16.05.2003

Verbrechen, Lügen und Befreiung

zurück

Verbrechen, Lügen und Befreiung

ERWARTUNGSGEMÄSS haben die Vereinigten Staaten den Krieg gegen den Irak gewonnen. Die Kritiker des Feldzugs sind in der Defensive – als gäbe der Ausgang des Irakkriegs und der Untergang der Diktatur Saddam Husseins den Angreifern im Nachhinein Recht, obwohl die angeblichen Massenvernichtungswaffen bislang nirgendwo aufgetaucht sind. Die Iraker haben Angst vor dem drohenden Chaos in ihrem Land, den Amerikanern trauen sie nach den Erfahrungen, die sie mit den USA gemacht haben, nicht über den Weg. Der Jubel der Bevölkerung über ihre Befreiung und die Begeisterung für die Befreier hielt sich bekanntlich in Grenzen.

Von ALAIN GRESH 

Wer Erfolg hat, findet leicht Freunde. In der europäischen Öffentlichkeit war das militärische Abenteuer im Irak weitgehend verpönt. Nun aber dürfen die Befürworter der Invasion ihre Stimme wieder erheben und vom „Lager der Friedensfreunde“ Reue fordern, weil dieses den Einmarsch der US-amerikanischen Truppen in Bagdad zu Unrecht abgelehnt habe. Wenn Paris von seinen Positionen nicht abrücke, werde Frankreich in die Isolation geraten, und französische Unternehmen müssten befürchten, bei der Vergabe von Aufträgen für den irakischen Wiederaufbau übergangen zu werden. Ganz zu schweigen vom Boykott französischer Produkte in den USA. Schließlich sei es jetzt doch das einzig Ehrenhafte, den Irrtum einzugestehen. Dass dieser Krieg ohne Zustimmung der Vereinten Nationen begonnen wurde und eine offene Verletzung des Völkerrechts bedeutete, scheint unerheblich: Die Waffen haben gesprochen, und mit den Siegern muss man sich gut stellen.

Amerikanische Panzer stehen in Bagdad. Sind deshalb die Analysen, die vor dem Beginn der Aggression am 20. März Gültigkeit hatten, nichts mehr wert? Der Irak, geschwächt durch zwölf Jahre Embargo und entwaffnet von den Vereinten Nationen, gab für Rüstungszwecke etwa zwei Promille des US-Verteidigungsbudgets aus, das 45 Prozent der weltweiten Militärausgaben ausmacht. Niemand zweifelte ernsthaft am Sieg der USA. Die drastische Differenz in den Budgets findet ihren tragischen Ausdruck auch in den Opferzahlen: Offiziell haben die USA 125 Soldaten verloren, Großbritannien 30, während, nach Ansicht der meisten Beobachter, viele tausend irakische Soldaten den Tod fanden – 2 000 bis 3 000 waren es an einem einzigen Kampftag in Bagdad. Dieser Sieg hat weit mehr Ähnlichkeit mit einem Tontaubenschießen als mit so etwas wie einer Heldentat.

Oberstleutnant Woody Radcliff erinnert sich an eine Situation in Nadschaf, als irakische Kämpfer aus einer Fabrik herauskamen: „Sie stürmten in mehreren Wellen auf unsere Truppe los, bewaffnet mit AK-47-Gewehren. Und sie wurden alle getötet. Unser Befehlshaber sagte: ‚Das ist Wahnsinn, das ist nicht in Ordnung. Wir sollten das Gebäude von der Luftwaffe zerstören lassen und sie alle auf einmal umbringen.‘“ Ein Soldat fügt hinzu: „Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, aber ich fühle mich fast verantwortlich für das Massaker. Wir haben so viele Männer niedergemacht, und ich frage mich, wie viele Unschuldige unter ihnen waren. Man ist nicht sehr stolz auf so etwas. Wir haben gesiegt – aber um welchen Preis …“1

Allem Anschein nach sind wir zur glorreichen alten Kolonialzeit zurückgekehrt, als die „zivilisierten Nationen“ gegen die „Wilden“ antraten. 1898 trafen im sudanesischen Omdurman britische Streitkräfte, unterstützt von ägyptischen Hilfstruppen, auf ein Heer von Aufständischen, die sich gegen die Fremdherrschaft auflehnten. Am Ende waren 11 000 Sudanesen niedergemetzelt, die britisch-ägyptischen Truppen – das Wort Koalition hätte damals niemand in den Mund genommen – hatten 48 Mann verloren. Dem britischen Empire ging es um die Wiederherstellung der Ordnung – den Vorwand, die Demokratie einführen zu wollen, nahm damals niemand in Anspruch. Und die sudanesischen Krieger als eine Gefahr für London zu bezeichnen, wäre den Briten lächerlich vorgekommen.

Der Krieg gegen den Irak war kurz und grausam. Für eine Bilanz der Opfer unter der Zivilbevölkerung ist es zu früh – zweitausend Leichen sind „geborgen“, wie viele noch unter den Trümmern liegen, bleibt ungewiss. Der Einsatz von Munition mit abgereichertem Uran wird Spätfolgen haben, vergleichbar den in Vietnam eingesetzten Entlaubungsmitteln, die bis heute zahllose Menschenleben kosten. Hinzu kommen Splitterbomben, die über Wohngebieten niedergingen, und nicht zuletzt die Tatsache, dass im Vorgehen der Marines „die Zivilisation“ ihre Fratze gezeigt hat.

7. April 2003. Das dritte Bataillon des vierten Regiments der Marines hat den Stadtrand von Bagdad erreicht. Der Fotograf Laurent Van der Stockt – einer der embedded journalists – berichtet: „Ein kleiner blauer Lieferwagen fährt auf den Militärkonvoi zu. Drei ungezielte Warnschüsse sollen ihn zum Anhalten bringen. Das Auto fährt zunächst weiter, wendet, bringt sich außer Schussweite, kommt dann wieder langsam näher. Die Marines feuern weiter. Alles geht durcheinander, am Ende fallen Schüsse von allen Seiten. Später zeigt sich, dass zwei Männer und eine Frau in dem Fahrzeug von Kugeln durchsiebt worden sind. Das war die ganze Bedrohung. Ein zweites Auto taucht auf, wieder dasselbe, alle Insassen werden einfach umgebracht. Ein alter Mann geht am Straßenrand, langsam, auf seinen Stock gestützt – auch er wird getötet.“

Und der Journalist fasst zusammen: „Innerhalb von zwei Tagen habe ich mit angesehen, wie 15 Zivilisten umgebracht wurden. Ich kenne Kriegsschauplätze, ich weiß, dass jeder Krieg schmutzig ist und dass die Zivilisten zu den ersten Opfern gehören – aber so etwas, das ist einfach absurd …“2 Falsch. So etwas ist nicht „einfach absurd“, es ist ein Kriegsverbrechen.

Historischer Augenblick ohne Publikum

ABER sind die vielen Opfer nicht einfach der Preis der „Befreiung“ des Irak? Sicher, die Iraker werden froh sein über das Ende der Diktatur Saddam Husseins, die mehr Menschen auf dem Gewissen hat als jedes andere Regime in der Region. Aber für sie war der Angriff vom 20. März nur eine weitere Etappe des endlosen Kriegs, den sie seit 1991 über sich ergehen lassen mussten. Ständige Luftangriffe, gnadenlose Sanktionen. Die Folge waren; Tote, Unterversorgung, Verzweiflung.3

Alle haben auf ein Ende dieses Albtraums gehofft, auf die Rückkehr ins normale Leben. Aber die jüngsten schweren Luftangriffe, die zum Zusammenbruch der ohnehin fragilen Infrastruktur führten, und das Verhalten der britisch-amerikanischen Truppen weckten neue Ängste und Sorgen: Welche Absichten verfolgt Washington? Wird ein allgemeines Chaos ausbrechen? Wird es zu Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Glaubensrichtungen kommen? Die Begeisterung jedenfalls, mit der die „Befreier“ empfangen wurden, hielt sich überall in Grenzen.

Das Pentagon wollte gegensteuern und veranstaltete ein großes Medienspektakel: die Zerstörung der Statue von Saddam Hussein im Zentrum der irakischen Hauptstadt, am 9. April 2003. Die Bilder gingen um die Welt, trotz des kleinen Schönheitsfehlers, dass man erst noch das um das Haupt des Diktators gewickelte Sternenbanner durch eine irakische Fahne ersetzen musste. Verteidigungsminister Donald Rumsfeld zeigte sich dennoch gerührt und erklärte, die Szene habe ihn an den Fall der Berliner Mauer erinnert. Er vergaß zu erwähnen, dass es US-Soldaten waren, die den symbolischen Sturz Saddams ins Werk setzten, und dass sich zu diesem Anlass höchstens hundert Iraker eingefunden hatten. Die Journalisten, die den historischen Moment festhielten, waren deutlich in der Überzahl. Keine Fernsehübertragung zeigte den riesigen Platz in Bagdad in der Totale: Er war nämlich leer, bis auf die Panzer, welche die einmündenden Straßen absperrten.

Die USA brauchten die „spontane Begeisterung“ des irakischen Volkes, um davon abzulenken, dass ihre Kriegsgründe immer fadenscheiniger wirkten. Monatelang hatte Washington den Kreuzzug gegen Bagdad vor allem mit dem Argument gerechtfertigt, die Massenvernichtungswaffen des Irak zerstören zu wollen, schon weil diese geheimen Arsenale eine unmittelbare Bedrohung der Vereinigten Staaten darstellten. Immer neue Beweise wurden angeführt. In seiner Rede zur Lage der Nation am 28. Januar 2003 erklärte Präsident Bush, der Irak habe versucht, in Niger hundert Tonnen Uranoxid zu kaufen, das zur Herstellung von Atomwaffen diene; und Außenminister Powell übergab den Vereinten Nationen Dokumente, die diesen Vorwurf belegen sollten.

Am 7. März zerfiel die Beweiskette: Mohammed al-Baradei, Leiter der Internationalen Atomenergie-Behörde (IAEO), gab bekannt, dass die vorgelegten Dokumente grobe Fälschungen enthielten und das Werk einer britischen Geheimdienstabteilung seien, die seit 1997 Desinformationskampagnen gegen den Irak betreibe.4 Aber auch das schien unwichtig: in den US-Medien fand die Richtigstellung kaum Erwähnung, und mehr als 40 Prozent der Amerikaner blieben bei ihrer Überzeugung, dass der Konflikt nur entstanden sei, weil der Irak über Atomwaffen verfüge.

Selbst als sich die Niederlage deutlich abzeichnete, haben die irakischen Streitkräfte weder chemische noch biologische Waffen eingesetzt. Bis heute konnten die US-Truppen nichts finden, was den Krieg und die vielen tausend Toten rechtfertigen könnte. Washington sperrt sich gegen die Rückkehr der UN-Inspektoren, die rechtlich geboten ist, um die Sanktionen aufheben zu können. Vielleicht hofft George Bush ja darauf, dass ihm Tony Blair noch einmal „Beweise“ aus den Archiven der Geheimdienste liefert.

Der Feldzug gegen den Irak war auch als Teil des „Kriegs gegen den Terrorismus“ gerechtfertigt worden – angeblich unterhielt das Regime in Bagdad Beziehungen zu Ussama Bin Ladens al-Qaida. Das glaubte nicht einmal die CIA, aber laut Umfragen waren 44 Prozent der Amerikaner überzeugt, dass die Luftpiraten des 11. September überwiegend aus dem Irak kamen, und 45 Prozent hielten Saddam Hussein für einen der Hintermänner der Anschläge.5 Derartige Umfragen belegen vor allem, welchen Einfluss die Medien in der offenen Gesellschaft haben und wie sie mit ihren verfälschenden Bildern die Demokratie unterlaufen können.

Eine Gemeinsamkeit besteht tatsächlich zwischen Saddam Hussein und Ussama Bin Laden, und die Iraker wissen seit langem um sie: Beide gehörten in den 1980er-Jahren zu den Verbündeten der USA, und beide hätten niemals so mächtig und gefährlich werden können, wenn sie nicht von aufeinander folgenden US-Regierungen politische und materielle Unterstützung erfahren hätten. Washington unterstützte die afghanischen Mudschaheddin ebenso wie die arabischen Freischärler, die bereit waren, gegen die sowjetische Besatzungsmacht zu kämpfen. Davon profitierte bekanntlich auch Ussama Bin Laden.6 Die Bande zwischen Saddam Hussein und den USA reichen noch weiter zurück.

In verschiedenen Saddam-Hussein-Biografien heißt es, die CIA habe bereits Anfang der 1960er-Jahre, als der Diktator im Exil in Kairo lebte, Kontakte mit ihm aufgenommen. Nach dem Ende des fortschrittlichen Regimes unter Abd al-Karim Kassem durch den Militärputsch vom Februar 1963 setzte im Irak eine Welle der Verfolgung von Demokraten und Kommunisten ein, die tausende Menschen das Leben kostete. Saddam Hussein war sofort zurückgekehrt und beteiligte sich an dieser Hetzjagd, er soll selbst getötet und gefoltert haben. Die Namenslisten für die Verhaftungen lieferte die CIA – so wie 1965 in Indonesien, als bei den antikommunistischen Säuberungen 500 000 Menschen umkamen. Die alte Komplizenschaft sorgte im Übrigen dafür, dass in der arabischen Welt lange das Gerücht umging, Saddam Hussein sei ein Agent der CIA. Verschwörungstheorien haben im Nahen Osten eben immer Konjunktur.

In den 1980er-Jahren vertieften sich die Beziehungen zwischen der irakischen Baath-Partei und der US-Regierung unter Präsident Ronald Reagan. Als Reagans Sonderbotschafter begab sich 1983 ausgerechnet Donald Rumsfeld nach Bagdad, um dem künftigen Hitler die Hand zu schütteln. Danach verschwand der Irak von der Liste der Staaten, die den Terrorismus unterstützen. Man nahm die diplomatischen Beziehungen wieder auf, und die USA ließen Bagdad militärische Unterstützung im Kampf gegen die „islamische Revolution“ zukommen. Natürlich wusste man in Washington, dass der Irak gegen internationale Abkommen verstieß und Chemiewaffen gegen den Irak einsetzte. Und als 1988 die Kurden zum Ziel irakischer Giftgasangriffe wurden, die in Halabja tausende Tote forderten, lancierte das Außenministerium eine Desinformationskampagne, die das Massaker den Iranern in die Schuhe zu schieben versuchte.7

Mit dem irakischen Einmarsch nach Kuwait im August 1990 änderte sich die Lage. Aber als sich im Februar und März 1991 die Schiiten im Süden und die Kurden im Norden gegen das Regime erhoben, sahen die US-Streitkräfte ungerührt zu, wie die Aufstände niedergeschlagen wurden. Denn Washington hätte wohl Saddam Hussein gern gestürzt, aber nicht das irakische Regime. Colin Powell, damals Generalstabschef der Golfkriegskoalition, machte das 1992 deutlich: „Es gibt die romantische Vorstellung, dass, wenn Saddam Hussein morgen von einem Omnibus überfahren wird, schon ein Demokrat vom Schlage Jeffersons bereitsteht und Wahlen abhalten lässt. [Dabei wären bestimmt viele empört gewesen], wenn wir bis nach Bagdad vorgestoßen wären, und zwei Jahre später hätten immer noch amerikanische Soldaten auf der Suche nach diesem Jefferson die Hauptstadt durchstreift.“8 Die Iraker, vor allem die hart unterdrückte schiitische Bevölkerung, haben diese Haltung nicht vergessen und zeigen sich jetzt entsprechend skeptisch gegenüber den demokratischen Absichtserklärungen der neuen Herren.

Das Auftreten der alliierten Truppen während der Kämpfe und so manche symbolkräftigen Bilder bestärkten derartige Bedenken: Marines, die das Erdölministerium bewachen, während die dreißig übrigen Ministerien geplündert und systematisch zerstört wurden. Plünderungen, vor allem in Krankenhäusern, bei denen die US-Soldaten einfach wegschauten. Die Verwüstung des Nationalmuseums und des Museums von Mossul, das Niederbrennen der Nationalbibliothek und der Koranbibliothek mit ihren Kulturschätzen – unersetzliche Verluste für den Irak wie für die ganze Welt. Was der irakische Hochschulprofessor Schakir Asis formuliert, dürften viele ähnlich empfinden: „Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie die amerikanischen Truppen Iraker aufhetzten, die Technische Universität zu plündern und in Brand zu stecken. Welche irrsinnigen geopolitischen Ziele, welcher Hass auf alles Arabische oder Muslimische und welche Gier nach dem Öl und dem lukrativen Geschäft beim Wiederaufbau müssen im Spiel sein, um die Amerikaner zu solchen Orgien der Zerstörung zu veranlassen …“9 Es hätte nur ein paar Panzer gebraucht, um das irakische Weltkulturerbe zu schützen, vielleicht nicht einmal so viele wie zur Sicherung des Platzes vonnöten waren, auf dem Washington den Sturz der Saddam-Hussein-Statue so wirkungsvoll inszenierte.

Die Iraker fürchten das Chaos, und sie haben die USA im Verdacht, es zu fördern – um ihre Präsenz zu rechtfertigen, um sich der Erdölvorkommen zu bemächtigen, um Militärstützpunkte einzurichten. Alle wissen, wie sich ihre Gesellschaft seit dem Einmarsch in Kuwait immer weiter aufgelöst hat, nicht zuletzt unter dem harten Regime der Sanktionen mit ihren tödlichen Folgen für die Bevölkerung, auf deren Fortsetzung die USA trotzdem weiter bestanden. Alle mussten ihr tägliches Überleben sichern, an den Staat verschwendete längst niemand mehr einen Gedanken. Unterstützt von den Machthabern, gewann der Tribalismus an Boden, gleichzeitig brach das Bildungssystem zusammen, archaische Traditionen lebten wieder auf, nicht zuletzt zum Nachteil der Frauen. In den 1990er-Jahren waren Waffen an die Stämme ausgeteilt worden, und 2003 nahm sich jeder, was die irakische Armee zurückgelassen hatte. Die Iraker sind daher heute ein Volk in Waffen.

Viele glauben, dass die Zukunft nicht die Demokratie, sondern die Auflösung aller Ordnung bringen wird. Die Konflikte zeichnen sich bereits ab. In Mossul gab es Zusammenstöße zwischen den ethnischen Gemeinschaften, in Kirkuk haben die Kurden, die einst von Saddam Hussein ins Exil getrieben wurden, arabische Familien aus ihren Häusern geworfen. Und innerhalb der schiitischen Bevölkerung verstärkt sich der Einfluss der radikalreligiösen Kräfte. Die Bemühungen der Amerikaner und Briten, lokale Funktionäre der Baath-Partei oder Polizeibeamte wieder in ihre Funktionen einzusetzen, stießen auf erbitterten Widerstand.

Es hat sich sehr rasch gezeigt, dass die Iraker keinerlei Sympathien für ein US-amerikanisches „Protektorat“ zeigen (siehe die Seiten 1 und 8 bis 10). Der Krieg war noch nicht beendet, als bereits 20 000 Menschen in Nassirija gegen die Zusammenkunft irakischer Oppositionspolitiker unter Vorsitz des amerikanischen „Prokonsuls“, des Exgenerals Jay Garner, demonstrierten. „Für die Freiheit! Für den Islam! Gegen Saddam! Gegen Amerika!“ Das waren die Parolen, die später auch bei vielen anderen Kundgebungen skandiert wurden.

Jay Garner, ein Vertrauter von Donald Rumsfeld, gehört zu den schärfsten Falken in Washington und ist ein glühender Verfechter der Politik Ariel Scharons. Ein Mann, der kalt lächelnd erklärt, dass die USA den Vietnamkrieg gewonnen hätten, „wenn wir den Krieg auch im Norden geführt hätten, statt uns nur um den Süden zu kümmern. Im Irak haben wir das jetzt besser gemacht. Wäre Bush damals Präsident gewesen, dann hätten wir gesiegt.“10 Dass sich ein solcher Hardliner von Demonstrationen beeindrucken lässt, ist unwahrscheinlich. Washington hat sich für die Einsetzung einer US-Administration im Irak entschieden, bei der auch einige irakische Kollaborateure mitwirken sollen – einer der Kandidaten ist Ahmed Chalabi, ein Geschäftsmann, der in Jordanien wegen Unterschlagung zu 22 Jahren Haft verurteilt wurde.

Die Pläne für den Wiederaufbau des Irak liegen vor. Den Zuschlag für die Durchführung haben Firmen erhalten, die über enge Beziehungen zur US-Regierung verfügen. Schließlich muss ja auch die nächste Wahlkampagne des Präsidenten finanziert werden. So erhielt die Erdölgesellschaft Halliburton, an deren Spitze bis 2000 US-Vize Richard Cheney stand, den Auftrag, die Brände auf den irakischen Ölfeldern zu löschen. Die Bechtel-Gruppe – Nummer eins im Bereich öffentlicher Bauvorhaben in den USA und ebenfalls der jetzigen Regierung eng verbunden – konnte sich angeblich Aufträge im Umfang von über 680 Millionen Dollar sichern.11 Diesen Fall hat die Europäische Union zum Anlass genommen, bei der Welthandelsorganisation prüfen zu lassen, ob solche Verträge nicht gegen die internationalen Regeln verstoßen.

Es ist doch Sache der Amerikaner, wie sie ihr Geld ausgeben, mag man einwenden. Das stimmt aber nicht ganz. Der Kongress hat 2,4 Milliarden Dollar für den Wiederaufbau des Irak bewilligt – davon stammen immerhin 1,7 Milliarden aus irakischen Guthaben, die seit 1990 eingefroren waren und am 20. März 2003 per Regierungsbeschluss beschlagnahmt wurden. Im Übrigen vertrauen die USA auf die bewährten wirtschaftsliberalen Rezepte: Innerhalb von 18 Monaten sollen alle irakischen Staatsbetriebe privatisiert werden, und das Land soll eine unabhängige Zentralbank erhalten – eine Einrichtung, die in keinem anderen Land der Region besteht.12 Offenbar stellt sich die US-Regierung den Irak als ein Land ohne einen wirksamen Staat vor.

Wer der Demokratie zum Sieg verhelfen wolle, dürfe notfalls auch einen Krieg führen – so das Argument der Kritiker des „Friedenslagers“, die von einem „neuen Nahen Osten“ träumen. Nun hat die Region seit 1948 bereits eine Reihe von bewaffneten Konflikten erlebt – vom ersten Aufeinandertreffen Israels und der arabischen Staaten bis zum Golfkrieg 1990/91, nicht zu vergessen die erste und die zweite Intifada in Palästina. Jede dieser Auseinandersetzungen führte zur Stabilisierung der bestehenden Machtverhältnisse, zu Demütigungen und zu einer Verhärtung der öffentlichen Meinung. Kein Krieg bewirkte eine Öffnung oder mehr Demokratie. Wieso sollte der jüngste Irakkrieg da eine Ausnahme sein?

Der Feldzug stieß in fast allen arabischen und muslimischen Ländern auf öffentliche Ablehnung. Die Arabische Liga hat ihn einstimmig verurteilt – aber ein halbes Dutzend ihrer Mitgliedstaaten erlaubte den amerikanischen Truppen die Nutzung militärischer Einrichtungen. Gleichzeitig verteidigten viele Journalisten, Oppositionelle und Intellektuelle das grausame irakische Regime, weil es als Symbol des Widerstands gegen den US-Imperialismus galt. Diese schizophrene Haltung, die Gefühle von Ohnmacht und Erniedrigung, während unter den gleichgültigen Augen der USA die Unterdrückung der Palästinenser weitergeht – all das schafft natürlich nicht die Voraussetzungen für eine politische und kulturelle Öffnung. Es fördert den Rückzug auf eine Identifizierung mit eng begrenzten ethnischen und sozialen Gemeinschaften und bereitet den Boden für den Terrorismus.

Bagdad ist in der kollektiven Erinnerung der arabischen Welt ein zentraler Ort, ein Symbol vergangener Größe. Bagdad war vom 8. bis ins 13. Jahrhundert die Hauptstadt des größten muslimischen Reiches in der Geschichte, des Abbasidenreichs. Aber Bagdad steht auch für die Versuche, im 20. Jahrhundert neue Eigenständigkeit zu gewinnen, für die Vertreibung der britischen Kolonialherren und ihrer Vasallen 1958, für die Verstaatlichung der Iraq Petroleum Company 1972. Mit der Eroberung des Abbasidenreichs durch die mongolischen „Barbaren“ begann der Niedergang der arabisch-muslimischen Welt. Die nahmen 1258 Bagdad ein – und ließen die Bibliotheken in Flammen aufgehen. Die verkohlten Bücher wurden in den Tigris geworfen, der sich von der Asche schwarz gefärbt haben soll. Al-Athir, der berühmte Geschichtsschreiber des 13. Jahrhunderts, konnte sich nur schwer dazu durchringen, von dieser Katastrophe zu berichten: „Jahrelang habe ich davon abgesehen, über dieses Ereignis zu berichten. Weil mir seine Ungeheuerlichkeit bewusst war, scheute ich mich, es zu beschreiben. Ich trat einen Schritt heran und sogleich wieder zurück. Denn was für ein Mensch muss einer sein, dem es leicht fiele, den Tod des Islams und der Gläubigen zu verkünden und zu beschreiben?“13 Vielleicht wird ein arabischer Chronist in, sagen wir, zehn Jahren mit ganz ähnlichen Worten den Fall von Bagdad im Jahre 2003 beschreiben.

deutsch von Edgar Peinelt

Fußnoten: 1 „War in Iraq a Reason for Shame“, zit. n. Infopal, 18. April 2003 (info@infopal.org). 2 Le Monde, 13./14. April 2003. Peter Maas, ein Kollege von Laurent Van der Stockt, der mit ihm unterwegs war, hat diese Aussagen bestätigt (The New York Times Magazine, 20. April 2003). 3 Dass der britische Premier Tony Blair die Kindersterblichkeit im Irak – Folge einer Politik, die er mitzuverantworten hat – als Grund für das militärische Eingreifen anführte, ist blanker Zynismus. Die Sanktionen dürften nicht länger andauern, erklärte er, weil dann „die Lage im Irak so bleibt, wie sie ist – mit einer Sterblichkeitsrate von 130 auf 1 000 Kinder unter fünf Jahren und der Abhängigkeit von 60 Prozent der Bevölkerung von internationalen Hilfslieferungen.“ (The Financial Times, London, 13. Februar 2003). 4 Seymour M. Hersh, „Who Lied to Whom?“, The New Yorker, 13. März 2003. 5 „Polls Suggest Media Failure in Pre-War Coverage“, www.editorandpublisher.com, 28. März 2003. 6 Siehe John K. Cooley, „CIA et Jihad, une alliance désastreuse contre l‘URSS“, Paris (Autrement) 2002; sowie ders., „Hawala und Tansanit“, Le Monde diplomatique, November 2002. 7 Siehe Joost R. Hiltermann, „America Didn‘t Seem to Mind Poison Gas“, The International Herald Tribune (Paris), 17. Januar 2003. 8 Zit. n. Middle East Report Online, März 2003, www.merip.org. 9 Zit. n. Patrick Seale, The Daily Star (Beirut), 18. April 2003. 10 The International Herald Tribune (Paris), 15. April 2003. 11 Da keine Versicherungsgesellschaft bereit war, solche Risiken zu übernehmen, sicherte Präsident Bush per Dekret zu, dass für alle Schadenersatzforderungen das Finanzministerium einstehen werde – mit anderen Worten: die Steuerzahler. Siehe auch Le Monde, 20./21. April 2003. 12 „The US-Masterplan“, Middle East Economic Digest (London), 14. März 2003. 13 Zit. n. „L‘Orient au temps des croisades“, Paris (GF Flammarion) 2002.

Le Monde diplomatique vom 16.05.2003, von ALAIN GRESH