Der Gnädige von Osttimor
Präsident Ramos-Horta stellt Versöhnung über Gerechtigkeit von Angela Robson
Aus einem ramponierten Taxi steigt ein Mann mit wehendem weißen Bart und fein gezeichneten Zügen – doch sein Gesichtsausdruck hat etwas Verstörtes. Mit gesenktem Blick bewegt sich Manuel Carrascalão mit mühsamen Schritten auf sein Haus zu, einen einstöckigen Bungalow mit gepflegtem Garten. Als er die Haustür erreicht, bemerkt er mich und hebt langsam den Kopf. Unsere Blicke begegnen sich. Kurz huscht ein Lächeln über sein Gesicht, aber er sieht durch mich hindurch.
„Mein Vater war ein mutiger Mann, ein Wortführer der Unabhängigkeit“, hat mir Cris Carrascalão am Abend zuvor erzählt. Sie ist Sozialarbeiterin, Ende zwanzig. Doch sie sieht wesentlich älter aus. Wir sitzen in einem ruhigen Nebenzimmer vom „Turismo“, einem der ältesten Hotels von Dili, mit Blick auf die ausladende Meeresbucht. Gegenüber liegt die bergige Insel Atauro in der milden Abendsonne.
Carrascalão erzählt zwar flüssig, aber sie wirkt abgelenkt. Sie sagt, dass sie abends nur ungern aus dem Haus gehe. „Am 17. April 1999 verabschiedete sich mein Vater von mir und meinem kleinen Bruder Manuelito und fuhr nach Dili rein. In der Nähe des Flughafens erfuhr er, dass unser Haus von Milizen umstellt sei. Er wollte sofort umkehren, kam aber nicht durch.“
Am Morgen desselben Tages hatte der proindonesische Milizenführer Eurico Guterres mehrere tausend Milizen um sich geschart. Er befahl seinen Männern, alle Aktivisten umzubringen, die sich für die Unabhängigkeit von Osttimor einsetzten.1 Der damals 18-jährige Guterres führte bei den blutigen Kämpfen vor und nach dem Referendum die „Aitarak“-Miliz (Dornenmiliz) an, welche die Hauptstadt Dili und Umgebung terrorisierte.2
Auf dem Anwesen der Familie Carrascalão hatten damals viele Zuflucht gefunden. „Es befanden sich etwa 150 Flüchtlinge hinter dem Haus“, erzählt Cris Carrascalão. „Als die Milizen kamen, fingen sie sofort mit dem Morden an. Von 150 haben 45 überlebt. Ich hatte einfach nur Glück. Nicht mal einen Kratzer habe ich abbekommen. Mein Bruder war der Erste, den sie umbrachten. Sie hackten seinen Körper in Stücke. In unserem Haus hat ein Massaker stattgefunden. Doch bis heute wurde niemand dafür vor Gericht gestellt. Mein Vater bekam einen Schlaganfall nach dem anderen. Er ist ein gebrochener Mann.“
Die von Indonesien unterstützten Milizen und Militärs überzogen 1999 das ganze Land mit ihrem Terror. Etwa tausend Timorer wurden dabei umgebracht, drei Viertel der Häuser zerstört. Obschon in Osttimor nach der Unabhängigkeit von 2002 sowie in Indonesien eigene Strafverfolgungsbehörden eingerichtet worden waren und es zudem viele Zeugenaussagen gab, wurden die meisten Hauptverdächtigen niemals angeklagt. Die Hinterbliebenen der vermissten Opfer leiden noch immer unter der Ungewissheit.3
Umstrittene Begnadigungen
Kurz nachdem die erste bilaterale Wahrheitskommission im Sommer 2008 den Regierungen von Osttimor und Indonesien ihren Bericht über die Ereignisse von 1999 vorgelegt hatte, begnadigte der Präsident von Osttimor, José Ramos-Horta, im August den zu 33 Jahren Haft verurteilten Milizenführer Joni Marques. Marques war der Anführer der berüchtigten proindonesischen Miliz „Tim Alpha“ gewesen. Neben Marques wurden weitere 16 Männer begnadigt, darunter vier Mitglieder von Tim Alpha, die rechtskräftig wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt worden waren.
Ramos-Horta ist der Meinung, dass Osttimor seine tragische Geschichte nur durch Vergebung bewältigen könne: „Als Präsident fälle ich einsame Entscheidungen. Ich folge mit den Begnadigungen meinem Gewissen, weil ich weiß, dass wir Timorer uns auch vieles selbst zuzuschreiben haben“, erklärte er dem australischen Sender ABC im Juli. „Vergeltung führt zu nichts.“
Menschenrechtsaktivisten verurteilen die Haltung des Präsidenten aufs Schärfste. „Dass man für schwere Verbrechen nicht zur Rechenschaft gezogen wird und straffrei bleibt, ist doch die völlig falsche Botschaft“, meint Louis Gentile, Landesvertreter des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte. Und Timotio de Deus, der ein Programm zur Überwachung der Justiz leitet, fügt hinzu: „Wenn Osttimor Leute freilässt, die sich anerkanntermaßen schwerer Menschenrechtsverletzungen schuldig gemacht haben, dann weckt das Zweifel, wie sehr man sich deren Einhaltung verpflichtet fühlt. So sehr man die Idee begrüßen mag, das gewalttätige Erbe des Landes hinter sich zu lassen, so wenig sollte man deshalb gleich Recht und Gesetz außer Kraft setzen.“
Osttimors charismatischer Regierungschef Xanana Gusmão, der von 1978 bis zu seiner Gefangennahme 1992 den Widerstand gegen das grausame indonesische Besatzungsregime anführte, findet, dass das Land nach den Unruhen von 2006 wieder auf dem richtigen Weg ist. Für ihn ist 2008 das „Jahr der Reformen“. Ein Drittel der im Land vertriebenen Flüchtlinge sei inzwischen in ihre Heimatorte oder zumindest in temporäre Unterkünfte zurückgekehrt. Die verbliebenen Flüchtlingslager sollen bis Januar 2009 geschlossen werden. Es gebe noch immer viel Korruption. Und deshalb soll auch ein neues Antikorruptionsgesetz eingeführt, die Armee und der Polizeiapparat reformiert werden.
Am 11. Februar 2008 verübten rebellierende Soldaten einen Anschlag auf den Präsidenten, den er schwer verletzt überlebte. Auch der Regierungschef geriet unter Beschuss, konnte aber entkommen. „Nach dem Attentat auf Ramos-Horta ist es uns gelungen, Armee und Polizei an einen Tisch zu bringen“, behauptet Gusmão. „Davor haben sie einander bekämpft, sich gegenseitig umgebracht. Das übertrug sich auf die Jugend, verleitete sie zu Morden und Brandstiftungen, Gewalt beherrschte ihr Leben. Jetzt ist es uns gelungen, Polizei und Armee zusammenzubringen. Sie respektieren einander. Auf den Straßen ist es viel ruhiger geworden. Wir wissen, dass wir eine junge Nation sind. Wir lernen aus unseren Fehlern. Wir leben in einer Zeit des Umbruchs. Wir reformieren unsere Polizeikräfte, wir reformieren unsere Streitkräfte, wir reformieren unsere Gesellschaft, unseren öffentlichen Dienst, alles.“4
Tim Budge, Leiter der Entwicklungshilfeorganisation „Plan Timor-Leste“, bestätigt, dass „ein deutlicher Trend“ zu stabileren Verhältnissen zu beobachten sei: „Und paradoxerweise gerade nach den Anschlägen vom 11. Februar auf Ramos-Horta und Xanana Gusmão. Als sicher war, dass Ramos-Horta überleben würde, änderte sich die Stimmung im Land. Man spürt immer deutlicher, dass sich die Leute nach Beständigkeit sehnen. Mehr und mehr Binnenflüchtlinge wollen nach Hause zurückkehren.“
Wie lange sich diese positive Stimmung halten werde, ließe sich natürlich schwer sagen. Aber damit es so bleibt, müssten „die Timorer das Gefühl bekommen, dass Fortschritte erzielt werden, dass es Hilfe und Hoffnung gibt“. Die große Armut in den 13 Verwaltungsbezirken, die steigenden Preise für Reis und die alarmierende Arbeitslosigkeit – in Dili sind mehr als 50 Prozent der jungen Leute ohne Arbeit – stellen gewaltige Herausforderungen dar. Da lässt sich schwerlich eine Prognose stellen. „Die Leute verlangen viel von ihrer Regierung“, meint Budge. „Wenn es auch nur die geringsten Anzeichen für Korruption gibt, könnte alles wieder kippen.“
Vier Regierungschefs in sechs Jahren
In einem jüngst veröffentlichten Bericht der Vereinten Nationen zu Osttimor heißt es, das Land könne in der Menschenrechtsfrage entweder weitere Fortschritte machen oder in seine von Gewalt geprägte Vergangenheit zurückfallen. Der Bericht führt zahlreiche Menschenrechtsverletzungen an, die zwischen dem 11. Februar und dem 8. Mai 2008 von Polizei und Streitkräften begangen wurden, als sich das Land im Ausnahmezustand befand. 58 mutmaßliche Übergriffe, die von Prügeln bis zu Todesdrohungen reichen, werden dort aufgelistet.5
„Bedeutende Anstrengungen und Mittel werden in den Neuaufbau von Polizei und Armee investiert“, sagt Pat Walsh, Gusmãos Berater für den Aufbau des Justizwesens. „Aber beide Institutionen sind immer noch von dem indonesischen System infiziert, das sich wie die Malaria nur schwer ausrotten lässt. Die Zukunft der Armee ist eine Schlüsselfrage, weil dort die Krise des Jahres 2006 begann, die Osttimor beinahe zerstört hätte. Solange es keine klaren Zuständigkeiten gibt, bleibt die Grenze zwischen Armee und Polizeiapparat verschwommen und die Streitkräfte werden eine zunehmend Besorgnis erregende Rolle für die innere Sicherheit spielen.
Trotz ihres schwachen Mandats bei den Wahlen sollte der Regierung Gusmão eine vollständige Legislaturperiode zugestanden werden. Osttimor hatte innerhalb von sechs Jahren vier Regierungschefs. Wir brauchen Rechtssicherheit, politische Kontinuität und eine möglichst lange Phase ohne solche Krisen wie 2006 und 2007, damit sich die Regierung den wesentlichen Aufgaben widmen kann und nicht ihre begrenzten Handlungsmöglichkeiten in akuten Problemlösungen erschöpft. Die Regierung Gusmão hat immerhin manche der drängendsten Probleme von 2006, insbesondere das Problem der Binnenflüchtlinge, teilweise lösen können, aber die eigentlichen Regierungsgeschäfte kann sie noch lange nicht in die Hand nehmen.“
Angeblich hat sich Xanana Gusmão dieses Jahr mit Eurico Guterres getroffen, dem Anführer des Massakers im Anwesen der Carrascalãos, der noch 1999 aus Osttimor nach Indonesien geflohen war. Nachdem das Oberste Gericht Indonesiens eine Verurteilung zu zehn Jahren Haft wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit kassiert hatte, wurde Guterres auf freien Fuß gesetzt. Er ist seit langem in der PDI-P (Demokratische Partei des Kampfes Indonesiens) aktiv, der Partei von Indonesiens Expräsidentin Megawati Sukarnoputri.
Jesse Wright, Schriftsteller und ehemaliger Chefredakteur des Dili Weekly, beruft sich auf Journalisten, die Guterres in Kupang im indonesischen Westtimor interviewt haben. Gusmão habe sich mit dem Exmilizionär Guterres getroffen, um die Beziehungen zwischen Osttimor und der daran angrenzenden indonesischen Provinz zu erörtern, für die Guterres ins indonesische Parlament einzuziehen hofft. „Ich bin mir ganz sicher, würde man zu diesem Treffen eine Umfrage machen, wären die meisten Leute dagegen gewesen“, meint Wright. „Aber ich denke nicht aus Empörung, sondern eher aus stummer Enttäuschung.“
John M. Miller, Koordinator von Etan (East Timor and Indonesia Action Network), einer US-amerikanischen NGO, findet, dass das Treffen von Gusmão und Guterres „Xanana Gusmãos Auffassung von Gerechtigkeit und Versöhnung verdeutlicht, die in Osttimor allgemein kritisiert wird. Xanana scheint selbst bei den schlimmsten Verbrechern die Versöhnung über die Gerechtigkeit zu stellen.“
Auf der Suche nach den Toten
Laut Wright widerstrebe es jedoch den meisten Timorern, ihren Präsidenten für seine jüngsten Amnestiebeschlüsse offen zu kritisieren. „Das Schlimme an diesen Amnestien ist, dass viele davon illegal waren. Sie wären allenfalls legal zu nennen, wenn der Präsident geltendes Recht außer Kraft setzen könnte. Ramos-Hortas besaß zum Beispiel überhaupt keine Befugnis zur sofortigen Begnadigung des Politikers Rogerio Lobato.6 Und die Gerichte haben nichts unternommen, um die Amnestie anzufechten. Was soll man tun, wenn der Präsident sich über die Gesetze seines Landes hinwegsetzt und die Gerichte tatenlos zusehen? Es ist beschämend, wie sehr es in Osttimor an politischem Willen zur Durchsetzung der Gesetze fehlt. Und da das Gesetz selbst auf der höchsten Ebene nicht geachtet wird, fällt seine Durchsetzung auf den unteren Ebenen umso schwerer.“
Sancho Gonsalves verlor am 12. November 1991 seinen Bruder Ulyssis Cipriano Gonsalves. Er gehörte zu rund hundert Personen, die während und nach einer friedlichen Demonstration am Friedhof Santa Cruz in Dili von indonesischen Soldaten getötet wurden. Die Leichen wurde nie gefunden. Den Widerstand gegen die Öffnung von Massengräbern in Osttimor führen Beobachter darauf zurück, dass die Vereinten Nationen alles vermeiden wollten, was die Lage in Südostasien destabilisieren könnte.7
Es liegen Berichte über 628 mögliche Massengräber vor, aber nur bei einigen wenigen wurden tatsächlich Exhumierungen vorgenommen. Nach jahrelangen Verhandlungen durfte schließlich im Juli und August dieses Jahres eine Gruppe Gerichtsmediziner aus Australien und Argentinien einreisen und mehrere Wochen lang in der Umgebung von Dili nach einem Massengrab für die damals getöteten Demonstranten suchen.
Soren Blau, eine der Ausgrabungsleiterinnen, spricht davon, dass es noch heute eine „Kampagne der Verleugnung“ gebe. „Die Untersuchung der Wahrheit ist in Osttimor eng mit der Trauer verknüpft“, erklärt sie. „Die Trauer bleibt, solange die Leichen nicht richtig bestattet worden sind und die Geister nicht zur Ruhe kommen können. Die präzise historische Arbeit und die Anerkennung des Leidens sind auch eine Form von Gerechtigkeit. Es stärkt die Regierung, wenn sie die Exhumierungen fördert. Sie gewinnt damit gewissermaßen die Kontrolle über die Toten.“ Die Wissenschaftler arbeiteten Hand in Hand mit der örtlichen Polizei und mit Totengräbern, die in die Grundzüge kriminaltechnischer Untersuchungsarbeit instruiert worden waren. Doch bislang wurde kaum etwas gefunden.
„Wir werden die Arbeit nicht einstellen“, sagt Sancho Gonsalves. Als eines Abends der Regierungschef an der Ausgrabungsstätte eintraf, schöpften die Hinterbliebenen „neue Hoffnung“, berichtet Blau. „Zwei Stunden lang hörte Gusmão den Familien zu. Er hatte es nicht eilig. Und er betonte, wie wichtig diese Arbeit sei. Solche Gesten zeigen den Leuten, dass der Regierung etwas an den von den Gräueln Betroffenen liegt – den Ermordeten wie den Hinterbliebenen.“
Auch Cris Carrascalão sagt: „Wie soll man in die Zukunft blicken, wenn man nicht alles weiß? Ich trauere um meinen Bruder, meine Familie, um mich selbst, so wie ich damals war. Und dennoch geht das Leben weiter.“
Aus dem Englischen von Robin Cackett
Angela Robson ist Autorin und Journalistin (BBC World Service, London).