Materialschlacht nach dem Krieg
Ein Amerikaner wundert sich über die Probleme beim Rückzug aus dem Irak von Tom Engelhardt
Es ist das ultimative Argument, die letzte Bastion gegen den geforderten Rückzug aus dem Irak. Und dass es immer wichtiger wird, dafür hat die Bush-Regierung seit Jahren gesorgt. Die Stärke dieses Arguments liegt ironischerweise gerade darin, dass es mit den Tücken der irakischen Innenpolitik nichts zu tun hat, dass dafür weder die Kräfteverhältnisse zwischen Schiiten und Sunniten noch der Einfluss des Iran oder gar irgendwelche verborgenen Kriegsmotive eine Rolle spielen. Und es ist in der Tat auch vollkommen gleichgültig, was der irakische Ministerpräsident Nuri al-Maliki oder der oppositionelle Geistliche Muktada al-Sadr von dem Argument halten. Es hat nämlich überhaupt nichts mit dem Irak zu tun, sondern ausschließlich mit uns: mit dem „American Way of War“, oder anders ausgedrückt: mit dem „American Way of Life“ – und damit wird es unanfechtbar.
Das ultimative Argument stammt von Admiral Mike Mullen, dem Stabschef der US-Streitkräfte – und dem Mann, den Obama nach seinem Amtsantritt im Januar als Ersten ins Oval Office bitten will. Am 17. November brachte Mullen seine Geheimwaffe in Stellung und feuerte sie wie eine Rakete mitten ins Herz von Obamas Plan, die US-Truppen binnen 16 Monaten aus dem Irak abzuziehen.
Die Äußerung klang harmlos, aber sie hat es in sich. Der höchstrangige Soldat der Vereinigten Staaten erklärte schlicht und einfach: „Derzeit haben wir 150 000 Soldaten im Irak stehen. Wir haben eine Menge Stützpunkte. Und wir haben wahnsinnig viel militärisches Gerät dorthin geschafft. Das alles müssen wir mitbedenken, ganz abgesehen natürlich von den Bedingungen, die dort herrschen, sprich: den Sicherheitsbedingungen.“ Und natürlich, betonte Mullen, wolle man in der Lage sein, den gesamten Abzug sicher abzuwickeln. Das aber würde seiner Einschätzung nach mindestens „zwei bis drei Jahre“ dauern.1
Die besonders Begriffsstutzigen konnten es im Klartext im Wall Street Journal noch einmal nachlesen: „Zwei hochrangige Offiziere erklärten kürzlich in Interviews kategorisch, dass es logistisch unmöglich sei, in so kurzer Zeit dutzende von großen US-Militärbasen aufzulösen und die 150 000 Soldaten abzuziehen, die dort gegenwärtig stationiert sind. Die Offiziere sagten, ein vollständiger Rückzug würde nahezu drei Jahre dauern und noch länger, falls die Kämpfe im Lauf des Abzugs der US-Truppen wieder aufflammen sollten.“2
Das heißt für Obamas Plan: Wenn die oberste Militärführung ein Wörtchen mitzureden hat, kann er ihn auf der Stelle vergessen. Der Abzugsplan sei „technisch undurchführbar“, meinte laut Bericht des Time Magazine ein „Spitzenoffizier, der an dem Briefing des designierten Präsidenten über die US-Operationen im Irak beteiligt war“. Und in der Washington Post stand: Sollte Obama weiterhin darauf drängen, jeden Monat zwei Brigaden abzuziehen, sei ein Konflikt zwischen ziviler Führung und Militär „unvermeidlich“. Der könnte sogar, wie Robert Dreyfuss in The Nation kommentiert, schon in Obamas ersten Amtswochen zu einem Showdown mit dem militärischen Oberkommando führen.
Das Argument des Pentagon ist von einer unüberbietbaren, superamerikanischen Schlichtheit: Wir können nicht so schnell aus dem Irak abziehen, weil wir zu viel Zeug dort haben. Wir sind eben im Krieg – genauso wie im Frieden – das Opfer unserer eigenen Maßlosigkeit. Wir sind ein gigantischer militärischer Wal-Mart. Wo wir hingehen, nehmen wir unser ganzes „Zeug“ mit, und zwar in solchen Mengen, dass der Rücktransport schwerer zu bewältigen ist als die ursprüngliche Invasion. Schließlich haben wir nicht mal ein Jahr gebraucht, um die 130 000 Mann starke Eroberungstruppe aufmarschieren zu lassen, mitsamt ihrer militärischen Ausrüstung und den von Stützpunkten in aller Welt herangeschleppten zusätzlichen Gerätschaften und obendrein auch noch den entsprechenden Luft- und Seestreitkräften.
Einige Experten veranschlagen für den Rücktransport der 14 Kampfbrigaden, die bei Obamas Amtsantritt noch im Irak stationiert sein werden, mit ihrem gesamten Kriegsgerät pro Brigade 75 Tage. Insgesamt wären das nach Adam Riese 36 Monate, und die würden nicht reichen, wenn man alles andere einsammeln wollte, das wir sonst noch in dieses Land von der Größe Kaliforniens gebracht haben.
Als im Dezember 2004 ein GI auf einer Militärbasis in Kuwait wissen wollte, warum die Humvees seiner Einheit keine ausreichende Panzerung haben, antwortete Verteidigungsminister Donald Rumsfeld mit dem berühmt gewordenen Satz: „Man muss den Krieg mit der Armee führen, die man eben hat.“
Rumsfelds Hauptinteresse galt damals noch seinem mit viel Trara verkündeten, völlig neuartigen Kriegskonzept. Er wollte unbedingt sein „Military Lite“ auf die Beine stellen: extrem abgespeckte, höchst bewegliche, eng vernetzte und technologisch hochgezüchtete Streitkräfte, dank derer die USA auf Jahrhunderte hinaus zur unschlagbaren Weltmacht werden sollten.
Tatsächlich benahm sich das US-Militär im Irak dann wie eine Schlägertruppe. Im Rückblick hätte Rumsfeld auf die Frage des GI eigentlich ehrlicherweise antworten müssen: „Man muss Krieg mit der Gesellschaft führen, die man eben hat.“
Genau das tat die Bush-Regierung, und zwar mit Begeisterung. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 richtete der Präsident seinen berühmten Appell an die Bürger, zu einem normalen Leben zurückzukehren, also wieder einkaufen zu gehen, das Flugzeug zu nehmen oder einen Ausflug nach Disney World zu machen. Regierung und Pentagon gingen mit gutem Beispiel voran. In dem Maße, in dem die Militärausgaben in die Höhe schossen, machten sich die zivile Führung und die obersten Militärs auf eine imperiale Einkaufstour, wie sie die Welt vermutlich noch nie gesehen hatte.
Der Irak war für sie gleichbedeutend mit der Vorstellung vom Krieg als Füllhorn, Auslöser eines unbegrenzten Konsumrauschs. Noch nie dürfte eine Militärmacht ein Land mit – pro Kopf gerechnet – größeren Gepäck im Tross erobert haben. Und unmittelbar nach der Besetzung des Irak begannen die US-Truppen eine Reihe gigantischer Militärbasen zu bauen, als wollten sie amerikanische Zikkurate errichten, die – wie ihre babylonischen Vorbilder – ihre Herrschaft überdauern sollten. Diese Basen sind ausgewachsene amerikanische Städte, mit einem Umfang von 25 bis 35 Kilometern, rund um die Uhr bewacht, mit allen möglichen PX-Läden, Fitness-Clubs, McDonald’s-Restaurants, Verkehrsampeln und was sonst noch dazugehört. Und das in einem Land, in dem noch Jahre nach der Invasion nichts richtig funktioniert.
Eismaschinen in der Wüste
Diese Stützpunkte wurden für viele Milliarden Dollar immer weiter ausgebaut. In Bagdad entstand im Zentrum der vom US-Militär kontrollierten „Grünen Zone“ – als Zuckerguss auf dem irakischen Kuchen – eine regelrechte Zitadelle für tausend „Diplomaten“, mit Pool, Vergnügungszentrum, Tennisplätzen, Schulen und Kindergärten, Einkaufsmeilen, Restaurants und allem drum und dran.
Mit anderen Worten: Im Irak traten wir nicht auf wie die Spartaner, sondern wie mit Anabolika aufgepumpte Athener. Außerdem hatten wir die von Mullen erwähnte Ausrüstung dabei, die teuerste und größte Ansammlung von militärischem Gerät, die man je gesehen hat. Am eindrücklichsten hat sie Arnaud de Borchgrave in der Washington Times vom Oktober 2007 geschildert: Wenn man zusehen wollte, wie ein Konvoi aller im Irak eingesetzten US-Militärfahrzeuge mit einer Geschwindigkeit von 50 Stundenkilometern vorbeifährt, wäre man 75 Tage beschäftigt.
Stoßstange an Stoßstange aufgereiht ergäbe das eine Schlange von New York bis Denver in Colorado. So veranschaulicht Lenny Richoux, Logistikexperte bei der US-Luftwaffe, die Menge der Fahrzeuge, die bei einem Rückzug aus dem Irak zurückgebracht werden müssten. Dazu gehören unter anderem etwa 10 000 Pritschenlastwagen, 1 000 Panzer und 20 000 Humvees. Nicht zu vergessen die 300 000 schweren Geräte, die man zurückholen müsste, zum Beispiel die Eismaschinen, die in zig Militärbasen stehen und auf Knopfdruck Eis in unterschiedlichen Geschmacksrichtungen produzieren.
Das ist aber immer noch nicht alles. Mitte 2007, als das Thema unseres Gepäcks erstmals in den Rückzugsdebatten auftauchte, stellte Verteidigungsminister Robert Gates klar: „Wir sprechen nicht nur über US-Soldaten, sondern unter anderem auch über die Millionen Tonnen Gerätschaften, die die privaten Sicherheitsfirmen benutzt haben, die aber der US-Regierung gehören.“ Das Ganze sei, so Gates, „ein gewaltiges logistisches Unterfangen, egal wann es stattfindet.“
Und was passiert überhaupt, möchte man gern wissen, mit den zehntausenden Privatfirmen im Irak? Vermutlich werden einige von ihnen ebenfalls den Rückweg antreten müssen, und zwar hauptsächlich über den Flaschenhals Kuwait und seine völlig überlasteten Häfen – was auf eine jahrelange Evakuierungskarawane hinausliefe.
Bei unserem letzten Rückzug, als wir noch keine Erfahrungen mit verlorenen Kriegen gemacht hatten, schubsten wir Amerikaner unsere überzähligen Hubschrauber einfach vom Deck unserer Flugzeugträger, verbrannten die frei konvertierbaren Dollars in Fässern und ließen tonnenweise teure Geräte und gigantische Militärbasen zurück, die der Feind anschließend in Industrieparks umwandeln konnte. Vom Dach der US-Botschaft in Saigon regneten im April 1975, während rundum alles brannte und alles Gerät einschließlich wertvoller modernster Elektronik zerstört wurde, die aus der Verbrennungsanlage stiebenden Dollarnoten auf die staunenden vietnamesischen Verbündeten herunter, die sich im Botschaftsgarten drängten und auf den versprochenen Abtransport mit Hubschraubern warteten – zumeist vergebens.
Rückzug war damals eine hässliche, unziemliche und umweltschädliche Angelegenheit, aber wir haben bekanntlich aus dem Vietnamdesaster gelernt. Heute gehen Pentagon und militärisches Oberkommando eher wie verantwortungsvolle Konsumenten oder umweltbewusste Manager an die Aufgabe, egal wie lange der Rückzug dauert – der sich schon wegen der strengen Auflagen des US-Landwirtschaftsministeriums in die Länge ziehen wird. Sie legen fest, dass jeder Gegenstand, der in die USA zurückgebracht wird, zuvor einer Spezialreinigung mit Wasserhochdruckgeräten zu unterziehen ist – und das in einer Wüstengegend.3
Zeitraubend ist natürlich auch das Einschweißen der Hubschrauber – wer weiß, wie viele? – in Plastikfolien, die sie auf dem langen Seetransport gegen das Salzwasser schützen. Das klingt wie eine Abwandlung der alten Porzellanladen-Regel, auf die Außenminister Colin Powell angeblich verwies, als er Präsident Bush vor den Gefahren einer Irak-Invasion warnte: „Was du kaputt machst, musst du bezahlen.“ Man möchte fast meinen, dass Bushs geheimer Plan, nie wieder aus dem Irak abzuziehen, nur eine logische Weiterentwicklung seiner Reaktion auf den 11. September 2001 ist. Auf die damalige Devise „Einkaufen bis zum Umfallen“ folgte die Idee, möglichst viel Zeug in den Irak zu verfrachten, auf dass uns gar nichts anderes übrig bliebe, als zu bleiben.
Da nun das Ende der Mission droht, flüchten sich die obersten Militärs in die Behauptung, die von Obama genannte Rückzugsfrist verletze unsere Eigentumsrechte und könnte auf den Verlust von Unmengen teuren Militärgeräts hinauslaufen. Statt sich dafür zu entschuldigen, dass sie so schwer beladen aufgebrochen sind, plädieren sie jetzt auf einmal für einen schonungsvollen Umgang mit dem Material.
Seit im Januar 2007 die sogenannte Surge-Strategie (die Aufstockung der Truppen) im Irak begonnen hat, war dieses Argument immer nur als leises Gemurmel im Hintergrund präsent. Seit dem Wahlsieg Obamas rückt es offenbar in den Vordergrund und ins Zentrum der Debatte.
Ende Januar werden wir einen neuen Präsidenten haben. Sein Rückzugsplan ist eher vorsichtig.4 Es könnte durchaus sein, dass nach dem Abzug der „Kampfbrigaden“ immer noch viele US-Soldaten im Irak bleiben werden.5 Doch da auch die Iraker inzwischen Druck machen, werden die Argumente gegen einen Rückzug zunehmend obsolet. Genau deshalb wird Obama, wenn er sich mit seinen Oberbefehlshabern im Weißen Haus zusammensetzt, die Hinweise auf „das ganze Zeug“ zu hören bekommen. Für all jene, die beim geplanten Rückzug aus dem Irak kalte Füße bekommen, ist dieses Argument die letzte Rettung.
Die Bush-Regierung mag wenig geschafft haben, aber eines ist ihr gelungen: Die USA haben sich im Irak mit so viel Aufwand engagiert, dass ein Abzug jetzt als Verschwendung von Ressourcen hingestellt werden kann.
Wer im Übrigen annimmt, dass das demnächst von Bush befreite Pentagon aus den Erfahrungen im Irak gelernt hat, der sei gewarnt. Noch immer sind die Pentagon-Leute offensichtlich scharf auf eine Einkaufstour in der Disney World. Eine verlässliche Quelle besagt, dass die Vertreter des Militärs gegenüber Obama-Mitarbeitern angedeutet haben, die Ausgaben des Pentagons sollten im nächsten Haushaltsplan um sage und schreibe 67 Milliarden auf 581 Milliarden Dollar steigen (wobei nur ein geringer Teil der Kosten für Afghanistan und Irak enthalten ist).6
Doch ähnlich wie einst Rumsfelds Idee von seinem „Military Lite“ dürften sich auch die schwergewichtigen Pläne des Pentagon angesichts unserer ökonomischen Zukunft als illusorisch herausstellen. Deshalb sollten die USA ihre Ausrüstung im Irak vielleicht doch bis zum letzten Humvee in Sicherheit bringen. Denn eines dürfte feststehen: Washington wird zwar gewillt sein, auf die eine oder andere Weise eine ökonomisch wacklige Welt militärisch in Schach zu halten, aber es wird nie wieder genug Geld haben, um ein Land so zu besetzen wie den Irak, vor allem weil die Bush-Regierung es geschafft hat, in nur acht Jahren das imperiale Erbe der USA zu verschleudern.
Eines Tages wird uns der Irak mitsamt den gigantischen Militärbasen und der ganzen Hightech-Ausrüstung, mit all den Eismaschinen und transportablen Toiletten wie ein verblasster amerikanischer Traum vorkommen. Und Dollars, die vom Himmel regnen, die wird es wohl nie wieder geben.
Fußnoten: 1 Siehe www.washingtonpost.com/wp-dyn/content /article/2008/11/17/AR2008111702327.html.
Aus dem Englischen von Niels Kadritzke
Tom Engelhardt ist Journalist. Auf der von The Nation Institute betriebenen Website www.tomdispatch.com klärt er über das imperiale Gebaren der US-Regierung auf.
© Agence Globale, für die deutsche Übersetzung: Le Monde diplomatique, Berlin