immer wieder angezweifelte) Grundsatz der diplomatischen Immunität wurde geschaffen, um die zwischenstaatlichen Beziehungen zu erleichtern und Vertreter der Staaten vor Strafverfolgung zu schützen. Entsprechend urteilte das französische Kassationsgericht im März 2001, die französische Justiz sei nicht zuständig, im Fall Lockerby gegen Muammar al-Gaddafi zu ermitteln.7 Immer mehr internationale Abkommen – auch die Statute des IGH – durchbrechen das Immunitätsprinzip bei „schwersten Verbrechen“ (Verbrechen gegen die Menschheit und Kriegsverbrechen).
Im Prinzip sind die Staaten angehalten, die internationalen Gesetze in ihr jeweiliges nationales Recht zu überführen. Davor schrecken die meisten Regierungen jedoch zurück. Anders dagegen die belgische. Dort erlaubt ein Gesetz den Gerichten, ausländische Verbrecher wegen im Ausland begangener Straftaten zu verurteilen – allerdings wurde es im April dieses Jahres grundlegend überarbeitet.8 Einige Organisationen nutzten die Chance aber und zogen gegen Ariel Scharon vor ein belgisches Gericht wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit. Sie wollten ihn für die Massaker in den palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Schatila 1982 verantwortlich machen, hatten damit bislang aber keinen Erfolg. Etliche ruandische Völkermörder sowie ein kongolesischer Militär wurden nach dem Gesetz dagegen verurteilt. Kritiker des Gesetzes sehen es deswegen als neue Form des Kolonialismus.9
Eine wirkliche „internationale Gemeinschaft“, die eine uneingeschränkte Aufhebung nationaler Souveränität zu Gunsten einer supranationalen Gerichtsbarkeit rechtfertigen würde, gibt es nicht. Tatsächlich verhindern vorhandene Ungleichheit und Machtgefälle innerhalb der nationalen Gesellschaften nicht das Funktionieren der jeweiligen Judikative. Das sieht auf internationaler Ebene anders aus. Denn es gibt einen gewaltigen Unterschied. Olivier Corten, Professor für internationales Recht, beschreibt ihn folgendermaßen: Die meisten nationalen Gesellschaften können „sich auf einen starken ideologischen und kulturellen Zusammenhalt stützen. Auf der internationalen Bühne kann dagegen bestenfalls von einer ‚Gesellschaft im Aufbau‘ die Rede sein. Über gewisse Regeln und Grundwerte mag man sich hier wie dort verständigen können, doch sobald es um die konkrete Deutung dieser Werte geht, herrscht die allergrößte Uneinigkeit.“10
Das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs trägt diesem Sachverhalt Rechnung. Zum einen muss die Zusammensetzung des Gerichtshofs die Verschiedenheit der nationalen Rechtssysteme widerspiegeln, zum anderen ergreifen die Richter nur dann die Initiative, wenn die nationalen Gerichte untätig bleiben. Jene Klausel diskriminiert auf lange Sicht die ärmeren Länder, deren Gerichte aus wirtschaftlichen Gründen schlechter funktionieren. Auf keinen Fall darf sich die internationale Justiz zu einem weiteren Instrument der Großmächte entwickelt.
In den Fällen, wo die Rechtsprechung politischen Zielen entgegensteht, stößt die internationale Justiz an ihre Grenzen. So war etwa der Versuch, Pinochet wegen Menschenrechtsverletzungen zu verurteilen, nicht vereinbar mit dem politischen Kompromiss, den die chilenische Gesellschaft zur Beendigung der Diktatur gefunden hatte. Umgekehrt schwächte die Verhaftung des serbischen Generals Djordje Djukić durch das Kriegsverbrechertribunal für Exjugoslawien 1996 das Abkommen von Dayton. So notwendig es sein mag, gegen Rechtsverstöße und ungerechtfertigte Straffreiheit vorzugehen, so verfehlt wäre es, wenn die internationale Justiz ihre Befugnisse derart erweitern würde, dass die internationalen Beziehungen über die Maßen in Mitleidenschaft gezogen würden oder sich Herrrschaftsstrukturen herausbilden würden. Was wäre zum Beispiel, wenn sie gegen einen demokratisch gewählten Präsidenten ermitteln würde? Die britische Organisation „Judicial Watch“ hat bei Europol und Interpol Anzeige gegen den französischen Staatspräsidenten Jacques Chirac erstattet – wegen „Verbreitung von Nuklearmaterial“.11 Wie triftig die Anklage auch sein mag – vor Gericht verhandelt würde eine Politik, die das Ergebnis freier Wahlen ist. In einer Demokratie ist nationale Souveränität zugleich Volkssouveränität.
Die internationale Justiz (so notwendig sie ist) muss missbräuchlichen Vereinnahmungen mit großer Klarheit entgegentreten – etwa den permanenten Versuchen internationaler Organisationen, neue Anklagepunkte, wie Pädophilie oder Terrorismus, im internationalen Recht zu verankern. Außerdem sollte sie der klassischen Versuchung widerstehen, ihre Befugnisse eigenständig auszuweiten. Chefanklägerin Carla del Ponte zum Beispiel hat 1999 die Zuständigkeit des Jugoslawien-Kriegsverbrechertribunals aus eigener Initiative auf das Kosovo ausgeweitet, ohne eine entsprechende Entscheidung des Sicherheitsrats abzuwarten.
Es darf letztlich nicht passieren, dass die internationalen Gerichte nur „die Ohnmacht, Feigheit und Unfähigkeit der internationalen Gemeinschaft vertuschen, Konflikte zu verhindern oder zu unterbinden“.12 Genau das aber könnte im Fall dieses Irakkriegs Wirklichkeit werden.
deutsch von Bodo Schulze