Japan - Ungeliebter Club der Mächtigen
G 8: SINNBILD ODER WELTREGIERUNG
Von GUSTAVE MASSIAH *
VOM 1. bis 3. Juni 2003 treten die Staats- und Regierungschefs der reichsten und mächtigsten Länder der Welt in Evian zu ihrem 28. Gipfel zusammen. Das G-8-Treffen wird vom britisch-amerikanischen Krieg im Irak geprägt sein. Dieser Krieg wirft ein grelles Licht auf zwei Fragen, die seit der Gründung der G8 im Mittelpunkt ihrer Diskussionen stehen: die Organisation und Entwicklung der Weltwirtschaft und die Zukunft der internationalen Institutionen.
Die G8 zwar ist keine Weltregierung (es gibt auch keinen Weltstaat1 ), aber sie ist keinesfalls nur ein Trugbild. Sie versammelt die Führer der tonangebenden Länder in einer Art Mehrheitsaktionärsgruppe der Weltwirtschaft. Mit den periodischen Treffen der Staatschefs und Minister, mit den „Scherpas“ (Beratern, die das Sekretariat besorgen), den Experten aller Art, den Verbindungen zu internationalen Institutionen und dem Zugang zu sämtlichen Medien hat sich dieser Club zu einer ständigen Weltinstitution entwickelt.
Am Anfang der G8 stand das Ziel, den wichtigsten Staatsführern der Welt ein Forum zur Überwindung ihrer Meinungsverschiedenheiten zu bieten. Einem exklusiven englischen Club gleich, hatte die G7 – aus der später die G8 wurde – die Aufgabe, Gentlemen‘s Agreements auszuhandeln. Zu Beginn standen die Rezession der Siebzigerjahre und die Krisen auf dem Geld- und Erdölmarkt auf der Tagesordnung. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR wandte sich die Diskussion der wachsenden Macht der USA zu. Mit der jüngsten Weltwirtschaftskrise und der Krise des Neoliberalismus, vor allem aber mit dem Irakkrieg der USA brechen die inneren Widersprüche wieder auf.
Im November 1975 lud der französische Staatspräsident Valéry Giscard d‘Estaing die Staats- und Regierungschefs der USA, von Großbritannien, Deutschland und Japan zu einem ersten Treffen ein. Der Beschluss der „demokratischen Industrieländer“ zu verstärkter Kooperation2 war eine Antwort auf den Ölpreisschock und den Konflikt zwischen Frankreich und den USA über die Rolle des Dollars im internationalen Währungssystem, eine Antwort auch auf den deutsch-amerikanischen Streit über geeignete Maßnahmen zur Bekämpfung der Rezession. Ein Jahr später kamen Italien und Kanada hinzu. Ständiger Gast ist außerdem der Präsident der EU-Kommission. 1997 wurde die G7 mit Russland zur G8 erweitert. Zur Jahrtausendwende repräsentierten die G-7-Länder 12 Prozent der Weltbevölkerung, 45 Prozent der Weltproduktion und 60 Prozent der weltweiten Rüstungsausgaben.3
Zwischen 1975 und 1980 trat nach und nach der Neoliberalismus an die Stelle des keynesianischen Modells. Besonders einschneidend war 1979 der Beschluss der US-Zentralbank, die Zinssätze drastisch zu erhöhen. Ab 1980 bekam die Inflationsbekämpfung Priorität, während das Vollbeschäftigungsziel nur noch Lippenbekenntnis war und die Schuldenkrise der Dritten Welt ihren Anfang nahm. Die neoliberale Phase der Globalisierung begann. Die G7 spielte bei der Durchsetzung des wirtschaftsliberalen Credos eine aktive Rolle. Die neue Doktrin fußte auf dem Dreigespann Stabilisierung, Liberalisierung, Privatisierung. Als Antwort auf wachsende Kritik formalisierte 1990 der Wirtschaftswissenschaftler John Williamson das Dogma und nannte es „Washingtoner Konsens“. Dieser beruht auf sieben Grundsätzen: Ausgabendisziplin (ausgeglichener Haushalt und Steuersenkungen), Liberalisierung der Finanzmärkte (der Kapitalmarkt bestimmt die Zinsen) und des Handels, Öffnung der Volkswirtschaften für Direktinvestitionen, Privatisierung staatseigener Unternehmen, Deregulierung (Abbau sämtlicher Wettbewerbshindernisse), Schutz des geistigen Eigentums der multinationalen Konzerne.4 Zur Durchsetzung dieser Maßnahmen stützt sich die G8 auf die internationalen Finanzinstitutionen Internationaler Währungsfonds und Weltbank. Innerhalb des institutionellen Rahmens neoliberaler Globalisierung fungiert die Welthandelsorganisation (WTO) als Schlüsselelement.
Die G8 ist keine übergeordnete Machtinstanz. Sie drängt ihre Beschlüsse weder anderen Staaten noch den G-8-Regierungen auf. Die wirtschaftliche Macht ist den Regierungen nicht mehr untergeordnet, weniger noch der G8. Aber keine Wirtschaft kann ohne politische Regulierung, ohne Anpassung an die institutionellen Rahmenbedingungen, ohne strategische Orientierung funktionieren. Die Globalisierung ist ein widersprüchlicher Prozess, in dem der G8 eine doppelte Rolle zukommt: Sie sichert die Reproduktion des Systems und sie betreibt den Umbau der bestehenden Ordnung zum Vorteil der G-8-Mitglieder. Die G8 orchestrierte eine Rückeroberungsstrategie, die die Führer der mächtigsten Länder umsetzten. Sie nutzte die Schuldenkrise der Dritten Welt und die Unglaubwürdigkeit repressiv-korrupter Regime, um die Errungenschaften der Entkolonialisierung in Frage zu stellen. Sie nahm den sozialpolitischen Kompromiss der Nachkriegszeit ins Visier und schwächte via Liberalisierung und Privatisierung Arbeitnehmerrechte und die demokratische Kontrolle über den Staat.
Die wachsende Kritik an der G8 bietet eine andere Lesart der neoliberalen Phase der Globalisierung.5 Bis zu Beginn der 80er-Jahre löste die G7 keine Proteste aus, obwohl die Strukturanpassungen, die den verschuldeten Drittweltländern aufgezwungen wurden, zusammen mit den fallenden Rohstoffpreisen schon bald untragbare soziale Folgen zeitigten. 1984 begannen mehrere Nichtregierungsorganisationen Druck auf die G7 auszuüben, indem sie die Politik des Internationalen Währungsfonds und indirekt die der G7 öffentlich in Frage stellten6 : Anlässlich des G-7-Gipfels 1984 in London organisierte „The Other Economic Summit“ die erste Gegenveranstaltung. 1989 wurde in Paris ein Großkonzert auf der Place de la Bastille organisiert, um gegen die Instrumentalisierung des 200. Jahrestags der Französischen Revolution zu protestieren. Nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 nötigte der „Washingtoner Konsens“ die neoliberale Wirtschaftspolitik allen Ländern und Kontinenten auf. Die sozialen Bewegungen 1994/95 in Italien, Frankreich, Deutschland, Südkorea und den USA fanden in der Mobilisierung gegen die G7 einen gemeinsamen Nenner. Mit dem G-7-Gipfel in Birmingham 1998 begann die Schuldenkampagne „Jubilee 2000“. Auch in Köln 1999 standen die Schulden im Mittelpunkt der Gegenveranstaltungen. Damals verpflichtete sich die G7, unter bestimmten Bedingungen Schuldennachlass zu gewähren. 2000 trat die G8 auf Okinawa in Japan zusammen. Wieder forderten die Demonstranten eine Annullierung der Drittweltschulden und mobilisierten gegen die amerikanischen Militärbasen in Japan.
Beim G-8-Gipfel in Genua 2001 nahm die Protestbewegung schärfere Konturen an. Sie hatte in der Zwischenzeit Gegenexperten hervorgebracht, die dem neoliberalen Credo Paroli bieten konnten, während unter der Jugend eine neue Generation von Aktivisten herangewachsen war. Die Öffentlichkeit brachte der Bewegung Sympathie entgegen, da die negativen Auswirkungen der neoliberalen Globalisierung inzwischen mit Sorge registriert wurden. Genua und die Mobilisierung in Quebec gegen die Gesamtamerikanische Freihandelszone wenige Monate zuvor markierten einen quantitativen und qualitativen Sprung. Der Versuch der italienischen Behörden, die Bewegung zu kriminalisieren, schlug fehl. Im Jahr darauf wählte die G8 für ihr Treffen Kananaskis, ein kleines Dorf in den kanadischen Rocky Mountains.
Zwischen Seattle 1999 und Porto Alegre 2001 und 2002 wandelte sich der Protest. Aus einer Bewegung gegen die Globalisierung wurde eine Bewegung für eine andere Globalisierung. Beim Europäischen Sozialforum in Florenz 2002 und beim Weltsozialforum in Porto Alegre im Januar 2003 verschmolz die globalisierungskritische Bewegung mit der Antikriegsbewegung. Die Bewusstwerdung der Verheerungen, die die derzeitige Wirtschafts- und Militärpolitik anrichtet, markiert die Entstehung einer kritischen Weltöffentlichkeit. Der Protest richtet sich gegen die Natur der G8 als internationale Institution: Es gehe nicht an, dass sich eine kleine Gruppe von Staatschefs, die die Privilegierten der Welt repräsentieren, anmaße, für alle entscheiden zu können. Gewiss, die G-8-Führer wurden demokratisch an die Spitze ihres Landes gewählt, doch das Mandat, die Welt zu regieren, hat ihnen niemand erteilt: Solche Ansprüche entbehren jeglicher Legitimität. Ein Mehr an Deregulierung wäre nicht zu befürchten, wenn die Gruppe verschwinden würde. Schließlich hat sie Kriege und Chaos bislang auch nicht verhindern können. Sie hat im Gegenteil die Vereinten Nationen geschwächt, die zwar in vieler Hinsicht zu kritisieren sind, aber doch weit mehr Legitimität besitzen.
Der Krieg im Irak eröffnet einen neuen Zeitabschnitt. Das internationale System sieht sich mit der Frage der US-Hegemonie konfrontiert. Wie soll man diese Vorherrschaft einschätzen? Als eine neue Form imperialer Hegemonie, die das Chaos zum Prinzip erhebt, wie Alain Joxe vorschlägt?7 Oder soll man mit Immanuel Wallerstein8 davon ausgehen, dass die USA ihre wirtschaftliche und ideologische Hegemonie verloren haben und ihnen nur noch ihre militärische Vormachtstellung bleibt? In dieser Situation sind die Vereinten Nationen ins Blickfeld gerückt. Während der Irakkrise haben sie bewiesen, dass sie nicht eine bloße Registrierungskammer sind. Doch sie befinden sich an einem Scheideweg. Ohne radikale Reformen werden sie schwerlich in der Lage sein, der Hegemonie zu widerstehen und eine Weltdemokratie zu entwerfen, die der Globalisierung neuen Sinn verleihen könnte.
deutsch von Bodo Schulze
* Präsident des Centre de recherche et d‘information sur le développement (CRID), Vizepräsident von Attac France.